Europäische Gewerkschaftspolitik
Das Transparent hinter Heiko Glawes Schreibtisch verheißt den Aufbruch in europäische Zeiten: Auf weißem Tuch prangen rot die Symbole des DGB Berlin-Brandenburg und der Solidarnosc aus den polnischen Bezirken Zielona Góra und Gorzów, vereint im Interregionalen Gewerkschaftsrat (IGR) namens Viadrina. Das bisherige "Highlight" dieser Kooperation: Als eine hiesige Metallfirma jenseits der Oder eine Niederlassung gründen und den dortigen Arbeitern Niedriglöhne aufdrücken wollte, mobilisierten Solidarnosc-Aktivisten über IGR-Kanäle die IG Metall. Die setzte im deutschen Mutterbetrieb dann Verbesserungen für die Kollegen in Polen durch. Glawe: "Diese erfolgreiche Aktion lief völlig ungeplant". Nur über kleine pragmatische Schritte dieser Art könne sich eine europäische Gewerkschaftsarbeit entwickeln, sagt er.
Zu diesem Lernprozess gehören auch Überraschungen und Hindernisse. Zum Beispiel Sprachhürden: Ohne Übersetzungen geht es nicht, deshalb sorgen drei bilinguale Polinnen von der gewerkschaftlichen Kontaktstelle der Uni Frankfurt/Oder bei IGR-Sitzungen für die Verständigung.
Die Globalisierung, die europaweite Standortkonkurrenz, der Druck auf Löhne und Sozialstandards, all das macht eine gemeinsame Politik der Arbeitnehmerorganisationen dringender denn je. Die vom Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB), einem Dachverband mit 77 Assoziationen aus 35 Ländern, in Brüssel ausgerichtete Manifestation mit 80.000 Teilnehmern gegen die EU-Dienstleistungsrichtlinie kann durchaus als Beleg für Kampfkraft gelten.
Gleichwohl sieht Wolfgang Lutterbach, beim DGB-Bundesvorstand für Internationales zuständig, trotz aller Fortschritte das Fernziel einer europäischen Tarifpolitik "jenseits des Horizonts". Im Alltag sind nicht nur unterschiedliche politische Richtungen auf einen Nenner zu bringen, auch Sprachhindernisse und kulturelle Gräben spielen eine Rolle - differierende Traditionen und Kampfstile, auseinanderklaffende Unternehmensverfassungen und Mitbestimmungsmodelle.
In Polen beispielsweise, das macht Deutsche perplex, existieren an die 5.000 meist kleine Gewerkschaften, manchmal 20 bis 30 allein in einem Betrieb.
Als institutionalisierte Formen der Zusammenarbeit haben sich der EGB, die 49 IGR an den EU-Binnengrenzen und die 750 Euro-Betriebsräte (EBR) bei multinationalen Firmen herausgebildet. Der EBR von General Motors (GM) steht im Ruf, besonders schlagkräftig zu sein. Das erwähnt dessen Vorsitzender Klaus Franz, Betriebsratschef von Opel in Rüsselsheim, gern: "Ohne den EBR läuft bei GM nichts." Doch Franz weiß auch, dass es "bis zu acht Jahre mit persönlicher Vertrauensbildung und interkultureller Arbeit dauern kann, bis ein Euro-Betriebsrat rund läuft".
Bei General Motors sitzen Belegschaftsvertreter aus 17 Staaten im EBR, die Meetings samt Übersetzungen in acht Sprachen werden von einem speziellen Team gemanagt. Der Opelaner spricht von der Notwendigkeit "authentischer Kommunikation", von "Ehrlichkeit und Offenheit": So müssten die Deutschen, die konzerninterne Geschäftsinformationen aufgrund der in vielen anderen Ländern unbekannten Mitbestimmung erhalten, die Kollegen an ihrem Kenntnisstand teilhaben lassen.
Werner Altmeyer von der Trainings- und Beratungseinrichtung "euro-betriebsrat.de" in Hamburg hat beobachtet, dass nicht nur Übersetzungsprozeduren die Arbeit in den EBR hemmen. So würden deutsche Gewerkschafter, an Mitbestimmung und an Tarifverhandlungen mit Streik als letztem Mittel gewohnt, die Konfrontation mit dem französischen Wirtschaftsmodell oft als "Kulturschock" erleben. Links des Rheins hat in Unternehmen der "patron" das Sagen. Kontrahenten in den Firmen sind nicht die zahnlosen Betriebsräte, sondern die Gewerkschaften - und die werden als Verhandlungspartner erst über ihre Streikpower ernstgenommen.
Altmeyer berichtet von einem Stahlkonzern, der in Deutschland wie Frankreich Standorte schließt: Während im EBR die Deutschen sofort über Sozialpläne und Beschäftigungsgesellschaften verhandeln wollen, suchen die französischen Kollegen erst einmal den offenen Machtkampf. Altmeyer: "Solche Differenzen erfordern komplizierte Strategiedebatten."
Als "Profis", die internationalen Interessenvertretern der Arbeitgeber "auf gleicher Augenhöhe entgegentreten", lobt DGB-Experte Lutterbach die EGB-Truppe. Und Vize-Generalsekretär Reiner Hoffmann meint, dass die Organisation internationaler Demons-trationen "inzwischen als Routine eingespielt" sei. Schon mischten in Brüssel sprachgewandte und wissenschaftlich versierte Gewerkschafter im Dschungel der EU-Politik kräftig mit.
Der EGB-Vize meint: Unter dem Druck von Globalisierung und EU-Integration werden sich die nationalen Gewerkschaften trotz aller Reibungsverluste politisch und kulturell annähern. "Da findet eine Entideologisierung statt, und auch die Kampfformen gleichen sich an." Allerdings meint Hoffmann, dass es "noch ein bis zwei Generationen" dauern werde, bis von der Gewerkschaftsbasis her eine echte gemeinsame Erfahrungs- und Kampfwelt entsteht. Der EGB will nachhelfen und hat in Brüssel schon mal eine internationale Gewerkschaftsakademie für Funktionäre, Betriebsräte und "einfache" Mitglieder aufgebaut.
Karl Otto Sattler arbeitet als freier Journalist in Berlin.