Zu Beginn des Lehrjahres: Lage auf dem Ausbildungsmarkt angespannt
Wenn Jugendliche in den Bundestag kommen, sind sie in der Regel am Parlamentsleben interessierte Besucher oder Gäste der Abgeordneten. Ende August begrüßte Bundestagspräsident Wolfgang Thierse jedoch 37 junge Frauen und Männer im Reichstag, die dort etwas ganz anderes wollen. Für sie ist der Bundestag jetzt ihr Arbeitsplatz; sie haben eine Lehrstelle in der Bundestagsverwaltung.
Die Bundestagsverwaltung hat damit zwar die Ausbildungsplätze fast verdoppelt - von 28 auf 53. Doch bezogen auf die Ausbildungsplatzlage in Deutschland war die Initiative des Präsidenten nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Nach den von der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg für August errechneten Zahlen wurde die Lehrstellenlücke im Vergleich zum Vorjahr größer. Die Zahl fehlender Ausbildungsplätze beträgt gegenwärtig 131.800.
Soviel nicht vermittelte Bewerber wie im August 2004 hat es in den vergangenen drei Jahren nicht gegeben: Es sind 18.700 mehr betroffene junge Männer und Frauen als im vergangenen Jahr. Genau umgekehrt ist es bei den freien Lehrstellen, also beim Angebot. Für 182.100 noch einen Arbeitsplatz suchende junge Leute gab es im August nur 50.300 unbesetzte Lehrstellen. Diese Zahl nimmt ab; 2003 waren es 4.300 mehr, 2002 gar 9.400. So geht der Anteil der auf einen Bewerber kommenden freien Ausbildungsplätze immer weiter zurück: 2002 betrug die Quote 0,81: Um 100 freie Ausbildungsplätze mühten sich 122 Bewerber; großzügig gesprochen war das Verhältnis einigermaßen ausgeglichen. Im August sank die Quote auf 0,73: Um 100 Stellen mühten sich da 137 Bewerber. In diesem Jahr kommen bei einer Quote von 0,67 schon 148 Bewerber auf 100 angebotene Lehrstellen.
Nun eignen sich die Augustzahlen allerdings schon immer schlecht für Vergleiche. Die Fachleute wissen das und nennen den letzten der vier Sommermonate "Monat der Bereinigung". Zu diesem Zeitpunkt im Jahr sind Doppelzählungen kaum zu vermeiden, etwa junge Leute, die sich noch im Berufsausbildungsjahr befinden und zugleich als Ausbildungsplatzsuchende gezählt werden. Das ist einen Monat später schon anders. Da ist der Überblick genauer. Die Bundesagentur wird Anfang Oktober die Zahlen für das ganze Ausbildungsjahr vorstellen. Dennoch glauben die Fachleute nach den hohen Augustzahlen nicht mehr an eine realistische Chance, die Zahlen der einen Ausbildungsplatzsuchenden aus dem September 2003 noch unterbieten zu können.
Bundeskanzler Gerhard Schröder hat nach der Kabinettsklausur Anfang September schon die Parole ausgegeben, die Anfang Oktober noch fehlenden Ausbildungsplätze - es sind erfahrungsgemäß weniger als im August - müssten bis zum Dezember "nachvermittelt" werden. Für den Kanzler zeigt der erst im Juni zwischen der Bundesregierung und der deutschen Wirtschaft geschlossene Ausbildungspakt "bereits Wirkung". Der Pakt soll die von den rot-grünen Koalitionsfraktionen geplante Lehrstellenabgabe ersetzen.
Aus der sozial-liberalen Landesregierung in Rheinland-Pfalz meldete sich der Staatssekretär im Wirtschaftsministerium Günter Eymael (FDP) zu Wort: Nach Ansicht der Mainzer Regierung bleibe die Lage auf dem Ausbildungsmarkt zwar "angespannt", habe sich aber "verbessert". Die Industrie- und Handelskammern im Land an Rhein und Mosel meldeten einen Anstieg der Lehrstellen um 3,5 Prozent, beim Handwerk liege der Anstieg gar bei 6,8 Prozent.
Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt baut vor und erklärte am 7. September: Trotz der "enormen Anstrengungen der deutschen Wirtschaft, im Rahmen des Ausbildungspakts Lehrstellen zu schaffen", werde es Ende dieses Monats "noch unversorgte Bewerber" geben. Auch Hundt wagt nicht, auf der Grundlage der Augustzahlen die künftige Zahl "unversorgter Jugendlicher" zu schätzen. Er zeigte sich aber zuversichtlich, "gerade wegen des beispiellosen Einsatzes der Wirtschaft" das Ziel zu erreichen, "jedem Ausbildungsfähigen und -willigen ein Qualifizierungsangebot zu machen"
Freilich, das von Hundt gewählte Stichwort "Qualifizierungsangebot" heißt keineswegs: jedem einen Ausbildungsplatz. Laut Ausbildungspakt kann damit auch die "Brücke in die Berufsausbildung" gemeint sein, eine neu entwickelte betriebliche Einstiegsqualifizierung, die sechs bis zwölf Monate dauern soll, in zehn Schlüsselbranchen angeboten wird und bei der am Ende ein Zeugnis der Kammern steht. Diese Qualifizierung "kann", heißt es im Pakt, auf die spätere Berufsausbildung angerechnet werden. Zur Qualifizierung zählt auch das Angebot der Kammern zur Ausbildungsvorbereitung für Jugendliche, die noch nicht die nötigen Befähigungen zur Ausbildung haben.
Die IG Metall sieht den Ausbildungspakt für dieses Jahr bereits gescheitert. Wer den deutlichen Rückgang an Ausbildungsplätzen einen Erfolg nenne, habe den Blick für die Realität verloren. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hält sich mit solchen Formulierungen zurück, auch wegen der unsicheren Datenbasis im August. Am Hackeschen Markt in Berlin wartet man auf die nächsten verlässlicheren Zahlen. Doch runzelt DGB-Ausbildungsexperte Hermann Nehls die Stirn, wenn er auf die Augustzahlen sieht und die Bewerber für Ausbildungsstellen mit gemeldeten betrieblichen Ausbildungsstellen vergleicht. Hier klafft eine Lücke von fast 260.000 Stellen, für Nehls ein Alarmzeichen: so hoch war die Lücke noch nie seit der deutschen Einheit. Ihn stört auch die Bestimmung im Ausbildungspakt, nach der Jugendliche dann aus der Statistik herausfallen, wenn sie der Aufforderung nicht folgen, an "Nachvermittlungsaktionen" teilzunehmen.
Die jüngsten Zahlen der Bundesagentur zeigen erhebliche Unterschiede zwischen Ost und West, aber auch unter den einzelnen Bundesländern. So kommen im Westen auf hundert Ausbildungsstellen 128 Bewerber; im Osten (mit ganz Berlin) aber mit 248 fast doppelt so viel. Unter den Ländern verzeichnet allein Hamburg ein Plus von 53 Ausbildungsplätzen gegenüber 2003 (plus 0,6 Prozent). Rheinland-Pfalz mit minus 1,8 Prozent, Nordrhein-Westfalen mit minus 2,1 Prozent, Niedersachsen mit minus 2,7 Prozent und Hessen mit minus 3,7 Prozent haben hier den geringsten Rückgang. Die anderen Länder im Westen und Berlin kommen auf ein Minus zwischen 6 und 8 Prozent; die ostdeutschen Länder auf eines zwischen 10 und 13 Prozent. Dabei haben dort die Zahlen der Bewerber abgenommen. Karl-Heinz Baum