Der Streit um die Mitbestimmung währt seit 150 Jahren
Was für ein Timing: Bei Opel zitterten tausende Menschen um ihren Job, und just in diesem Moment startete Michael Rogowski einen Generalangriff auf ein Heiligtum des deutschen Sozialstaats. Die Mitbestimmung sei nichts anderes als ein "Irrtum der Geschichte", wetterte der damalige Präsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie (BDI) im vergangenen Herbst. So befeuerte der streitbare Wirtschaftslobbyist einmal mehr die Debatte um die Macht von Gewerkschaftsfunktionären und Betriebsräten. Eine Diskussion mit guter deutscher Tradition: Seit über 150 Jahren ist die Mitbestimmung ein Dauerzankapfel. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts forderten die Arbeitnehmer mehr Mitsprache in den Betrieben. Nach einem gescheiterten politischen Vorstoß in der Frankfurter Nationalversammlung 1848 gelang in der Weimarer Republik endlich der entscheidende Durchbruch: Die regierenden Sozialdemokraten etablierten die Mitsprache der Arbeitnehmer bei wichtigen betrieblichen Fragen wie Entlassungen, Einstellungen, Arbeitszeit und Entlohnung.
Es war wie heute: Niemand war zufrieden, nicht die Unternehmer und auch nicht die Arbeiter. "Eine tief greifende Erregung, eine außerordentliche Unzufriedenheit mit der Partei und der Parteileitung" beobachtete der Vorsitzende Otto Wels. Die staatliche Demokratie muss durch die Demokratisierung der Wirtschaft flankiert werden - dieses Motto hatten sich Gewerkschaften und Sozialdemokratie Ende der 20er- Jahre auf die Fahnen geschrieben. Diese These wurde nach den schrecklichen Erfahrungen mit der Hitler-Diktatur besonders populär. Die Alliierten überlegten, wie die Machtstrukturen zerschlagen werden konnten, die zum Krieg geführt hatten. Alles kam auf den Prüfstand, insbesondere die private Macht über Maschinen und Fabriken galt als gefährlich.
So hatten die Gewerkschaften leichtes Spiel, ihre Hauptforderung durchzusetzen. Sie wollten in den Vorständen und Aufsichtsräten der Ruhrkonzerne vertreten sein, die von den Alliierten beschlagnahmt worden waren. Im Grundgesetz wurde das Sozialstaatsprinzip festgeschrieben. Es bedeutete, dass alles Handeln des Staates und der Wirtschaft auf sozialen Ausgleich und Teilhabe ausgerichtet sein sollte. Von nun an wurden Betriebsräte und Gewerkschaftsfunktionäre zu Mitherrschern im Wirtschaftsleben.
Ihr nächster Etappensieg gelang 1951: Die Gewerkschaften erkämpften das Montanmitbestimmungsgesetz für den Kohle- und Stahlbereich. Die Kernelemente: Die Belegschaftsvertreter stellen die Hälfte der Kontrolleure, ihr Votum zählt so viel wie das der Eigentümer und nur bei einem Patt entscheidet ein von beiden Seiten zu wählender "Neutraler". Außerdem wurde ein vom Vertrauen der Arbeitnehmervertreter abhängiger Arbeitsdirektor im Vorstand etabliert und die Position externer Gewerkschaftsvertreter auf der Arbeitnehmerbank gestärkt.
Nirgendwo in der westlichen Welt gab es einen solchen Ausgleich von Kapital und Arbeit. Als "Ersatz für die Sozialisierung" bezeichnete der damalige Wirtschaftsminister Karl Schiller (SPD) diese einzigartige Form der Mitbestimmung. Beim Betriebsverfassungsgesetz von 1952 konnten sich die Gewerkschaften allerdings nicht mehr derart stark durchsetzen. Nicht die Hälfte, sondern nur noch ein Drittel der Aufsichtsratssitze von Kapitalgesellschaften gehen an die Arbeitnehmerseite, schreibt das neue Gesetz vor. Kernelement ist jedoch die betriebliche Mitbestimmung: In Betrieben mit mindestens fünf Arbeitnehmern ist ein Betriebsrat vorgesehen, der hauptsächlich paritätische Rechte bei sozialen Fragen (zum Beispiel Arbeitszeit, Urlaub), schwächere Kontrollrechte bei personellen Fragen (etwa Einstellungen, Kündigungen) und sehr schwache Informations- und Beratungsrechte in wirtschaftlichen Fragen besitzt. Immer wieder wurde das Betriebsverfassungsgesetz unter unterschiedlichen Regierungskoalitionen novelliert, so 1972, 1989 und 2001, und immer mit einer Zielrichtung: Mehr Macht für die Betriebsräte.
Neuen Schwung in die Debatte über die Mitbestimmung im Aufsichtsrat brachte die Regierungsbeteiligung der SPD in der Großen Koalition der 60er-Jahre. Die von ihr eingesetzte "Biedenkopf-Kommission" provozierte einen langwierigen erbitterten Streit: Allein zwischen 1968 und 1973 - inzwischen war eine sozial-liberale Koalition an der Macht - wurden von unterschiedlichen Seiten über 50 Modelle und Modellvarianten für die Mitbestimmung präsentiert. Erst 1976 gelang ein Kompromiss, der klar die Handschrift der Freien Demokraten trug. Von nun an neigte sich die Waagschale der Mitbestimmung wieder ein kleines Stück in Richtung Kapital. Die Hauptelemente des Gesetzes: Für Unternehmen mit mehr als 2.000 Beschäftigten existiert kein "Neutraler" mehr im Aufsichtsrat, beim Patt erhält der Vorsitzende eine zusätzliche zweite Stimme. Da dieser in der Regel von der Kapitalseite gestellt wird, hat diese damit das Sagen. Aus dem Montanmodell wird der Arbeitsdirektor übernommen, er benötigt aber nicht mehr die Stimmen der Arbeitnehmervertreter.
Zwei weitere Punkte schwächen die Gewerkschaften: Auf der Arbeitnehmerbank nimmt von jetzt an ein leitender Angestellter Platz und die Zahl der externen Gewerkschaftsvertreter wird verringert.Auch diese Reform war mit Sicherheit nicht die letzte. Hitziger denn je wird in diesen Tagen die Debatte über die Mitbestimmung geführt. Das Wetteifern der Staaten um die besten Investitionsbedingungen und der Trend zu grenzüberschreitenden Firmenfusionen wirft täglich die Frage auf, wie die umstrittenste Institution der Deutschland AG umgebaut werden soll.
Das sieht auch Bundeskanzler Gerhard Schröder so. Er will das "Kernstück der deutschen Wirtschafts- und Sozialgesellschaft" reformieren. Bis Sommer 2006 soll eine Kommission Reformvorschläge erarbeiten. Die Debatte verspricht spannend zu werden. Schließlich steht an der Spitze der Kommission ein ganz alter Hase der Mitbestimmung, der schon einmal für ordentlich Wirbel sorgte: Kurt Biedenkopf, der schon bei der Reform von 1976 Pate gestanden hat.
Michaela Hoffmann ist Parlamentskorrespondentin für die
"Wirtschaftswoche" in Berlin.