Die digitale Demokratie im Nordosten Europas
Tradition und Moderne liegen in dem Land im Nordosten Europas dicht beieinander. Die Hauptstadt Tallinn ist berühmt für ihr gut erhaltenes mittelalterliches Zentrum. Gleichzeitig gehört Estland zu den modernsten Staaten Europas: 89 Prozent der Menschen hier besitzen ein Handy, die Parkgebühren können per SMS beglichen werden. Jedem Bürger wird per Gesetz der freie Zugang zum Internet garantiert. Die meisten geben bereits ihre Steuererklärung online ab, bestätigt wird das per digitaler Signatur. In Estland ist Alltag, was es in Deutschland bisher nur in Ansätzen gibt: E-Government gehört zum täglichen Leben. E-Government bezeichnet die elektronische Abwicklung der Geschäftsprozesse von Verwaltung und Regierung. Übers Internet werden dem Bürger täglich 24 Stunden Dienstleistungen angeboten, die lästige Behördengänge vermeiden. Aber auch die Regierungsstellen selbst können untereinander vernetzt schneller arbeiten.
Schneller, effektiver, transparenter und günstiger - das sind die Schlagwörter, die zu E-Government immer wieder zu hören sind. Stimmt das auch? "Auf jeden Fall", sagt Aivar Rahno. "Durch unsere E-Kabinettssitzungen sparen wir pro Jahr fast 200.000 Euro an Papier- und Kopierkosten." Rahno ist Direktor der Abteilung Regierungssitzungen im Stenbock Haus. Er bereitet die Sitzungen vor und kümmert sich darum, dass die Technik funktioniert.
Jeden Dienstag treffen sich der Premier und seine 13 Minister zu den E-Kabinettssitzungen, um zum Beispiel über neue Gesetzesentwürfe zu diskutieren. Im internen Computersystem sind alle Dokumente hinterlegt, meist haben die Minister vorab schon ihre Kommentare dazu verfasst. So ist jeder genau informiert - lange, zeitraubende Diskussionen finden kaum noch statt. Abgestimmt wird per Mausklick. "Ist ein Minister gerade im Ausland, kann er dennoch per Laptop an der Sitzung teilnehmen", erzählt Aivar Rahno. Die Registrierung erfolgt mit der ID-Card, die in den Laptop geschoben wird und so auch die digitale Signatur ermöglicht.
Die Ergebnisse der Kabinettsbeschlüsse werden - wie alle anderen öffentlichen Dokumente - im Internet bereitgestellt. Jeder Bürger soll die Chance haben, sich über die politischen Entscheidungen zu informieren. Und nicht nur das: Auch Gesetzesentwürfe werden öffentlich zugänglich gemacht. Auf der Internetplattform "Täna Otsustan Mina" - was so viel wie "Heute entscheide ich" heißt - können Bürger zu den Entwürfen Stellung nehmen und Verbesserungsvorschläge abgeben. Stimmt einer Anregung eine gewisse Zahl der Online-Nutzer zu, wird sie an die zuständige Behörde weitergeleitet. Im Schnitt fließen auf diesem Weg etwa fünf Prozent aller Ideen in Gesetzesvorlagen ein.
E-Government in Estland soll nicht nur im Haus des Premiers oder im Parlament stattfinden, sondern auch tatsächlich von allen Esten praktiziert werden. Damit alle sich daran beteiligen können, wird der Umgang mit Computer und Internet trainiert. So sind seit 2000 alle Schulen des Landes vernetzt, am Fortbildungsprogramm "Look @ the World" haben bisher 100.000 Esten teilgenommen - von insgesamt 1,4 Millionen Einwohnern. Auch in strukturell schwächeren Regionen soll sich jeder jederzeit informieren können, deshalb gibt es über das ganze Land verteilt rund 700 öffentliche Internetpunkte - sie befinden sich zum Beispiel in Bibliotheken. Die Orte zu finden ist auch nicht schwer, am Straßenrand stehen große Hinweisschilder.
Die Esten, die ihr Land selbst gern als E-Estland bezeichnen, haben in den vergangenen Jahren eine erstaunliche Karriere hingelegt: von der unterdrückten Nation zur Informationsgesellschaft. Nach dem Ende der Sowjetherrschaft 1991 musste das kleine Land bei Null anfangen. Denn damals gab es in Estland keine richtige Infrastruktur: Sowohl, was das Bankwesen betrifft als auch die Telekommunikation. Man setzte ganz auf die moderne Kommunikationstechnik. Vorbild und Förderer waren die Skandinavier, die ihren Nachbarn auch beim Aufbau der Infrastruktur halfen.
Besonders die Finnen und die Esten verbindet eine enge Freundschaft. Schließlich sind beide Sprachen finno-ugrischer Abstammung, selbst die Melodie der Nationalhymnen ist identisch. Natürlich investierten die Finnen nicht völlig uneigennützig: Bei den Nachbarn im Baltikum kann auch günstiger produziert werden. Nokia etwa lässt Teile seiner elektronischen Produkte in Estland herstellen.
Gerade mal 80 Kilometer ist Helsinki von Tallinn entfernt. Vom Balkon des Kabinettssaales im Stenbock Haus aus hat man einen guten Blick über die Stadt und auf das Westmeer - wie die Ostsee hier genannt wird. Der Sitz des Premiers liegt hoch oben auf dem Domberg, inmitten der Altstadt mit ihren engen Gassen. Einige Restaurants werben mit der alten Hanse, die Kellner tragen Mittelalterkostüme. Die Tradition bringt Devisen, die Moderne ist direkt um die Ecke in Cafés wie "Wayne's Coffee Shop".
Wie in den meisten estnischen Cafés gibt es auch hier kabellose Internet-Zugänge (Wireless LAN). Es ist Mittagszeit. Anstatt beim Kaffee trinken in der Zeitung zu blättern, sitzen etliche Gäste an ihren Laptops. So auch Ivar Tallo, Direktor der estnischen e-Governance Academy. Er nutzt die Mittagspause, um ein paar Überweisungen zu machen. OnlineBanking ist seit Jahren Standard, ebenso die Steuererklärung via Internet abzugeben. Das estnische Steuersystem ist sehr einfach, alle wichtigen Daten sind ohnehin automatisch im Netz gespeichert, der Bürger muss nur noch zustimmen oder Fehlendes ergänzen. 2004 gaben 76 Prozent der Esten ihre Steuererklärung online ab.
In den geschützten Bereich kommt der User mit seiner elektronischen ID-Card. "Die ID-Karte ersetzt bei uns in vielen Bereichen auch schon den Personalausweis", sagt Tallo. Drei Jahre nach Einführung besitzen über 700.000 Esten so eine Karte.
Es sei der richtige Mix aus privaten und öffentlichen Initiativen, der Estland so schnell den Sprung in die Informationsgesellschaft ermöglicht habe, erzählt E-Government-Experte Tallo. 2007 könnte das neue EU-Mitglied die erste Nation sein, in der die Bürger bei landesweiten Wahlen ihre Stimme übers Internet abgeben. Doch beim Thema E-Voting gibt es sogar bei den High-Tech-Esten Vorbehalte. Besonders die konservativen Parteien befürchten, dass ihre Stammwähler, die eher älter sind, dann nicht mehr zur Wahl gehen. "Selbst wenn 2007 das E-Voting eingeführt wird, kann jeder Bürger ganz normal zur Wahlurne gehen", sagt Ivar Tallo. "Das ist ja auch das Tolle an der modernen Technologie: Man hat mehrere Möglichkeiten."
Zwar nutzt nicht jeder Bürger alle Möglichkeiten, die die moderne Technik mit sich bringt, doch für viele sind die Angebote einfach praktisch. So auch für Liisa-Lota Kaivo und ihren Mann Priit Jagomägi. Das junge Ehepaar lebt in Tartu, der Universitätsstadt. Sie sind das, was man in Deutschland als Ökos bezeichnen würde. Ihr altes Holzhaus haben sie ausschließlich mit natürlichen Materialien renoviert, sie verarbeiten Schafwolle - und bauen mit EU-Hilfe ein traditionelles, estnisches Boot nach. Lodi heißen die alten Schleppkähne, die früher typisch für die Region waren.
Auch wenn das junge Ehepaar zu Hause keinen Fernseher hat, sind sie doch online. Selbst in der kleinen Werkstatt am Fluss Emajõgi können sie drahtlos im Internet surfen, von hier aus aktualisieren sie ihre eigene Website "www.lodi.ee". "Bald wollen wir eine Webcam in der Werkstatt installieren, damit Interessierte jeden Tag mitverfolgen können, wie der Bau des Bootes voranschreitet", sagt die 27-jährige Liisa-Lota. Ende Juni - zum traditionellen Hansefest - soll das Lodi vom Stapel laufen.
Zum Hansefest lassen viele Esten das moderne Leben für ein paar Tage auf sich beruhen. Dann holen sie ihre alten Folklore-Trachten heraus, singen estnische Lieder, tanzen und trinken Bier. Folklorefeste werden in dem kleinen Land nicht nur von ein paar Freaks gefeiert, sie sind Teil einer Identität, die trotz der vielen Besatzer erhalten geblieben ist - ebenso wie die Sprache. Und sollte den Esten während des fröhlichen Feierns wider Erwarten dann doch mal das Geld ausgehen, können sie ihr Bier ja auch bequem per SMS bezahlen.