Interview mit dem früheren Arbeits- und Sozialminister Norbert Blüm
Das Parlament: Herr Blüm, die Arbeitslosigkeit in Deutschland befindet sich auf einem Rekordniveau. Haben Sie eine Idee für den Weg aus der Krise?
Norbert Blüm: Ja, die Leute wollen jeden Tag eine neue Idee - ob sie sich umsetzen lässt, spielt gar keine Rolle. Wir haben ein Feuerwerk an kreativen Ideen und das Ergebnis fällt wie Mehltau auf die Wirtschaft: Angst! Und Angst ist kein Wegbegleiter für Reformen. Dieses Klima der Verunsicherung ist das Ergebnis dieser geschwätzigen Politik. Wir leben im Zeitalter der "Besprecher", aber was gefragt ist, sind "Bearbeiter".
Das Parlament: Was sollen die denn konkret tun?
Norbert Blüm: Wir brauchen keine chinesischen Pinseltuschzeichnungen, sondern Holzschnitt und dazu gehört für mich ein einfaches Steuersystem, eines das nicht weiterhin die Großen begünstigt. Dabei meine ich vor allem ein einfaches System für den Mittelstand, denn der kleine Handwerksmeister kann nicht morgens um fünf Uhr aufstehen, um zu studieren, welche Hilfen er beantragen kann.
Das Parlament: Und die großen Konzerne?
Norbert Blüm: Wenn beschäftigungspolitische Besserung kommt, dann kommt sie, wie ein Blick in die letzten zehn Jahre beweist, nicht von den Großbetrieben. Für was brauchen wir also bitte die großen Kapitalgesellschaften? Die meisten schwimmen im Geld und entlassen trotzdem Leute. Das heißt doch, je höher der Gewinn, umso mehr Entlassungen. Oder vielleicht umgekehrt, je mehr Entlassungen, umso höher steigt der Kurswert. Eine solche Wirtschaft ist verrückt geworden.
Das Parlament: Das klingt nach Kapitalismuskritik. Geht der Maßnahmenkatalog à la Müntefering in die richtige Richtung?
Norbert Blüm: Papst Johannes Paul II. hat seine Kritik des Kapitalismus schärfer formuliert als Müntefering. Wenn Kostensenkung die bevorzugte Maxime der Globalisierung ist, gewinnt der, welcher am erfolgreichsten ausbeutet. Teppiche mit Kinderarbeit sind eben billiger als mit anständigem Lohn! Große Fondsgesellschaften haben mit dem Unternehmen als Personenverbund wenig am Hut. Es interessiert nur der Tageskurs der Börse. Verlässlichkeit adé! Es wird fusioniert und filetiert auf Teufel komm heraus.
Das Parlament: Sind gerade in dieser Diskussion nicht auch die Gewerkschaften gefragt?
Norbert Blüm: Die Gewerkschaften hätten verdient, dass anerkannt wird, wie vernünftig ihre Lohnpolitik in den letzten Jahren war. Ich sehe da eine große Bereitschaft zur Flexibilisierung. Man kann eigentlich nur warnen, jetzt an die Stelle der Tarifverträge Betriebstarife zu setzen. Das brächte eine Unberechenbarkeit in die deutsche Wirtschaft und eine große Störanfälligkeit. Wenn sie die Tarifautonomie aushebeln, dann folgt in der Konsequenz staatlicher Mindestlohn. Denn auch der Staat muss sich davor schützen, ausgebeutet zu werden. Hungerlöhne zwingen ihn, mit Fürsorge einzuspringen.
Das Parlament: Wie meinen Sie das?
Norbert Blüm: Wenn per Vereinbarung Hungerlöhne möglich sind, denn muss der Staat den Rest bis zur Existenzsicherung zahlen. Das können Sie in Amerika studieren. 50 Prozent der Führsorgeempfänger haben einen Job. Was lehrt mich das? Dass sie von ihrem Job alleine nicht leben können. Ein solches System ist übergeschnappt.
Das Parlament: Aber zurück zu den Betrieben. Beispiel Opel. War der Arbeitskampf bei dem Automobilhersteller ein Beispiel für ein sinnvolles Betriebsbündnis oder eines für den künstlichen Erhalt von nicht mehr konkurrenzfähigen Arbeitsplätzen?
Norbert Blüm: Opel ist für mich ein Lehrstück, ein Musterbeispiel, wohin eine Managementphilosophie führt, die nur an Kosten denkt. Und mehr Sachverstand als das Management der letzten 20 Jahre haben die Betriebsräte allemal - die hatten dort in 20 Jahren 15 Vorstandsvorsitzende. Aber gerade die Zugehörigkeit zum Unternehmen und die Motivation sind ganz wichtige Leistungsfaktoren und die haben die Kostensparer mit System vermasselt.
Das Parlament: Aber daran können doch auch die Gewerkschaften nicht ganz unbeteiligt gewesen sein. Was können sie in ihrer Strategie anders machen?
Norbert Blüm: Ich bin seit über 55 Jahren Gewerkschafter und bleibe es auch, obwohl ich in der IG Metall drei Ausschlussanträge zu überleben hatte. Ich denke, die Gewerkschaften brauchen Reformen. Die Strategie, je größer desto besser, ich fürchte, die war falsch. Die Gewerkschaften müssen näher am Betrieb sein. Und sie haben auch interne Strategiedifferenzen nicht überwunden. Zwischen IG Chemie und IG Metall klaffen zwei Welten. Das sehen die Gegner der Gewerkschaften mit Genuss.
Das Parlament: Wo können die Gewerkschaften ansetzen?
Norbert Blüm: Ich glaube, der Tarifvertrag kann noch intelligenter werden. Er muss den Menschen wieder Sicherheit bringen. Viele Tarifverträge werden durch Arbeitsverhältnisse unterlaufen, die überhaupt nicht mehr richtig geregelt sind. Es schwindet jede Sicherheit aus dem Arbeitsverhältnis mit weit reichenden und, wie ich glaube, kulturellen Folgen. Es ist bemerkenswert: Da haben wir Jahrtausende gebraucht, um sesshaft zu werden, und jetzt sollen wir wieder Nomaden werden.
Das Parlament: Aber steht da nicht Sicherheit contra Flexibiliät?
Norbert Blüm: Das halte ich für eine Phrase, mit Verlaub gesagt. Auf dem deutschen Arbeitsmarkt wechseln pro Jahr rund acht Millionen Arbeitnehmer den Arbeitsplatz. Und den Anhängern einer Beseitigung des Kündigungsschutzes, wünsche ich mal einen Besuch in einem amerikanischen Unternehmen. Da sagt am Freitagabend ein leitender Mitarbeiter "Auf Wiedersehen" und am Montagmorgen arbeitet er bei der Konkurrenz. Kündigungsschutz bedeutet doch nicht nur Sicherheit für den Arbeitnehmer, sondern auch für den Arbeitgeber. Die deutsche Stammbelegschaft ist ein Rückgrat für Zuverlässigkeit und Identifikation für den Betrieb. Wenn wir jetzt ein allgemeines Wander- und Nomadentum etablieren, fällt das alles weg.
Das Parlament: Ist dieser partnerschaftliche Gedanke in Zeiten immer härterer Konkurrenz nicht schon ein Relikt aus alter Zeit?
Norbert Blüm: Der partnerschaftliche Gedanke war die Alternative zum Klassenkampf und der Klassenkampf war die marxistische Therapie. Nun ist der Marxismus mit einem großem Knall zusammengebrochen, und jetzt schließen die Kapitalisten daraus, sie bräuchten ihr System nicht mehr durch soziale Verantwortung zu legitimieren. Solange es den Ost-West-Gegensatz gab, war der Sozialstaat ein Teil der Legitimationsbasis des westlichen Systems. Wir waren nicht nur wirtschaftlich erfolgreicher, sondern auch sozialer. Nachdem die Konkurrenz weggefallen ist, nehmen jetzt die "Chicago-Boys" (angebotsorientierte Ökonomen der Universität Chicago, Anm. d. Red.) an, das wäre jetzt ihre Stunde.
Das Parlament: Und sind die Gewinner der Globalisierung?
Norbert Blüm: Auch eine weltweite Politik ist auf ein Gleichgewicht der Kräfte angewiesen. Ich habe eben gesagt, die Gewerkschaften müssen näher am Betrieb sein und sie müssen zugleich globaler agieren. Da muss es eine Arbeitsteilung geben: Die Einzelgewerkschaften machen die betrieblichen Sachen und die nationale und internationale Politik macht der Dachverband des DGB. Aber diesen Spagat zu schaffen - einerseits Betriebsnähe, andererseits Weltweite - ist schwer.
Das Parlament: Wie sehen Sie die Chancen Ihre Ideen umzusetzen, zum Beispiel in Ihrer Partei?
Norbert Blüm: Im Moment ist das nicht gerade die Hochzeit für meine Ideen. Es ist eher eine neoliberale Zwischenphase. Das ist wie in einem Rausch: Wenn Du Dich besäufst, ist es sehr euphorisch. Aber anschließend kommt der Kater. Ich entdecke die Anzeichen des Katers schon weltweit. Die Leute haben kapiert, dass sie beschissen werden.
Das Parlament: Wird es Ihrer Meinung nach eine Art "Internationaler Revolution" geben?
Norbert Blüm: Ja, ob das eine Revolution ist - ich hoffe, kluge Leute werden die Gefahr rechtzeitig erkennen. Aber das neoliberale Muster Kostenkürzung-Kostensenkung-Deregulierung-Individualisierung-Flexibilisierung hält der Mensch nicht aus.
Das Parlament: Brauchen wir eine "neue" soziale Marktwirtschaft?
Norbert Blüm: Ich bin mit dem "neu" etwas sparsam. Eigentlich ist es die Besinnung auf die Ordnungsprinzipien der sozialen Marktwirtschaft, jetzt allerdings unter den Bedingungen einer globalen Wirtschaft. Im Grunde musst du da gar nichts Neues erfinden; du musst nur das, was erfolgreich war, in einem größeren Maßstab verwirklichen, unter anderen Bedingungen. Es wird kein Nationalstaat sein, der Rettung bringt. Die internationale Politik wird wichtiger und ein Ansatz ist Europa. Wenn dieses Europa nur ein Europa der Banken sein soll, dann wird es kein Europa, das Zukunft hat.
Das Parlament: Aber werden wir in Zukunft überhaupt noch genügend Arbeit haben?
Norbert Blüm: Es gibt dazu zwei Denkschulen: Die Arbeit geht uns wegen des technischen Fortschritts aus. Ich schließe mich aber der zweiten an: Angesichts einer Welt, in der 20 Prozent von 80 Prozent der Erdengüter leben, angesichts einer Welt, in der 600 Millionen Menschen kein Dach über dem Kopf und unzählige Menschen keine gesunde Wasserversorgung haben - da zu sagen, die Arbeit geht uns aus, das kann nur eine Verwechslung zwischen dem eigenen Nabel und dem Mittelpunkt der Welt sein. Wenn die armen Länder entwickelt werden, gibt es auch mehr Arbeit für die entwickelten Länder.
Das Parlament: Woher nehmen Sie Ihren Optimismus?
Norbert Blüm: Ich bin von Natur aus Optimist. Daran werden die ganzen Marketing-Spezialisten und Psycho-Experten nichts ändern. Die Natur des Menschen, sein Wesen, ist stärker. Dagegen kommt auf Dauer auch das Geld nicht an. Der Mensch will arbeiten, will sehen, was er macht; er will Freude haben, er will zugehörig sein, er verlangt nach Anerkennung. Kein Geld der Welt kann ihm diesen Hunger nach Anerkennung nehmen. Er will in seinem Betrieb anerkannt sein, er will zugehörig sein, er will "mein Betrieb" sagen. Er ist kein Sandkörnchen in einer flexiblen Welt von morgen.
Das Parlament: Herr Blüm, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Annette Sach
Annette Sach ist Redakteurin bei "Das Parlament".