Mit Erziehungs-Schnelltherapie machen die Privatsender Quote
Max geht mit Stöcken auf seine Mutter los, Fabienne wälzt sich heulend auf dem Boden, Kevin spuckt und schlägt seine Geschwister. Die Erzeuger der Brut stehen am Rande des Nervenzusammenbruchs, doch die Rettung naht. Die "Super-Nanny" (RTL) oder auch die "Super-Mamas" (RTL 2) kommen mit ihren Filmteams ins Haus. Die Fernsehpädagoginnen halten für die Eltern klare Anweisungen bereit: "Sagt nicht ,bitte', wenn ihr eine Verabredung getroffen habt!". Sie unterbinden die nächtliche Versorgung mit frisch gefüllten Nuckelflaschen; im Konfliktfall verbannen sie den ungehorsamen Nachwuchs zum Schweigen auf die "stille Treppe". Ein paar Wochen später, wieder laufen die Kameras, sind die Lernfortschritte deutlich sichtbar, die kleinen Terroristen gezähmt.
Die Reality-Show aus deutschen Familien avancierte zum Quotenrenner. Über fünf Millionen Zuschauer sahen die ersten Folgen der "Super-Nanny" im Abendprogramm. Eilig entstanden Fortsetzungen, Pro 7 zog mit "Fit for kids" nach, nur ein "Pastor Fliege der Erziehung" für die öffentlich-rechtliche ARD steht noch aus. Der überraschende Erfolg des häuslichen Sendeformats, dessen Konzept aus Großbritannien stammt, dokumentiert die große Verunsicherung von Eltern im Umgang mit ihren Kindern. Beim Balancieren zwischen autoritärer Strenge und anti-autoritärem Laissez-Faire ist der "Erziehungsnotstand" ausgebrochen oder gar die "Erziehungskatastrophe" eingetreten - das jedenfalls behaupten die einschlägigen Bestseller. Wer erklärt, wie man Kindern "Grenzen setzt", wie es etwa der Hamburger Autor Jens-Uwe Rogge seit langem tut, kann auf volle Säle und hohe Verkaufszahlen rechnen.
Das hilfesuchende Publikum ist fast ausschließlich weiblich. In den Erziehungs-Ecken der Buchhandlungen füllt die auf Mütter zugeschnittene Literatur ganze Regale - die Titel für (werdende) Väter beanspruchen vergleichsweise wenig Platz. Das Themenspektrum reicht von der Geburtsvorbereitung über Stilltipps bis zum Pubertätsratgeber. Auch die meist monatlich erscheinenden Erziehungszeitschriften wie "Eltern" oder "Familie&Co" richten sich vorrangig an Frauen. Rund 90 Prozent der Kundschaft sind weiblich, lautet das Ergebnis von Reichweitenanalysen. Obwohl sich die Geburtenzahl in Deutschland seit der Gründung von Eltern im Jahre 1966 fast halbiert hat, ist die Zahl der Leserinnen von Erziehungspublikationen in der Summe stetig gestiegen.
Offenbar verspricht es in Deutschland besonderen Erfolg, Frauen ein schlechtes Gewissen zu machen. Als "Familie&Co" vor ein paar Jahren mit dem Titelthema "Bin ich eine gute Mutter?" aufmachte, verkaufte das Blatt gleich 50.000 Exemplare mehr als im Durchschnitt. In dem gewachsenen Markt der Eltern-Ratgeber spiegelt sich das gewachsene Bedürfnis nach Orientierung. "Die Familie ist vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt geworden", analysiert die Oldenburger Soziologin Rosemarie Nave-Herz. Weil nicht mehr selbstverständlich die (väterliche) Autorität bestimmt, wird am Küchentisch ständig debattiert, und dafür bedarf es guter Argumente. Die gedruckten oder gesendeten Erziehungstipps ersetzen den Verlust alter Traditionen, sie treten an die Stelle der Ratschläge aus der Verwandtschaft. Die Ansprüche an Mütter und Väter, beim Aufwachsen des Nachwuchses alles richtig zu machen, sind enorm. Weil das "Projekt Kind" unbedingt gelingen muss, interessieren sich Eltern für fast alle Fragen rund um das Thema Erziehung. So ist es fast verwunderlich, dass die elektronischen Medien erst jetzt auf diesen Zug aufgesprungen sind.
"Super-Mamas" und "Super-Nanny" standen von Anfang an in der Kritik. In Internetforen wie "familie-online.de" empörten sich Chatter über den "Kinder-Drill". Die deutsche Gesellschaft für Familientherapie witterte schon kurz nach dem Sendestart "schwarze Gehorsamspädagogik", der Kinderschutzbund monierte die Wiederauferstehung antiquierter Erziehungsmethoden. Doch so schlecht, wie es manche Experten darstellen, machen die gelernten Pädagoginnen ihren TV-Job nicht. Einige der Hinweise, die sie den Eltern auffälliger Kinder geben, sind durchaus brauchbar. Unglaubwürdig wirkt allerdings das einfache Schema "Vorher-Nachher": Die Behandlung psychischer Störungen dauert erheblich länger als ein paar Sendeminuten. Wer sich in Erziehungsberatungsstellen, Heimen, Schulen oder Jugendzentren über Jahre mit schwierigen Kindern beschäftigt hat, ärgert sich zu Recht über die TV-Schnelltherapie.
Nach anfänglicher Skepsis erfahre man mehr und mehr Zustimmung auch von Pädagogen, behauptet Holger Rettler von der Firma Tresor TV, die die "Super-Nanny" produziert: "Wir haben ein Thema an die Öffentlichkeit gebracht, das seit Jahren schwelte, aber unter der Decke blieb." Problematisch bleibt, dass die betroffenen Minderjährigen nicht selbst entscheiden können, ob sie überhaupt vor der Kamera einem Millionenpublikum vorgeführt werden wollen. Und manche ihrer Eltern wollen nicht nur nützliche Tipps, sondern auch "ins Fernsehen" und die "Aufwandsentschädigung" von immerhin 2.000 Euro kassieren. Die Jugendbuchautorin und Dokumentarfilmerin Regina Schilling fragte in der "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung": "Gibt es vielleicht einen kausalen Zusammenhang zwischen der Tatsache, dass die Eltern extrem verhaltensgestörte Kinder haben, und der Tatsache, dass sie ihre Kinder dieser Dokusoap zum Fraß vorwerfen?"
Welche Zuschauer die Privatsender ansprechen wollen, macht schon die Auswahl der Problemfamilien deutlich. Im "Unterschichtsfernsehen", wie es Harald Schmidt despektierlich genannt hat, stellen keine Akademiker ihre Kinder zur Schau. Im Stil der Krawall-shows zur Mittagszeit schleifen Eltern ihre Kinder an den Beinen durch die Wohnung, brüllen wie auf dem Kasernenhof oder fühlen sich beim Fußballgucken gestört. Rück-schlüsse darauf, von welchem Bildungsniveau die TV-Produzenten bei ihrer Klientel ausgehen, lässt der Schwierigkeitsgrad des eingeblendeten Preisrätsels zu: "Welchen Beruf haben die Super-Mamas? a) Erzieherin, b) Stewardess. Gewinnen Sie 3.000 Euro!"
Im Gegensatz zur Zielgruppe von "RTL" wenden sich die gedruckten Elternratschläge meist an ein besser qualifiziertes Publikum. Der Markt der Erziehungspresse ist ein schwieriges Terrain, weil die meisten Käufer nicht lange bleiben. Viele junge Mütter kaufen "Eltern", aber sie werden keine Stammkundinnen. Nach rund zwei Jahren wiederholen sich die Themen rund um Schwangerschaft und Geburt, nach und nach steigen die Leserinnen aus. Vier Jahre bleiben sie maximal bei der Stange, schätzt Eltern-Herausgeber Norbert Hinze. Der Marktführer erscheint bei Gruner + Jahr und verkauft jeden Monat rund 400.000 Exemplare. Die Auflage ist leicht gesunken, seit der Springer Verlag 1996 "Familie&Co" auf den Markt brachte. Das Konkurrenzprodukt richtet sich an Eltern mit Schulkindern - ein Lesersegment, das Gruner + Jahr nun mit der Neugründung "Eltern for family" im eigenen Hause zu halten sucht.
Bei Springer, der den Fachverlag Velber übernommen hat, erscheint die eher pädagogisch orientierte Zeitschrift "Spielen und lernen". Das Blatt mit einer Auflage von 160.000 Stück, lesen überwiegend Mittelschichtseltern sowie Erzieherinnen, Grundschullehrer und anderes Fachpersonal.
Für den Fall, dass das Interesse an den "Super-Mamas" im Fernsehen abflaut, hat die für RTL 2 produzierende Firma Constantin Entertainment (CE) schon das nächste publikumswirksame Sendeformat in Planung. Es geht um die inszenierte Erziehung verhaltensauffälliger Vierbeiner. Die tierischen Probleme, so CE-Chef Otto Steiner, reichen vom bissigen Hund bis zur inkontinenten Katze. Sollten die "Super-Frauchen" demnächst auf Sendung gehen, wäre das für Steiner nur folgerichtig. Haustiere, so gab er dem "Spiegel" ironisch zu Protokoll, "haben bei vielen hierzulande doch fast einen höheren Stellenwert als ihr Kind".