Die Stasi - Aufarbeitung eines "Erbes"
Eine staatliche Behörde mit immerhin 2.600 Beschäftigten muss aufklären, welchen Nutzen sie für die Gesellschaft erwirtschaftet, zumal wenn sie nicht im Mittelpunkt öffentlichen Interesses steht. Die 17 Autoren, überwiegend Mitarbeiter der Behörde, haben diese Aufgabe mehr als zufriedenstellend erledigt. Damit wird zugleich dokumentiert, in welch starkem Maß sich der deutsche Staat bei der Aufarbeitung dieses Teils der jüngsten deutschen Geschichte engagiert, verglichen etwa mit einigen unserer osteuropäischen Nachbarn, wo die Akten der früheren kommunistischen Repressionsapparate faktisch unter Verschluss gehalten werden.
In drei der vier Hauptkapitel geht es um die politische Geschichte der Behörde einschließlich seiner noch von der freien DDR-Volkskammer verabschiedeten Vorläuferregelungen, um aktuelle Probleme im Spannungsfeld von Stasiakten und Datenschutz und um den Beitrag, den diese Akten zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte leisten. Im letzten Kapitel ziehen zwei Autoren eine vorläufige Bilanz im Hinblick auf andauernde Personenüberprüfungen und die "juristische Aufarbeitung der SED-Herrschaft".
Die Akteneinsicht war ein wichtiges Merkmal der von Bürgern der freien DDR 1990 erkämpften Freiheit, die zuerst und vor allem den Opfern der Stasi geschuldet sei (Marianne Birthler). Wer heute Schlussstrich-Forderungen erhebt, muss sich darüber klar sein, dass eine Schließung oder auch nur wesentliche Beeinträchtigung der Arbeit der Behörde eine "Demokratieinitiative der Friedlichen Revolution" (Wolfgang Ullmann) in der DDR beseitigen will.
Im zweiten Kapitel kann man, nicht ohne Erschütterung, noch einmal nachlesen, welche Folgen zwei Urteile (des Berliner Verwaltungsgerichtes 2001 und des Bundesverwaltungsgerichtes 2002) für die zeitgeschichtliche Forschung und damit die Aufarbeitungsbemühungen der ganzen Gesellschaft hatten und noch haben. Beide Gerichte hatten auf Antrag des Alt-Bundeskanzlers Kohl entschieden, den angeblichen Schutz der Privatsphäre des Antragstellers höher als das Recht auf Akteneinsicht zum Beispiel durch Historiker zu bewerten und die Öffnung "seiner" Akten von der vorherigen Erlaubnis Kohls abhängig zu machen. Kohl genießt damit die gleichen Rechte wie die tatsächlichen Opfer der Stasi. Auch eine vom Deutschen Bundestag darauf hin vorgenommene (vorsichtige) Novellierung des Gesetzes hat diesen richterlich provozierten Missstand bisher nicht vollständig beseitigen können. Johannes Beleites plädiert daher - und mit vielen anderen guten Gründen - überzeugend für eine umfassende Novellierung des Staatssicherheits-Unterlagen- gesetzes.
Im dritten Kapitel geht es um sehr Persönliches (bei Lutz Rathenow) und dann wieder um sehr Grundsätzliches, zum Beispiel um den unerhörten bürokratischen Aufwand der Stasi-Repressionsfallen, um die Westarbeit der Stasi und um den Zusammenhang von Zeitgeschichte und Erforschung der Stasi-Hydra (Ehrhart Neubert, Helmut Müller-Enbergs und Joachim Gieseke). Bei Neubert etwa begreift man, dass die DDR neben vielen anderen Toden wohl auch den Informationstod gestorben ist. Die Stasi wusste schließlich alles - und letzten Endes nichts.
In dieses Kapitel gehört auch der verdienstvolle Beitrag von Siegfried Suckut, dem Leiter der mit 72 Mitarbeitern kleinsten Abteilung "Bildung und Forschung". Sie soll, vom Gesetzgeber ausdrücklich gefordert, Forschung über die Stasi nicht nur fördern und organisieren, sondern selbst betreiben. Der Autor entfaltet mit allen befürwortenden und allen Gegenargumenten die ganze Diskussion um die Frage, ob der Staat gerade in diesem Fall selbst Forschung betreiben darf/soll oder dies universitären Institutionen und Einrichtungen überlassen muss/soll. Für den Rezensenten ist ganz klar: Wenn der Staat vollständige Unabhängigkeit gewährt, wenn ferner die Universitäten sie nicht selbst betreiben wollen oder können, dann muss sogar zeitgeschichtliche DDR-Forschung unter seinem Dach stattfinden. Hinzu kommt noch, dass an zwei Dritteln (!) aller deutschen Hochschulen das Thema DDR, mit weiter abnehmender Tendenz, überhaupt nicht mehr bearbeitet wird. Wenn man dann noch in Rechnung stellt, dass von dem verbleibenden Drittel die Hälfte veröffentlichter Forschungsergebnisse als unerheblich oder qualitativ unbefriedigend eingestuft werden muss, dann erscheint Staatsforschung über die Stasi nicht nur unbedenklich, sondern sogar zwingend geboten. Sie vergrößert den gesellschaftlichen Kenntnisstand über eine untergegangene Diktatur und ist damit unverzichtbar.
Dass die Abteilung Bildung und Forschung der Gauck-Behörde tatsächlich über eine beneidenswerte Unabhängigkeit verfügt, zeigt ein Blick auf ihre beeindruckende Publikationsliste. Außerdem profitiert sie von vergleichsweise großer personaler Kontinuität, welche auch die längerfristige Bearbeitung von Forschungsprojekten erlaubt. All das hat keine Universität mit ihren begrenzten eigenen und eingeworbenen Forschungsmitteln zu bieten. Etwas anders verhält es sich mit dem Vorwurf des privilegierten Quellenzugangs, der Nachfrager von außen zweifellos benachteiligt. Hier sind wohl tatsächlich noch Verbesserungen denkbar.
Wirklich ärgerlich an diesem Buch ist nur das von Heinrich Oberreuter beigesteuerte Vorwort. Womit eigentlich hat sich der bayerische Politologe als DDR-Kenner ausgewiesen? Da finden sich dann Urteile, die in ihrer Allgemeinheit so sehr von Unkenntnis getrübt sind, dass sie sogar auf viele DDR-Bürger und solche, die es mal waren, beleidigend wirken. Die DDR sei eine "von Lüge, Selbstverleugnung, Misstrauen und schizophrenem Denken geprägte Gesellschaft" gewesen!" "Geprägt" wohlgemerkt! Ja, das alles hat es auch gegeben. Aber prägend war es nicht. So werden auch nachträglich noch die lebensweltlichen Erfahrungen und Verhaltensweisen der DDR-Bürger in schlimmer Weise abgewertet und heruntergewürdigt.
Den Vogel schießt er mit der Wiederholung der Litanei von der "illusionären" Entspannungspolitik ab, die zu Wirklichkeitsverweigerung und Missachtung von Tatsachen geführt habe. Das ist in seiner schrecklichen Verallgemeinerung wieder so falsch, dass noch nicht einmal - wie Karl Kraus gesagt hat - das Gegenteil wahr ist. Die zeitgeschichtliche Forschung sieht das heute um vieles differenzierter. Ein schönes, informatives Buch mit einem ärgerlichen Vorwort. Aber das kann man ja überlesen.
Wer sich solchermaßen mit den faktischen und normativen Grundlagen des Themas vertraut gemacht hat, sollte anschließend sein Bild vom Moloch Stasi durch ein ansehnliches Stück literarischer Vergangenheitsbewältigung ergänzen. Da hat eine junge australische Journalistin dreimal die DDR besucht, einmal vor und zweimal nach der Wende. Danach hat sie ein wunderbares, schon vielfach prämiertes Buch mit einem Dutzend lose aneinandergereihter Geschichten, über einen "aus der Zeit gefallenen Ort" geschrieben. Es handelt sich um jenen emotionslos scheinenden kühlen Blick von außen, der jedoch mehr emotionalisiert als manche seelenlose Opferstatistik.
Da geht es gar nicht mehr direkt um den Apparat Stasi, sondern um das Leben der Opfer, Täter, Mitläufer, Ignoranten, Gleichgültigen und Angepassten - unter und mit der Stasi. Man lese etwa über die Begegnung mit dem Rentner Karl-Eduard von Schnitzler, über Anna Funders Besuch im Stasi-Kerker Hohenschönhausen oder ihre wunderbar einfühlsam beschriebene Begegnung mit Miriam und Charlie nach und man wird viel von einer untergegangenen und gleichwohl nachwirkenden, manchmal sehr deutschen Lebenswelt spüren. Die Autorin schreibt völlig unprätentiös und trifft fast immer ins Schwarze. Höchst empfehlenswert.
Siegfried Suckut/Jürgen Weber (Hrsg.)
Stasi-Akten zwischen Politik und Zeitgeschichte. Eine Zwischenbilanz.
Olzog Verlag, München 2003; 338 S., 19,80 Euro
Anna Funder
Stasiland.
Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2004;
342 S., 24,90 Euro