Wird das Tafelsilber verscherbelt?
Ursula Engelen-Kefer zeigt sich verständnisvoll: Jede Regierung, gleich welcher Couleur, sei zu einer tendenziell optimistischen Beurteilung der künftigen wirtschaftlichen Entwicklung geradezu verpflichtet. Klafften aber Anspruch und Wirklichkeit wieder einmal auseinander, dann habe die gesetzliche Rentenversicherung darunter zu leiden, resümiert die stellvertretende DGB-Vorsitzende, zurzeit auch Vor-standsvorsitzende des Verbandes Deutscher Renten-versicherungsträger (VDR). Denn die Entwicklung der Bruttolohn- und -gehaltssumme als Determinante für die Beiträge der Rentenversicherung entzieht sich allem Wunschdenken. Und da liegen die Forschungsinstitute mit ihrer Einschätzung der wirtschaftlichen Entwicklung meist näher an der Realität.
Diese Realität aber sieht düster aus. Die Finanz-decke der Rentenkassen ist so dünn, wie nie zuvor. Frau Engelen-Kefer aber lässt auf einem Seminar des VDR gar nicht erst Panikstimmung aufkommen; durch die Garantie des Bundes sei die Auszahlung der Renten "zu jedem Zeitpunkt" gewährleistet, auch wenn der finanzielle Spielraum der Rentenversicherung mittlerweile gegen Null tendiere. Eine ausreichende Liquditätsreserve, mit der Löcher gestopft werden könnten, sei nicht mehr vorhanden, stellte Engelen-Kefer fest.
Der Notgroschen der gesetzlichen Rentenversiche-rung, die so genannte Schwankungsreserve, reiche nur noch für 0,2 Monatsausgaben aus. Es ist inzwischen eine Weile her, dass die Politik sich zurücklehnen konnte, weil beruhigende zwei bis drei Monatsausgaben vorhanden waren. Sollte sich abzeichnen, dass der "auf Kante" genähte Finanzmantel nicht halte, beispielsweise weil zu optimistische Annahmen der Regierung nicht einträten, dann würden die Anforderungen an den ohnehin stark belasteten Bundeshaushalt noch höher, betonte Engelen-Kefer.
Seit 2002 hat die gesetzliche Rentenversicherung je-des Jahr mit einem negativen Saldo von Einnahmen und Ausgaben abgeschlossen. 2002 mit minus 4,1 Milliarden Euro und 2003 mit minus zwei Milliarden Euro. Obwohl die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in diesem Jahr merklich nach oben tendierte, hat sich bei den Einnahmen der Rentenkassen keine auch nur annähernd entsprechende Entwicklung gezeigt. Enge-len-Kefer: "Auch in diesem Jahr werden die Ausgaben die Einnahmen weit übersteigen."
Die Rentenversicherung wird in diesem Jahr voraus-sichtlich mit Einnahmen in Höhe von rund 224,3 Mil-liarden Euro und Ausgaben von 227,8 Milliarden Eu-ro und damit mit einer negativen Bilanz von 3,5 Milliarden Euro abschließen. Die finanzielle Lage wäre noch desolater, wenn die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) in Berlin nicht die Wohnungsgesellschaft GAGFAH mit immerhin 2,1 Milliarden Euro verkauft hätte. Jetzt ist kein Tafelsilber mehr vorhanden, die Reserven sind aufgezehrt. Auch im kommenden Jahr wird die Rentenerhöhung ausfallen; das heißt, die rund 20 Millionen Rentner in Deutschland werden noch weiter von der wirtschaftlichen Entwicklung abgekoppelt. Trotz dieser Tatsache ist so wenig Geld vorhanden, dass erstmals Anfang Mai 2005 rund 500 Millionen Euro durch vorgezogene Raten des Bundeszuschusses abgedeckt werden müssen. Anfang Oktober reicht das Geld nicht einmal mehr, um alle Renten zu überweisen. Das führt dazu, dass Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) erneut einspringen muss. Da der Minister der Rentenversicherung keinen Blankoscheck ausstellen kann, muss im nächsten Jahr "permanent über den Zufluss von Bundesmitteln entschieden werden", kündigte Frau Engelen-Kefer an.
Damit sei der "schmale Grat", auf dem sich die Ren-tenversicherung unter den "ehrgeizigen" Eckwerten der Bundesregierung bewegen werde, deutlich vorge-zeichnet. Die Wirtschaftsforschungsinstitute sehen den Zuwachs der Lohnsumme für das nächste Jahr mit 1,3 Prozent um 0,3 Prozent geringer als die Bundesregierung. Der Bundeszuschuss deckt bereits 27,4 Prozent der Rentenausgaben ab.
2005, dem Jahr der nächsten Bundestagswahl also, droht dann sogar der monatlich von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu zahlende Beitrag von derzeit 19,5 auf 19,7 Prozent zu steigen, wie Pro-fessor Franz Ruland, Geschäftsführer des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger, betonte. Die rot-grüne Bundesregierung war 1998 mit dem Ziel angetreten, die Lohnnebenkosten zu senken. Ruland erwartet, dass die Renten zum 1. Juli 2006 um 0,3 Prozent steigen. Das macht beim Durchschnittsrentner lediglich drei Euro aus, gleicht also bei weitem nicht die Inflationsrate aus.
Zu dem Risiko, dass die Lohnsumme als Berech-nungsgrundlage für die Rentenversicherung nicht wächst, kommen weitere Risiken hinzu. So könnte der Bundeszuschuss aus der Mehrwertsteuer - weil der Konsum weiter sinkt - geringer ausfallen als angenommen. Die Höhe der Beiträge auf das Arbeitslosengeld II könne zudem nur grob geschätzt werden. Es ist nicht auszuschließen, dass die Beiträge später abgeführt werden. Ob die Krankenversicherung ihren Beitrag wegen des Sonderbeitrags der Arbeitnehmer und Rentner - wie von der Regierung unterstellt - senken kann, wird bereits kontrovers diskutiert. Dabei bedeutet jedes Zehntel Beitragssatzpunkt, um den der Beitragssatz zur Krankenversicherung nicht sinkt, eine Mehrbelastung der Rentenversicherung von rund 100 Millionen Euro jährlich. Diese Unsicherheiten könnten den Rentenversicherern noch einmal eine halbe Milliarde Euro an Verlusten bescheren.
Um den Problemen wenigstens teilweise begegnen zu können, müsse das Renteneintrittsalter steigen, sagte die VDR-Vorstandsvorsitzende. Nicht unterschätzen wollte sie auch die wachsende Zahl der Minijobs. Im-mer mehr Unternehmen würden sozialversicherungs-pflichtige Vollzeitjobs durch Minijobs ersetzen. Den Rentenversicherern gehen dadurch erhebliche Sum-men verloren, die allerdings heute noch nicht genau zu beziffern sind. Wenn sich dieser Trend fortsetze, dann müsse die Politik handeln, forderte Frau Enge-len-Kefer.
Einen eigenen Sparbetrag wollen VDR und BfA durch eine Organisationsreform leisten, die ab Okto-ber nächsten Jahres in Kraft tritt. Ein entsprechendes Gesetz wurde bereits von Bundestag und Bundesrat verabschiedet. BfA und VDR werden zu einer Körperschaft zusammengefasst, der Deutschen Rentenversicherung Bund. Aus der Bundesknappschaft, der Bahnversicherungsanstalt und der Seekasse wird ein zweiter Bundesträger, die Deutsche Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See, gebildet. Ein Ziel der Organisationsreform ist es, die inzwischen überholte Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten auch für den Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung zu Gunsten eines einheitlichen Versicherungsbegriffs aufzugeben.
Schließlich will der Gesetzgeber erreichen, dass die Verwaltungs- und Verfahrenskosten der Rentenversicherung in Höhe von 1,7 Prozent um zehn Prozent gesenkt werden. Dies soll durch Fusionen und engere Zusammenarbeit der Versicherungsträger erreicht werden. Die Landesversicherungsanstalten bleiben als "Regionalträger" unter der Bezeichnung Deutsche Rentenversicherung erhalten, sie heißen künftig dann zum Beispiel Deutsche Rentenversicherung Baden-Württemberg oder Deutsche Rentenversicherung Westfalen. Entsprechend werden durch das Gesetz auch die Auskunfts- und Beratungsstellen den Regionalträgern zugeordnet.