"Schrumpfende Städte": Eine Ausstellung in den Berliner Kunst-Werken
Laut Schätzungen werden Dortmund oder Essen 2015 so entvölkert sein wie heute bereits Görlitz oder Magdeburg. Und das Phänomen ist nicht auf die Bundesrepublik beschränkt: Weltweit sind mehr als 400 der Städte mit über 100.000 Bewohnern in den letzten 50 Jahren deutlich geschrumpft.
Die mit der Industrialisierung einher gehende Verstädterung der Erde hat ihren Zenit offenkundig überschritten, weil das Bevölkerungswachstum sich verlangsamt hat. Während wenige Metropolen, vor allem in den Entwicklungsländern, rasant weiter wuchern, bluten viele andere Orte aus. Mit zunehmendem Tempo: Im vergangenen Jahrzehnt hat jede vierte Stadt des Planeten merklich an Einwohnern verloren. Für unsere zeitgenössische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die auf endloses Wachstum eingeschworen ist, stellt dies einen schwer verkraftbaren Paradigmenwechsel dar: Sie verfügt kaum über Rezepte, wie sie mit verlassenen Wohn- und Gewerbegebieten umgehen soll. Denn es reicht nicht aus, solche Gegenden mit sinkender Lebensqualität sich selbst zu überlassen. Die so genannte Leerstandsspirale - je mehr Leute fortziehen, desto mehr folgen ihnen - führt rasch zu Verslumung, sozialer Verelendung und Kriminalität.
Diesem Problemkreis widmet sich nun die Ausstellung "Schrumpfende Städte", die bis Anfang November in den Berliner Kunst-Werken gezeigt wird. Das von dem Architekten Philipp Oswalt initiierte und von der Bundeskulturstiftung finanzierte Forschungsprojekt ist auf drei Jahre angelegt und läuft bis 2005. Dementsprechend hat die Schau weniger Kunst-, als vielmehr Werkstatt-Charakter. Oswalts Team hat den Schrumpfungsprozess an vier besonders drastischen Beispielen untersucht: dem englischen Manchester und Liverpool, dem amerikanischen Detroit, dem russischen Ivanovo und dem Raum Halle/Leipzig. In diesen Städten hat sich die Einwohnerzahl im Laufe der Zeit nahezu halbiert.
Der Niedergang von Manchester und Liverpool begann schon in den 1930er-Jahren. Damals gingen die meisten Jobs in den Exporthäfen und der Textilbranche verloren, weil das wichtigste Abnehmerland Indien anfing, britische Stoffe zu boykottieren. Diese Deindustrialisierung war in der Automobil-Stadt Detroit nicht Ursache, sondern Ergebnis einer "Suburbanisierung", die Anfang der 1960er-Jahre einsetzte. Nachdem der Staat zahlreiche neue Highways gebaut und billige Kredite zum Hausbau vergeben hatte, strömten die bisherigen Städter ins Umland, um dort ihre Eigenheime zu errichten. In das vernachlässigte Stadtzentrum zogen ärmere Schwarze aus den US-Südstaaten nach, was die Abwanderung der begüterten Weißen nur beschleunigte.
Diese in vielen Ländern zu beobachtende Stadtflucht erreichte in Detroit eine seltene Radikalität: Sogar die Friedhöfe wurden in die Vorstädte verlegt und die Toten umgebettet. Hingegen wurde das 300 Kilometer nordöstlich von Moskau gelegene Ivanovo zum Opfer des Zusammenbruchs der sowjetischen Planwirtschaft nach 1990. Die lokale Textilindustrie verlor ihre Absatzmärkte. Die Betriebe wurden geschlossen; die orientierungslose Bevölkerung blieb ohne Verdienstmöglichkeit. Und im früheren Chemie-Dreieck zwischen Halle und Leipzig traten nach der deutschen Wiedervereinigung alle drei Faktoren gleichzeitig auf: Deindustrialisierung, Suburbanisierung und postsozialistische Transformationsprobleme.
Trotz aller Unterschiede haben die betroffenen Städte doch dreierlei gemeinsam. Erstens waren sie völlig von einem einzigen Wirtschaftszweig abhängig: Ihre industrielle Monokultur hatte ihnen am Anfang des 20. Jahrhunderts eine Boomphase beschert, löste aber später auch ihren Verfall aus. Außerdem erlebten diese Kommunen eine "regionale Neustrukturierung". Während die Zentren ausdünnten und verarmten, blühte die suburbane Peripherie auf und wurde wohlhabend: Sowohl im Falle Manchesters als auch Detroits befinden sich zwei der reichsten Kreise des gesamten Landes unmittelbar hinter der Stadtgrenze.
Schließlich hatten alle Versuche, die Innenstädte wieder zu beleben, nur bescheidenen Erfolg. Am spektakulärsten scheiterte das 1977 für 340 Millionen Dollar in Detroit errichtete "Renaissance Center". Dieses festungsartige, von einer Betonmauer abgeschirmte Ensemble aus Wolkenkratzern mitten in der City fand nie den erhofften Zuspruch. Zwei Jahrzehnte darauf wurde es von General Motors für ein Fünftel des Baupreises übernommen und zur Konzernzentrale umgestaltet. Diese so triste wie trockene Thematik haben die Ausstellungsmacher bewundernswert anschaulich aufbereitet. Zahlen und Daten werden auf originell gestalteten Schautafeln präsentiert, Fotoserien und Videos dokumentieren das Lebensgefühl auf verwaisten Straßen und in Brachlandschaften. Teilweise geraten die der Information verpflichteten Arbeiten dennoch zu wahren Kunstwerken: Das milliardenschwere Hilfsprogramm "Stadtumbau Ost", mit dem der Bund Abriss und Entschuldung von Plattenbauten in Ostdeutschland finanziert, wird durch einen brillant gezeichneten Comic erklärt.
Doch die vorgestellten Lösungsansätze überzeugen nicht. Frührentner-Existenzformen, Club-Kultur und "Luxus-Urbanismus" mit Museen, Lofts und Einkaufspassagen in ehemaligen Industriebauten können allenfalls punktuell für Besserung sorgen, aber den Ruin ganzer Städte schwerlich aufhalten. Was sich dagegen unternehmen ließe, wollen die Organisatoren mit einer weiteren Ausstellung in Leipzig im Herbst 2005 ausführlich darstellen. Man darf gespannt sein, was aus den Geisterstädten der Zukunft werden soll.
Bis 7. November in den Kunst-Werken, Auguststraße 69, Berlin-Mitte. Dienstags bis sonntags 12 - 19 Uhr, donnerstags bis 21 Uhr. Katalog 22 Euro.