Der Streit zwischen BDI und BDA
Breite Straße 29, 10178 Berlin: Diese Adresse teilen sich die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK). Einträchtig residieren die drei Spitzenverbände im Haus der Deutschen Wirtschaft nebeneinander. Doch wenn es um die Tarifautonomie geht, ist es mit der friedlichen Koexistenz rasch vorbei.
Immer wieder überziehen die "Falken" des BDI die "Tauben" der BDA mit harschester Kritik: Die Tarifparteien seien ihrer arbeitsmarktpolitischen Verantwortung "in den letzten Jahrzehnten nicht im notwendigen Maß gerecht geworden", urteilt der Industrie- über den Arbeitgeberverband. Die Tarifabschlüsse seien erstens zu hoch und gäben zweitens den Betriebsparteien nicht genug Flexibilität, um bestehende Arbeitsplätze zu erhalten und neue zu schaffen, rügt der BDI, der selbst nicht am Verhandlungstisch sitzt und daher klare Worte bis hin zur gezielten Provokation nicht zu scheuen braucht. Die bisher polemischs-te Schmähung nahm sich Ex-Präsident Michael Rogowski heraus, als er im Oktober 2003 vor der amerikanischen Handelskammer in Stuttgart verkündete: "Ich wünsche mir manchmal ein großes Lagerfeuer, um das Betriebsverfassungsgesetz und die Tarifverträge hineinzuwerfen. Danach könnte man einfach wieder von vorn anfangen." Als Verfechter einer radikalen Tariföffnung nimmt der BDI weder Rücksicht auf die Reaktion der Gewerkschaften noch auf die Befindlichkeiten des Schwesterverbandes BDA. Er ist sogar bereit, die vom Grundgesetz garantierte Tarifautonomie insgesamt zur Disposition zu stellen, falls diese ihren Zweck, für Vollbeschäftigung zu sorgen, nicht mehr erfüllt. Zwar seien zunächst die Tarifvertragsparteien "in der Pflicht, durch tarifvertragliche Öffnungsklauseln den betrieblichen Gestaltungsspielraum zu erweitern". Doch sollte dies "nicht im notwendigen Umfang zum Erfolg führen, ist der Gesetzgeber gefordert".
Die BDA teilt diese Position ausdrücklich nicht, und dass die Verfechter einer unkonditionierten Tariföffnung so viel öffentliche Aufmerksamkeit finden, schmerzt die Arbeitgeber - nicht nur aus Eitelkeit, sondern weil sie von der Richtigkeit ihres Kurses überzeugt sind. Zwar plädieren auch sie für eine stärkere Dezentralisierung, auch sie wollen den Geschäftsführungen, Betriebsräten und Belegschaften mehr Mitsprache- und Entscheidungsmöglichkeiten einräumen, doch möchten sie gerne die Zügel in der Hand behalten und sich ihr Vetorecht nicht nehmen lassen. "Kontrollierte Dezentralisierung" lautet daher das Stichwort: Vom Flächentarifvertrag abweichende betriebliche Vereinbarungen über Löhne und Arbeitszeiten sollen zulässig sein, aber nicht durch eine generelle Ermächtigung des Gesetzgebers, sondern nur innerhalb des Rahmens, den die Verbände den Betriebsparteien vorgeben.
Die Arbeitgeber fürchten nämlich, dass die Lohnfindung außer Kontrolle geraten könnte, wenn sie zu stark dezentralisiert würde. Zuviel Macht in den Händen der Betriebsräte weckt bei ihnen ungute Erinnerungen an die Warnstreiks der Pilotenvereinigung Cockpit oder der Eisenbahner. Nach dem gleichen Muster könnten auch die Mitarbeiter anderer sensibler Einrichtungen - von Rechenzentren bis zur Flughafenfeuerwehr - für sich Sonderkonditionen erstreiken, fürchten die Arbeitgeber. Eine "Balkanisierung der Tarifpolitik" und höhere Lohnsteigerungen wären die Folge. Diese Entwicklung könnte noch durch den Umstand verschärft werden, dass im Jahr 2006 wieder Betriebsratswahlen anstehen, was die Begehrlichkeit und die Kampfeslust der Belegschaftsvertreter zusätzlich in die Höhe treiben dürfte. Daher wollen die Arbeitgeber die Betriebsparteien lieber an der langen Leine führen.
Das ist auch im Interesse der Gewerkschaften, die am liebsten alle Unternehmen unter den Flächentarif zwingen und nur ungern Einfluss an die Betriebsräte abgeben möchten. Zudem wären die vielen "Häuserkämpfe" nur mit hohem Verwaltungs- und Personalaufwand zu koordinieren. Sogar den Betriebsräten selbst kommt das Mitspracherecht der Gewerkschaft bisweilen gelegen; in Notlagen können sie dann die Verantwortung für unpopuläre Maßnahmen den hauptamtlichen Funktionären in die Schuhe schieben. Es überrascht daher nicht, dass das Kartell der Sozialpartner im Vermittlungsverfahren im Dezember 2003 erfolgreich die von der Opposition geforderte gesetzliche Öffnung der Flächentarifverträge verhindert hat.
Auch tarifliche Öffnungsklauseln lassen sich die Gewerkschaften nur widerstrebend abhandeln. Ohne Druck von außen geht meist gar nichts. Doch mittlerweile weisen die Tarifverträge eine Vielzahl von Öffnungsmöglichkeiten auf. Das größte Spektrum bietet die chemische Industrie. Hier hat die IG Bergbau-Chemie-Energie (IG BCE) unter anderem einer ergebnisabhängigen Schwankung des Weihnachtsgeldes zwischen 80 und 125 Prozent eines Monatsgehalts zugestimmt, Lohnkürzungen von zehn Prozent zum Erhalt von Arbeitsplätzen und Wettbewerbsfähigkeit gestattet sowie Berufsanfängern und Langzeitarbeitslosen abgesenkte Einstiegstarife von 95 und 90 Prozent zugestanden. Die IG Metall geht zögerlicher ans Werk. Wurden in früheren Jahren Abweichungen vom Flächentarif nur in Sanierungsfällen zur Beschäftigungssicherung zugelassen, so ist seit dem Abschluss von Pforzheim in der Metall- und Elektroindustrie eine Tariföffnung immerhin auch zum Erhalt und zur Verbesserung "der Innovationsfähigkeit und der Investitionsbedingungen" möglich. Durch eine besondere Tariföffnung hat auch die Bauwirtschaft schon von sich reden gemacht. Zwar betrifft diese nur das Weihnachtsgeld, das auf einen Mindestbetrag gesenkt werden kann. Doch stellt die IG Bauen-Agrar-Umwelt (IG Bau) hierfür keine Bedingungen, sondern lässt den Betriebsparteien freie Hand.
Nico Fickinger ist Redakteur der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung"
in Berlin.