Das Aus für die Föderalismuskommission
Nach der Sitzung bedauerten die beiden Vorsitzenden, SPD-Partei- und Fraktionschef Franz Müntefering und Bayerns Ministerpräsident und CSU-Vorsitzender Edmund Stoiber, das Scheitern. Beide sprachen von einer vertanen Chance. Sie schoben aber jeweils der anderen Seite die Schuld zu.
Müntefering erklärte, die Mehrheit der Länder - gemeint sind damit die CDU/CSU-geführten Bundesländer - habe darauf bestanden, die alleinige Zuständigkeit für die Bildung vom Kindergarten bis zur Hochschule zu erhalten. Die SPD und die Minderheit der Länder hätten sich fragen müssen, ob sie nachgeben könnten oder lieber das Scheitern in Kauf nehmen sollten. Zu einem so weit gehenden Rückzug des Bundes aus der Bildung sei man nicht bereit. Es sei ihm unverständlich, dass in der Kommission bereits erreichte Verabredungen auf elf Politikfeldern an diese eine Frage geknüpft wurden. Er wäre bereit gewesen, sagte Müntefering, das Thema Bildung bis zum Frühjahr nachzuverhandeln und erst einmal das bereits Erreichte auf den Weg zu bringen. Im übrigen sei er trotz des Scheiterns überzeugt, dass die von der Kommission beratenen Themen in den nächsten Monaten und Jahren eine große Rolle in der politischen Auseinandersetzung spielen werden.
Stoiber begann seine Ausführungen mit dem Hinweis, dass immer "alles mit allem zusammen hängt". Die Länder seien dem Bund sehr weit entgegen gekommen, seien bereit gewesen, auf Rechte in der Gesetzgebung zu verzichten; sie hätten zugestanden, dass einige ihrer Rechte künftig dem Bund zuständen. Sie seien sogar bereit gewesen, für den Fall von Sanktionen der Europäischen Kommission wegen deutscher Verstöße gegen EU-Recht, ein gutes Drittel der Kosten zu tragen. Sie hätten aber erwartet, dass sie auf ihrem originären Feld, der Bildung, die alleinige Zuständigkeit vom Kindergarten bis zur Hochschule erhalten. Nachdem das nicht zu erreichen gewesen sei, sei man zu dem Schluss gekommen, dass der gegenwärtige Stand der Bund-Länder-Beziehungen insgesamt günstiger sei als die Reform ohne die erwarteten Rechte im Bildungsbereich. Er habe zuweilen den Eindruck, in der Bundesregierung glaube man, alle Dinge von nationaler Bedeutung könnten nur in Berlin gelöst werden.
Noch am Donnerstag vergangener Woche schien der Erwartungsdruck so groß, dass alle Beteiligten nur von einem positiven Ergebnis für das große Reformwerk ausgingen. Doch am Freitagmorgen zeichnete sich das mögliche Scheitern schon ab. Beide Vorsitzende teilten nach der letzten nächtlichen Verhandlungsrunde unter vier Augen mit, der für den Nachmittag einberufenen Kommission legten sie keinen gemeinsamen Vorschlag vor. Es folgte über den Tag ein politischer Schlagabtausch. Müntefering warf den Ländern "machtpolitische Herangehensweise" vor. Stoiber beklagte, dass die SPD nicht bereit sei, den Bildungsbereich zu entflechten. Deshalb sei alles "jetzt leider an der SPD gescheitert". Die Union war überzeugt, dass "das Stoppschild aus dem Kanzleramt" komme. Regierungssprecher Bela Anda sagte am Mittag, der Bund könne die Zuständigkeit für Teile der Bildungspolitik nicht aufgeben. Er warf den Ländern den "Standpunkt der Kleinstaaterei" vor.
Münteferings Vorschlag, wenigstens die unstrittigen Punkte in Kraft zu setzen, konterte Hessens Ministerpräsident Roland Koch mit der Forderung an die Bundesregierung, sich zu bewegen. "An ihr hängt jetzt alles. Ohne Bildung gibt es keine Einigung." Bildung sei Sache der Länder. Die FDP-Vertreter kündigten einen Antrag auf Vertagung bis zum Januar an. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer (CDU) riet zu einer "Atempause". Noch schien die Lage nicht hoffnungslos; war alles nur ein Pokerspiel? Die hundertköpfige Kommission - ihr gehören neben den Politikern aus Bund und Ländern auch zahlreiche Sachverständige aus Politik und Wissenschaft an - brauchte nicht einmal dreißig Minuten, um das Scheitern zu besiegeln.
Im Kern geht es im Streitpunkt Bildung darum, ob und inwieweit der Bund sich in der Bildung engagieren soll und darf. Nach der reinen Verfassungslehre ist Bildung Ländersache. Die reine Lehre war in den vergangenen Jahrzehnten mit Zustimmung der Länder allmählich aufgeweicht worden. Der Bund hatte sich finanziell engagiert, und das war einst den Ländern ganz recht. Das finanzielle Engagement brachte dem Bund freilich auch eigene Zuständigkeiten. Allerdings war in jüngster Zeit das Bundesprogramm "Schulen ans Netz" oder das Programm zur Einrichtung der Ganztagsschulen, um nur einige Punkte zu nennen, auf Kritik aus den Ländern gestoßen. Es wurde als Hineinregieren in ihre eigenen Angelegenheiten empfunden.
Mit dem Scheitern war auch der von Stoiber und Müntefering zu Beginn der Woche vorgelegte "Vorentwurf" über hinfällig. Danach hatte eine Sitzung die andere gejagt - am Dienstag unterrichteten beide die Bundestagsfraktionen; am Mittwoch trafen sie die 16 Länderchefs, die am Abend zur Ministerpräsidentenkonferenz zusammentraten; am Donnerstag berieten die Ministerpräsidenten mit dem Bundeskanzler. Alles schien auf besten Weg: In der Nacht wollten Stoiber und Müntefering ein überarbeitetes Papier vorlegen, das die Kommission am Abend des 17. Dezember annehmen sollte. Doch das Papier blieb aus. Auch ein letzter Rettungsversuch in Münteferings Arbeitszimmer am Nachmittag scheiterte.
Der "Vorentwurf" enthielt nicht wenige grundlegende Änderungen des Verfassungsaufbaus in Deutschland, auch wenn manch Problemfeld der Bund-Länder-Beziehungen strittig blieb und ausgeklammert war.
Wichtigster Punkt: Nur noch ein gutes Drittel der vom Bundestag beschlossenen Gesetze sollte die Zustimmung der Länderkammer benötigen. Bisher gilt das - und nun auch künftig - für rund drei Fünftel der Gesetzesvorlagen aus dem Bundestag. Der Bundestag hätte also künftig bei den meisten Gesetzen einen Einspruch der Länderkammer mit absoluter Mehrheit, der sogenannten Kanzlermehrheit, zurückweisen können. Der Bundesrat hätte nicht einmal ein Drittel der Gesetzesvorlagen an seinem Nein scheitern lassen können. Wenn in den Ländern mehrheitlich andere politische Farben als im Bund regieren, war bisher zu allen Zeiten die Verlockung groß, Stärke zu demonstrieren und Bundesgesetze scheitern zu lassen. "Blockade" nennen das dann die Regierenden im Bund, "unser gutes Recht" die Regierenden in den Ländern und die Opposition im Bundestag. Das wird nun so bleiben.
Ziel der Arbeit der Kommission war es, die im Laufe der Jahre immer unklarer gewordenen Verantwortlichkeiten für Politikentscheidungen wieder sichtbar zu machen. Da der Bundesrat zwei von drei Gesetzen scheitern lassen kann, bekommt manches Gesetz erst im Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat sein eigentliches Gesicht. Was wirklich in diesem Ausschuss beraten wird, ist in der Regel bis zur übernächsten Wahlperiode des Bundestags vertraulich. Ebenso verwischen die Gemeinschaftsaufgaben zwischen Bund und Ländern mit ihrer "Mischfinanzierung" die eigentliche Verantwortlichkeit. Beide Politikinstrumente - Vermittlungsausschuss und Gemeinschaftsaufgaben - hatten dazu geführt, dass der Bürger kaum noch weiß, wer eigentlich für was verantwortlich ist. Das sollte anders werden. Auch dieses Manko wird nun, jedenfalls für eine längere Zeit, bleiben.
So waren sich Müntefering und Stoiber einig, wenigstens eine Gemeinschaftsaufgabe aus der gemeinsamen Zuständigkeit von Bund und Ländern (aus der sogenannten Mischfinanzierung) zu entlassen und allein den Ländern zu übertragen: den Hochschulbau. Aber Küstenschutz, Agrarstruktur, Forschungsförderung und Bildungsplanung sollten als Gemeinschaftsaufgaben erhalten bleiben. Der entscheidende Punkt war auch hier offenkundig die Bildungsplanung. Die Ministerpräsidenten billigten beim Hochschulwesen dem Bund nur noch zu, für die Hochschulzulassung und für Hochschulabschlüsse zuständig sein. Für die Überleitung des Hochschulbaus an die Länder hatte man sogar schon ein Finanzierungskonzept gefunden. Die Übergangsfrist sollte bis Ende 2019 dauern. Da diese Milliarden nach einem komplizierten Schlüssel den Ländern übertragen werden sollten, fürchteten Mitte der Woche die östlichen Bundesländer, diese Milliarden könnten womöglich irgendwie mit den vom Bund im Korb 2 des Solidarpakts zugesagten 51 Milliarden Euro verrechnet werden und forderten einen Hinweis darauf im entsprechenden neuen Grundgesetzartikel (143 c) wie: "Die Mittel des Solidarpakts bleiben unangetastet."
Müntefering und Stoiber hatten im Vorentwurf wichtige Teile der Bund-Länder-Beziehungen ausgeklammert: "Die Vorsitzenden haben die Kompetenzfelder Hochschulrecht und Bildungsplanung, Umweltrahmenrecht, Innere Sicherheit, Bundeskriminalpolizeiamt - Kompetenz für Terrorismusbekämpfung, Kompetenz für Katastrophenschutz/Zivilschutz, Mitwirkung der Länder in Europafragen (Art. 34 Abs. 6 GG), EU-Haftung erörtert. Eine Einigung über eine Veränderung des Status quo wurde in diesen Punkten nicht erzielt." Nun ist alles gescheitert.
Beim Bundeskriminalamt hatte es dann doch eine Annäherung gegeben: Die Ministerpräsidenten gaben nach: Das Amt sollte als Bundespolizei für die Terrorismusbekämpfung zuständig sein. Nun sind es weiterhin die Länder. Das Amt darf wie bisher nur beim Verdacht auf länderübergreifende Kriminalitäüt aktiv werden.
Nach dem Scheitern muss nun auch Berlin auf die zugesagte Hauptstadtklausel im Grundgesetz warten. Der Bund sollte in Berlin Verpflichtungen übernehmen. Ob freilich auch die Aufgaben einzeln aufgezählt werden sollten, blieb bis zum Ende strittig. Der Bund fürchtete neue finanzielle Belastungen.
Die Länder sollten zusätzliche Rechte erhalten: Versammlungsrecht, Strafvollzug, Ladenschlussrecht, Flurbereinigung und die allgemeinen Rechtsverhältnisse der Presse sollten in ihre Zuständigkeit fallen. Auch für die Rechte der Landesbediensteter sollten sie zuständig sein. Es war ihnen zugebilligt, das Recht des öffentlichen Dienstes zu regeln "und fortzuentwick-eln", eine Klausel, die besonders den Beamtenbund auf den Plan rief und ihn mit Streik drohen ließ.
Der Bund sollte dafür künftig allein für das Waffen- und Sprengstoffrecht zuständig sein, für die Versorgung Kriegsbeschädigter und Kriegshinterbliebener und ehemaliger Kriegsgefangener, für Erzeugung und Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken und deren Anlagen und für den Schutz deutschen Kulturguts gegen Abwanderung ins Ausland.
Das ist nun alles Makulatur - jedenfalls vorerst. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Peer Steinbrück (SPD) rief zu neuen Verhandlungen im Frühjahr auf. Sachsen-Anhalts Regierungschef Böhmer erwartet einen neuen Anlauf erst nach der Bundestagswahl 2006. Auch aus der Wirtschaft, der Wissenschaft und den Verbänden gab es Aufrufe zu neuem Anlauf.