Die neue Zeitschrift für Parlamentsfragen (ZParl) erscheint in Kürze
Das Loblied auf das Modell Deutschland und seine politischen Erfolge mit konsensorientier-ten Verhandlungslösungen ist verklungen. Zu unbeweglich scheint das Land, zu hartnäckig widersetzen sich verschiedenste Interessen dem Wandel, der angesichts anhaltender ökonomischer Probleme, fortschreitender europäischer Integration und globalisierter Welt(-wirtschaft) nahezu einhellig als prinzipiell notwendig erachtet wird. Dass das gesellschaftliche Beharrungsvermögen politische Veränderungen verlangsamt, wenn nicht gar verhindert, wird nicht nur der mangelnden Führungskraft der Akteure zugeschrieben, sondern das hauptverantwortliche Hindernis war schnell in den Strukturen des deutschen Föderalismus und seinen Verflechtungen gefunden. Hier setzen die gegenwärtigen Bemühungen um eine Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung an. Die zu diesem Zwecke eingerichtete, vom SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzenden Franz Müntefering sowie dem bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber geleitete Kommission von Bundestag und Bundesrat will Ende des Jahres nachhaltige Reformvorschläge unterbreiten. An diesem Punkt sich der Grundlagen, Ziele, Inhalte und Strategien der Reformen und Reformer zu vergewissern und ihre Erfolgsaussichten zu vermessen, ist Anliegen von Heft 3/2004 der Zeitschfrift für Parlamentsfragen (ZParl).
Insbesondere die Landesparlamente stehen möglicherweise vor der Herausforderung, zum ersten Mal als Sieger aus politisch-strukturellen Veränderungen hervorgehen zu müssen. Ihre jahrelangen Anstrengungen der Positionsbehauptung zeichnet Uwe Thaysen nach. Er würdigt den Vorstoß der Landtagspräsidenten, über einen Konvent die Sache des Parlamentarismus zu stärken, erörtert ihre inhaltlichen Vorschläge und strategische Stellung. Wenn es jetzt nicht gelingt, den Landtagen wieder mehr Eigenständigkeit zu erkämpfen, so Thaysen, dürfte die Konventsbewegung ihr letztes Hurra gewesen sein. Erfolge in den Reformverhandlungen müssen aber auch zu Erfolgen in der politischen Praxis umgesetzt werden können. Füllen die Landtage nämlich ihre neu errungenen Befugnisse nicht aus und werden umgehend der Überforderung bezichtigt - dann würde in der Tat die Föderalismusreform zum Pyrrhussieg für den Parlamentarismus.
Frank Decker diskutiert die Positionen der Sachverständigen in der Bundesstaatskommission zu den vier wichtigsten Themen: Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen, Finanzbeziehungen, Zustimmungsrechte im Bundesrat, Mitwirkung der Länder an EU-Angelegenheiten. Er stellt die Reformansätze in den Kontext von Strukturproblemen des Regierungssystems und kommt zu dem eher skeptischen Schluss, dass letztlich nur die Zurückdrängung des Konkurrenzprinzips geeignet wäre, Entscheidungsfähigkeit und Konsensbedarf in Einklang zu bringen. Uwe Jun beleuchtet die Reformoptionen der (partei-)politischen Akteure in der Bundesstaatskommission. Er unterscheidet "Wettbewerbsföderalisten" von "Flexibilisierern" und sieht das Papier der Ministerpräsidenten in eine Richtung weisen, die konsensfähig ist. Nach seiner Einschätzung gibt es genug zwischenparteiliche Gemeinsamkeiten und Reserven zur Kompromissbildung, um deutliche Reformfortschritte zu erzielen und Entflechtung zu erreichen, ohne den sozialen Frieden zu gefährden.
Keineswegs, so Thorsten Franz, ist die deutsche Bundesstaatlichkeit tabu für grundsätzliche Änderungen. Seine verfassungsrechtlichen Überlegungen, ob ein Systemwandel zum Einheitsstaat möglich wäre, widerstreiten der landläufigen Auffassung von der überfälligen Reföderalisierung. Sie haben höchst aktuelle Bezüge: Finanznot und europäische Integration drängen in der Tat die Frage auf, "ob die Beibehaltung mehrerer staatlicher Entscheidungsebenen auf nationaler Ebene nicht zu teuer, zu umständlich und zu integrationsfeindlich" ist.
Als Handreichung für die öffentliche und wissenschaftliche Auseinandersetzung um die Föderalismusreform finden sich in diesem Heft zwei Übersichten, die die Positionen der Sachverständigen in der Bundesstaatskommission zu den Finanzbeziehungen und zur Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern synoptisch und vergleichend zugänglich machen.
Oft kann der Blick über den nationalen Tellerrand klärend wirken. Der kanadische Föderalismus hat eine wechselvolle Geschichte von einem unitarischen Bundesstaat zu einem der wohl dezentralisiertesten Mehrebenensysteme weltweit hinter sich. Jörg
Broscheck stellt die jüngste Entwicklung zum "collaborative federalism" vor, die auf schlechte Wirtschaftslage, Staatsverschuldung und Haushaltsdefizite auch in Kanada zurückgeführt werden kann. Ob mit der stärkeren Kooperationsnotwendigkeit zwischen Provinzen und Bund allerdings ein neues Föderalismusmodell aus der Taufe gehoben wird, beurteilt er vorsichtig. Das Beispiel zeigt: Auch Entflechtung und Dezentralisierung müssen immer wieder austariert werden, um optimale Politikergebnisse zu erzielen.
Zu häufig, so lautet eine politische Binsenweisheit, sollten die Grundlagen staatlicher Ordnung nicht verändert werden. Es gilt geradezu, meint Astrid Lorenz, als Rationalitätsprinzip von Verfassungen, dass sie weitgehend irreversibel seien. Solche Annahmen stehen auf "empirisch wackligen Beinen", wie sie mit einer Untersuchung von 24 Demokratien über zehn Jahre nachweisen kann. Keineswegs sind Verfassungsänderungen - und zwar auch von Kernbereichen des politischen Systems - selten, und Reformstau kann nicht mit zu hohen institutionellen Hürden begründet werden. Lorenz' Beitrag lässt den weithin unbefragt angenommenen Wert von "Verfassungsstabilität" in neuem Licht erscheinen.
Drei Beiträge widmen sich wichtigen parlamentsrechtlichen Entscheidungen deutscher Verfassungsgerichte. Jörg Mohr diskutiert das Urteil des BVerfG, mit dem es dem Minderheitsrecht in Untersuchungsausschüssen des Bundestages eine bedeutende Dimension hinzufügte, nämlich die Mitgestaltung der Beweisaufnahme. Er erkennt darin eine neue dogmatische Qualität: Auch eine "potenzielle" Einsetzungsminderheit kann künftig bei der Umsetzung im Ausschuss ein Minderheitsrecht geltend machen. Markus Algermissen bespricht ein Urteil des BVerfG, mit dem der schleswig-holsteinischen Landesregierung das Recht versagt wurde, die Herausgabe von Akten an den Landtag zu verweigern. Das Gericht hat die Kriterien weiter verdeutlicht, nach denen das parlamentarische Interesse an Information und das gouvernementale Interesse an Geheimhaltung abgewogen werden müssen. Die Wende, die der Sächsische Verfassungsgerichtshof in der Frage der Finanzausschlussklausel bei der Volksgesetzgebung eingeläutet hat, nimmt Julia Platter zur Grundlage, um das Für und Wider des Haushaltsvorbehalts zu erörtern. Ihr Fazit: Es gibt keinen Grund, Volksinitiative und Volksbegehren durch Haushaltsvorbehalte einzuschränken. Nicht vereinbar mit dem parlamentarische Budgetrecht ist es hingegen, finanzwirksame Gesetze einem Volksentscheid zu öffnen. Seit Juni diesen Jahres ist die ZParl auch unter "www.politik.uni-halle.de/zparl" im Internet zu finden. Suzanne S. Schüttemeyer