Interview mit Hikmet Cetin, dem politischen Vertreter der NATO für Afghanistan
Das Parlament: Noch ist nicht genau bekannt, wann in Afghanistan die Parlamentswahlen stattfinden. Ist das Land schon bereit für diesen Schritt?
Hikmet Cetin: Zu Beginn dieses Jahres konnte sich niemand vorstellen, dass die Präsidentenwahl friedlich ablaufen würde. Aber es war ein Erfolg. Mein Eindruck ist, dass die Männer und Frauen dieses Landes die Vergangenheit hinter sich lassen wollen. Dafür haben sie sich in die Wählerschlangen eingereiht. Ich denke, dass das auch bei den Parlamentswahlen so sein wird. Vielleicht wird die Sicherheitslage prekärer sein, aber nicht wegen der Wähler, sondern wegen der Kandidaten.
In diesem Land gibt es noch Stämme und Fraktionen, das macht die Lage gefährlich. Vor den Wahlen müssen einige Bedingungen erfüllt sein. Die UNO, das Wahlkomitee und die afghanische Regierung befassen sich mit den Problemen. Sind die gelöst, bin ich ganz optimistisch, dass hier freie und faire Wahlen durchgeführt werden können. Es gibt noch Menschen, die sich an die letzten freien Wahlen vor 30 Jahren erinnern können. Besonders ermutigend finde ich auch die Beteiligung der Frauen an den Präsidentenwahlen.
Das Parlament: Die UNO versucht, mit sanftem Druck die Wahlen zu verzögern.
Hikmet Cetin: Es ist nicht hilfreich, die Wahlen zu verzögern. Wir haben den Afghanen versprochen, dass die Wahlen Ende April, Anfang Mai stattfinden. Zudem sollte der zeitliche Abstand zwischen den Präsidenten- und den Parlamentswahl nicht zu groß werden, das beschwört unnötige Debatten herauf.
Das Parlament: Wäre es nicht notwendig, vor den Wahlen die noch agierenden Warlords zu entwaffnen?
Hikmet Cetin: Eine der wichtigsten Reformen ist die des Sicherheitssektors. Kürzlich haben im Norden General Dostum und in Kabul Professor Sayaf zugestimmt, alle ihre Einheiten zu demobilisieren, weil sonst ihre Parteien nicht zu den Parlamentswahlen zugelassen werden. Mit der Unterstützung der internationalen Gemeinschaft müssen wir uns noch mehr auf die Reintegration konzentrieren. Denn was tun wir mit den demobilisierten und entwaffnenten Männern? Es stellt uns vor große Herausforderungen in so kurzer Zeit soviele Personen reintegrieren zu müssen. Wenn wir da nicht sehr vorsichtig sind, könnte sich eine Art illegaler Miliz entwickeln.
Das Parlament: Ist es nicht Zeit, die ISAF-Macht auszuweiten?
Hikmet Cetin: Das ISAF-Mandat gilt für ganz Afghanistan. Die NATO hat aber beschlossen, Schritt für Schritt vorzugehen. Kabul war schon unter der Kontrolle der ISAF. Vor der Präsidentschaftswahl wurde der Norden unter das Kommando der NATO gestellt. Unser kurzfristiger Plan nun ist die Expansion nach Westen. Die NATO sucht dafür noch Länderkandidaten. Außerdem wird in der NATO debattiert, ob zu den Parlamentswahlen zusätzliche Kräfte entsandt werden. Dazu müssen wir aber bald das genaue Datum der Wahlen erfahren.
Das Parlament: Wann wird die ISAF den Süden und den Osten Afghanistans sichern?
Hikmet Cetin: Der Süden könnte in der zweiten Jahreshälfte 2005 übernommen werden. Ich denke, bis 2006 hat die NATO die Verantwortung im ganzen Land inne. Dazu wird innerhalb der NATO gerade die Frage diskutiert, wie man die verschiedenen Operationen, die multinationale NATO-ISAF und die von den USA geführten Koalitionstruppen, unter ein Kommando stellt.
Das Parlament: Ostafghanistan ist die instabilste Region, dort agieren noch Al Qaida, mächtige Warlords. Die Bauern der Region sind die weltgrößten Opiumproduzenten. Sollte ISAF nicht als erstes dorthin?
Hikmet Cetin: Einige Länder zögern, dort den Kampf gegen den Terrorismus aufzunehmen. Ich denke aber, dass wir zwei verschiedene Missionen unter einem Kommando haben können. So könnten die US-geführten Koalitionstruppen den Terrorismus bekämpfen, während ISAF für Sicherheit sorgen.
Das Parlament: Wie hilfreich ist es für die ISAF-Mission, dass die USA in Afghanistan ihre nicht immer zimperliche Terrorbekämpfung betreiben?
Hikmet Cetin: Das Mandat der Koalitionstruppen unter Führung der USA ist eindeutig Terrorbekämpfung, das schließt Kampfhandlungen ein. ISAF dagegen assistiert der afghanischen Regierung, der Armee und dem Volk bei der Sicherung des Friedens.
Das Parlament: Heißen Sie die Methoden der US-Politik gut, die Felder der Opiumbauern zu vernichten?
Hikmet Cetin: Niemand kann den Einsatz von Flugzeugen bei der Opiumvernichtung gut heißen, das ist extrem gefährlich. Präsident Karsai hat sich dagegen ausgesprochen, ohne seine Genehmigung sind solche Einsätze illegal. Es wird berichtet, dass ein solcher Einsatz stattgefunden haben soll, dazu gibt es jetzt in Kabul einen Untersuchungsausschuss.
Das Parlament: Die Welt hofft, dass in Afghanistan der Mohnanbau bald aufgegeben wird. Wie sehen Sie die Chancen dieses Unterfangens?
Hikmet Cetin: Das ist die brennendste Frage, wenn es um diese Region geht. Gerade deshalb gibt es aber leider keine Lösungen, die über Nacht wirksam werden. Wir brauchen einen umfassenden kurz-, mittel- und langfristigen Plan für dieses Problem. Ohne einen Plan, der den Bauern Alternativen zum Opiumanbau vermittelt, wird es nicht gehen. Um den Opiumanbau wirksam zu bekämpfen, brauchen wir umfassende internationale Unterstützung. Es wird Jahre dauern, bis wir eine Gesamtlösung gefunden haben.
Das Parlament: Sie sind also gegen die gegenwärtige Vernichtung von Opiumfeldern?
Hikmet Cetin: Die vorschnelle Vernichtung von Opiumfeldern schafft viele neue, zusätzliche Probleme. Wir müssen in dieser Angelegenheit sehr vorsichtig vorgehen. Viele Bauern würden lieber heute als morgen damit aufhören, Opium anzubauen. Ein Hauptproblem ist, dass das Land seit acht Jahren unter extremer Dürre leidet und leider fast nur die Mohnpflanze das aushält. Ich denke, dass die internationale Gemeinschaft den Bauern finanziell helfen muss.
Das Parlament: Schenkt die Welt den Nachbarländern der Region genügend Aufmerksamkeit?
Hikmet Cetin: Um nachhaltigen Frieden und Stabilität in Afghanistan zu schaffen, brauchen wir mehr Kooperation mit den zentralasiatischen Republiken und insbesondere Pakistan. Wenn wir Pakistan nicht an Bord nehmen können, werden die Taliban in Afghanistan weiter existieren.
Das Parlament: In Deutschland fragen sich viele, ob der Einsatz der Bundeswehr-Soldaten noch notwendig ist.
Hikmet Cetin: Deutschland leistet hier einen großen Beitrag. Die Deutschen spielen hier eine wichtige Rolle und machen eine exzellente Arbeit. Sie müssen damit fortfahren.
Die Welt hat schon einmal weggeschaut, als hier der Bürgerkrieg tobte und die Taliban herrschten. Erst seit dem 11. September erinnerte man sich an dieses Land. Wir haben in New York, in Madrid und in Istanbul gesehen: Wenn wir nicht nach Afghanistan gehen, kommt es zu uns. Wir müssen helfen, um unserer eigenen Sicherheit willen.
Das Gespräch führten Cem Rifat Sey und Adrienne Woltersdorff.