Flexible Lohnmodelle sollen die Produktivität erhöhen
Eines ist schon mal klar: Die Entwicklung hin zu völlig neuen Formen der Entlohnung von Arbeitnehmern ist nicht mehr aufzuhalten. Unklar ist hingegen, wer maßgeblich über die Ausgestaltung dieser neuen Art der Bezahlung entscheiden wird - die Arbeitgeber oder die Gewerkschaften. Und welche Rolle spielt die Politik? Auf jeden Fall hat die Entwicklung einen Namen: Flexibilität.
Am deutlichsten bringt FDP-Chef Guido Westerwelle auf den Punkt, wohin die Reise gehen soll. "Die Funktionärskaste der Gewerkschaft ist der Hemm-schuh für den Aufschwung in Deutschland - und des-halb gehört sie entmachtet." Will sagen: Es kann auf betrieblicher Ebene gar nicht genügend Flexibilität geben. "Die Arbeitnehmer selbst wissen am besten, was gut für ihre Arbeitsplätze ist", so Westerwelles Argumentation. "Wenn 75 Prozent einer Belegschaft sich mit der Firmenführung auf etwas in geheimer Abstimmung einigt, soll das gelten dürfen, ohne dass es von wirklichkeitsfremden Funktionären verhindert wird."
Solche Angriffe auf den Flächentarifvertrag, der auf dem Prinzip "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" beruht, lässt die gescholtene "Funktionärskaste" nicht auf sich sitzen. Jürgen Peters, Chef der IG Metall, sagte unlängst: "Sollten immer mehr Unternehmen versuchen, die Beschäftigten durch unnötige Abweichungen vom Tarifvertrag unter Druck zu setzen, dann wird die IG Metall den Tarifkonflikt unmittelbar vor Ort in dem betreffenden Betrieb führen." Eine Kampfansage an die Friedenspflicht, die nach Abschluss eines Tarifvertrages in einer Branche gilt und von der natürlich auch die Arbeitgeber profitieren. Peters: "Die IG Metall hat keine Angst, wenn die Arbeitgeber mit der Erosion der Flächentarifverträge drohen!"
Nichts weiter als zwei verbale Rauhbeine? Nein. Worum es hier vordergründig geht, sind so genannte Öffnungsklauseln. Sie erlauben es dem Arbeitgeber - übrigens auch unter Mitsprache der jeweiligen Ge-werkschaft und des Betriebsrates - zur Rettung des Unternehmens, also auch von Arbeitsplätzen, vom Tarifvertrag abzuweichen und unbezahlte Mehrarbeit und Kürzungen bei Weihnachts- und Urlaubsgeld durchzusetzen. Doch mit den besonders im Osten Deutschlands immer beliebter werdenden Öffnungs-klauseln sind die Möglichkeiten einer flexibleren Ent-lohnung noch lange nicht erschöpft.
"Deutschland steht bei der Entwicklung variabler Vergütungen noch ganz am Anfang", sagt Robert Reichling, Leiter der Abteilung Lohn- und Tarifpolitik bei der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) in Berlin. Die BDA schlägt vor, sich abzuwenden von einer Vergütung nach Lebensalter und Betriebszugehörigkeit und befürwortet stattdessen das so genannte Drei-Säulen-Modell. Das Gehalt sollte sich demnach zusammensetzen aus erstens einem zwischen den Tarifparteien ausgehandelten Grundentgelt, zweitens einem leistungsorientierten Entgelt, das mittels einer Zielvereinbarung zwischen Arbeitgeber und -nehmer sowie einer Leistungsbeurteilung durch den Vorgesetzten ermittelt wird, und drittens einem ertragsabhängigen Bestandteil, der sich nach den Gewinnen des jeweiligen Unternehmens richtet. Nach den Überlegungen könnte der variable Bestandteil des Gehalts (Säulen zwei und drei) mittelfristig bei etwa 20 Prozent liegen.
Die Arbeitgeberseite verspricht sich von solch einer leistungs- und ertragsabhängigen Entlohnung gleich mehrere Vorteile. Da der Beschäftigte seinen Lohn durch einen intensiveren Arbeitseinsatz erhöhen könne, dürfte sich eine variable Vergütung positiv auf die Produktivität und Arbeitsleistung des einzelnen Arbeitnehmers auswirken. Neben dieser höheren Motivation und Leistungsbereitschaft könnten auch weniger Fehlzeiten, weniger Fluktuation, eine stärkere Identifikation mit dem Unternehmen sowie weniger betriebsinterne Konflikte zwischen Betriebsleitung und Belegschaft die Folge sein. Zudem könnte eine Erfolgsbeteiligung dazu führen, dass sich die Arbeitnehmer wechselseitig stärker kontrollieren. Wissenschaftler, wie Hagen Lesch vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW), schätzen die Produktivitätssteigerung allein durch erfolgsabhängige Bezahlung auf drei bis acht Prozent. Besonders wichtig ist für die Unternehmer, dass sie mit einem leistungs- und erfolgsorientierten System schneller auf Veränderungen am Markt reagieren können. Das heißt, sie könnten sich trotz eines bestehenden Flächentarifvertrags relativ flexibel an regionale oder konjunkturelle Veränderungen anpassen, also in Krisenzeiten ohne großen Aufwand weniger zahlen.
Das Drei-Säulen-Modell der variablen Vergütung hat allerdings einen entscheidenden Haken. "Dieses Modell im Betrieb zu installieren und zu organisieren, ist sehr arbeitsaufwändig", gesteht BDA-Mann Reichling ein. Besonders mittelständische Unternehmen seien nicht gerade "wild darauf, die variable Vergütung eins zu eins umzusetzen". Ihnen reichten häufig schon Öffnungs- und Härtefallklauseln. Für den Tarifexperten immerhin "ein Schritt in die richtige Richtung".
Dabei sind flexible Entgeltregelungen schon wesentlich weiter fortgeschritten, als es die Worte des Arbeitgebervertreters suggerieren. Längst nicht mehr nur in der beinahe gewerkschaftsfreien IT-Branche wird mit variablen Vergütungssystemen gearbeitet. Drei Beispiele: In Abhängigkeit vom Unternehmenserfolg können im privaten Bankgewerbe auf Unternehmensebene Sonderzahlungen innerhalb einer Bandbreite von 91 bis 118 Prozent eines Monatsgehalts vereinbart werden. Zusätzlich können ebenfalls aufgrund freiwilliger Vereinbarungen ab September dieses Jahres 7,5 Prozent der Jahres-Tarifgehälter nach individuellen oder teambezogenen Leistungskriterien ausgezahlt werden.
Bei der Deutschen Telekom AG richtet sich das ergebnisbezogene Entgelt der Arbeitnehmer nach einer Zielvereinbarung zwischen Aufsichtsrat und Vorstand. Bei der individuellen, leistungsbezogenen Komponente beurteilt der Vorgesetzte unter anderem Kundenorientierung, Verhalten im sozialen Kontext, persönlichen Einsatz, Effizienz und unter Umständen die Mitarbeiterführung. Bewertet wird nach einer Punkteskala von Null bis Vier.
Im öffentlichen Dienst Nordrhein-Westfalens erhalten Arbeitnehmer für besondere Leistungen wie etwa die Verbesserung der Wirtschaftlichkeit, der Dienstleistungsqualität, der Kundenorientierung und der Kostendeckung, einen einmaligen Betrag von maximal zehn Prozent des Jahreseinkommens. Das zur Verfügung stehende Volumen bemisst sich nach der Höhe der Einnahmesteigerung oder der Ausgabenreduzierung. Die Entscheidung trifft eine jeweils zur Hälfte aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern zusammengesetzte Kommission.
Obwohl die Tarifparteien an all diesen Modellen aktiv mitgewirkt haben, stößt Flexibilisierung auf Seiten der Arbeitnehmervertreter nicht auf ungeteilte Begeis-terung. Bei einer Befragung von Betriebsräten großer Unternehmen vor wenigen Jahren überwog die Angst, dass sich die Arbeitnehmer bei zunehmender variabler Vergütung mit ihren Einkommen eher nach unten bewegen. Die neuesten Zahlen des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung scheinen dies zu belegen: Im Vergleich zu 1991 ist das reale Bruttoinlandsprodukt (preisbereinigt) um 18 Prozentpunkte gestiegen, während die realen Nettolöhne und -gehälter um 1,5 Prozentpunkte gesunken sind.
Mehr Flexibilität wird von den befragten Betriebsräten oftmals auch mit zunehmendem Leistungsdruck gleichgesetzt. Außerdem fällt es den Arbeitnehmern offenbar schwer einzusehen, warum die Beschäftigten neben ihrem Risiko entlassen zu werden, bei einer ertragsabhängigen Bezahlung nun auch noch das Risiko falscher Management-Entscheidungen tragen müssen. Letztlich, so zeigt sich, geht es offensichtlich eben nicht um die eigene Motivation und mehr Spaß an der Arbeit, sondern um Verteilungsspielräume.
Das ist bei unseren europäischen Nachbarn nicht anders. Wohl aber der Stand der Flexibilisierung. Wie eine vergleichende Studie des "European Industrial Relations Observatory" (EIRO) offen gelegt hat, liegt Deutschland bei der Höhe der variablen Lohnbestandteile am Gesamtentgelt im guten Mittelfeld. Der Anteil beträgt hier zu Lande fünf bis 27 Prozent. Zum Vergleich: In Österreich sind fünf bis 15 Prozent des Gehalts in der Industrie variabel, 30 Prozent in der "New Economy"; in Finnland beträgt dieser Satz durchschnittlich fünf Prozent; in Frankreich, obwohl dort die Gewinnbeteiligung gesetzlich vorgeschrieben ist, 8,2 Prozent; in den Niederlanden zehn bis 15 Prozent; in Norwegen knapp zehn Prozent; in Spanien zehn bis 20 Prozent. In Großbritannien sind es drei bis fünf Prozent bei leistungsbezogener Vergütung und fünf bis neun Prozent bei erfolgsorientierter Vergütung; Schweden kommt auf einen Durchschnitt von 25 Prozent.
Wohin nun also tatsächlich die Reise in Europa und damit letztlich auch in Deutschland führt, ist noch offen. Dass die "Funktionärskaste" komplett entmachtet wird oder Tarifauseinandersetzungen - begleitet von unkalkulierbaren Streiks bei "widerspenstigen" Unternehmern - ausschließlich in den jeweils betroffenen Betrieben ausgefochten werden, darf als unwahrscheinlich gelten. Dafür haben Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter einfach zu lange positive Erfahrungen mit der Tarifautonomie gesammelt.
Bundeskanzler Gerhard Schröder will nun eine Kommission mit der Ausarbeitung von Reformvorschlägen zur Mitbestimmung beauftragen. Den Vorsitz dieser Kommission soll der CDU-Politiker Kurt Biedenkopf übernehmen. Ein Mann, der eher für Ausgleich als für eine bedingungslos neoliberale Politik steht.
Die Gewerkschaften müssen dennoch aufpassen, dass ihnen die Themen Tarifautonomie und Mitbestimmung nicht aus der Hand genommen werden. Denn die Forderung nach mehr Flexibilisierung - und nach grundlegenden Reformen - ist bislang noch immer von der Arbeitgeberseite ausgegangen.
Martin Teschke arbeitet als freier Journalist in Berlin.