Versuche, dem weltweiten Finanzgeschehen eine Struktur zu geben
Die Unberechenbarkeit der Finanzmärkte ist uns allen ein Dorn im Auge. Wie schön wäre es doch, könnten wir mittels einer mathematischen Formel Sicherheit und vor allem mehr Vorhersagbarkeit in diese eigenwillige Dynamik bringen. Doch es gibt das Phänomen des Interventionsparadoxons: Das vorausberechnete, hypothetische Ergebnis beeinflusst die Ausgangssituation derart, dass es die Eintrittsrealität der Vorauskalkulation unmöglich macht. Die Folge sind hilflose Annahmen, verpackt in komplizierte Berechnungen mit vielen Wenn und Abers, die so viele Wahrscheinlichkeiten hervorbringen, dass sie zur Voraussage nicht wirklich taugen.
Doch das Bemühen der Mathematiker und Ökonomen kommt nicht von ungefähr. Ihr Motiv sitzt tief im Innern des Menschen: Wir brauchen Formeln, Muster und Systeme, um unserer Umwelt das Maß an Konstanz abzugewinnen, welches für ein geordnetes Dasein notwendig erscheint. Der Finanzmarkt verhält sich dabei offensichtlich schwieriger als das Universum. Während einigermaßen verlässliche Naturgesetze den Kosmos en Gros steuern, zeichnet sich der globale Finanzmarkt durch eine extrem dynamische und daher undurchsichtige Komplexität aus.
Dabei unterliegt Geld durchaus physikalischen Gesetzen. Es ist, insbesondere seit Einführung des Euro, in hohem Maße fluktuativ. Je weniger man davon besitzt, desto stärker wirkt die Schwerkraft: Ohne Geld zieht es Menschen und Wirtschaft unweigerlich nach unten. Auch verschwinden ab und an große Kapitalmengen in schwarzen Löchern. Doch trotz dieser Erkenntnisse fehlt es an einer griffigen wie praktischen Finanztheorie, die die enormen Risiken der Märkte klarer beschreiben kann und dies darüber hinaus allen Beteiligten zu Bewusstsein bringt.
Das ist die Überzeugung und Forderung des Mathematikers Benoit B. Mandelbrot, der mit seiner "fraktalen Geometrie" das Denken über die Natur veränderte. Jetzt legt er zusammen mit Richard L. Hudson, einem versierten Wirtschaftsjournalisten, einem breiten Publikum seine Fraktaltheorie zum Finanzmarkt vor und führt den Leser erstaunlich leicht und praxisnah durch die ansonsten eher schwer verdauliche Materie komplizierter Modellrechnungen. Das liegt sowohl am Stil der Autoren als auch an der Eigenschaft der "Fraktalen Geometrie": sie verbindet den formalen mit dem visuellen Ansatz und erleichtert damit plausibler Argumentation den Zugang zu Mandelbrots Modellen.
Zahl und Bild sind die Werkzeuge Mandelbrots, mit denen er die Vielseitigkeit, die wilden Kurssprünge und das hohe Risiko des Marktes anschaulich dokumentiert. Er identifiziert dabei die Diskontinuiät des Marktes, welche für das Phänomen der abrupten Wechsel verantwortlich ist, und den "Einfluss einer langfristigen Abhängigkeit in einem ansonsten zufallsbestimmten Prozess". Dies sei ein "langfristiges Gedächtnis, durch das die Vergangenheit die zufälligen Fluktuationen der Gegenwart weiterhin beeinflusst". Mandelbrot erweitert hierfür das ursprüngliche Schwarz-Weiß-Bild des Fraktals um das höher angesiedelte Multifraktal, welches damit mehr Aspekte der Wirklichkeit abbilden kann. Mandelbrots Marktwelt ist ein sich gegenseitig beeinflussender, von unregelmäßig auftretenden, aber stets wiederkehrenden Be- und Entschleunigungsphasen geprägter Kosmos.
Wenn Mandelbrot dabei die Unzulänglichkeiten bisheriger Annahmen wie das ordentliche Muster der Glockenkurve oder das Modell der Volatilität im Vergleich zu seiner Methode entlarvt, bleibt er dabei und deshalb sympathisch selbstkritisch. Letztlich gibt er selbst zu Protokoll: "Ich glaube, dass wir ein so komplexes System wie die globale Geldmaschine wahrscheinlich niemals vollständig verstehen werden."
Eben - die Unberechenbarkeit des Finanzmarktes ist eine Notwendigkeit seiner Funktionalität; eine Berechenbarkeit würde ihm eine seiner wichtigsten Antriebskräfte rauben: Die Spekulation. Und Spekulation ist nicht zu verstehen.
Benoit B. Mandelbrot / Richard L. Hudson
Fraktale und Finanzen.
Märkte zwischen Risiko, Rendite und Ruin.
Piper Verlag, München 2005; 429 S., 24,90 Euro