Ein Buch des diesjährigen Friedenspreisträgers Orhan Pamuk
Eine aus Schnee und Eis versiegelte Welt, Ruinen von Kirchen, leerstehende armenische Herrenhäuser, bröckelnde osmanische Prachtbauten - dazwischen ein melancholischer Held namens Ka. Der Dichter kehrt nach zwölf unglücklichen Jahren im deutschen Exil zur Beerdigung seiner Mutter nach Istanbul zurück. Im Auftrag einer Zeitung fährt er anschließend weiter nach Kars - eine heruntergekommene südanatolische Provinzstadt. Er soll über eine Welle von jungen Selbstmörderinnen und die anstehenden Lokalwahlen berichten. Doch was gradlinig und klar beginnt, wird bald zu einem weitverzweigten Verwirrspiel. Zwischen kurdischen Nationalisten, frömmelnden Islamisten und korrupten Politikern verliert der verträumte Linke Ka rasch seine Überzeugungen und Gewissheiten.
In dieser eingeschneiten Provinz verankert Orhan Pamuk seinen siebten Roman. Der 53-jährige Autor, der in diesem Jahr den Friedenpreis des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels erhält, gehört zu den wichtigsten Autoren der Türkei. Seit Jahren wird er als Nobelpreiskandidat gehandelt. Seine Bücher sind in über 36 Sprachen übersetzt. "Schnee" wurde erst kürzlich von John Updike im "New Yorker" bejubelt und von Margaret Atwood in der "New York Times" zur Pflichtlektüre der Buchsaison erklärt.
Die Hochachtung, die Pamuk im Ausland genießt, wird ihm in seiner Heimat selten entgegengebracht. Seine Äußerungen über die türkische Schuld am Völkermord an den Armeniern brachte ihm Morddrohungen von Islamisten ein. Einige Lokalpolitiker forderten gar, seine Bücher aus den örtlichen Bibliotheken zu verbannen. Dort fanden sich allerdings gar keine Schriften des berühmten Romanciers - ein Armutszeugnis.
In "Schnee" verquickt Pamuk mehrere Genres miteinander, um am Ende eine Reflexion über die Identitätskrise der türkischen Gesellschaft zu liefern. Zeitungsberichte, Thrillermotive und Märchenzauber vermischen sich zu einem Strudel von Gegensätzen. Vergangenheit und Gegenwart, die Magie des Theaters und die Härte der Realität, Gesichter und Geschichten gehen ineinander über. In diesem schummrigen Zwischenreich versucht Ka Halt zu finden, seine eigene Existenz aufzuspüren. Vergeblich. Ähnlich einem Helden Kafkas ist er verloren in einem verschneiten Ort am Ende der Welt.
Eine melodramatische Liebesgeschichte paart sich zu Ka's Gesellschaftsanalysen. Die Traurigkeit von Dostojewski und Turgenjew schimmert in Orhan Pamuks Erzählkunst. Mal allwissend, mal in die eigene Perspektive eingesperrt, lässt er seinen Helden in einem aschgrauen Mantel durch die verzauberte Stille einer Schneelandschaft flanieren - verwundbar und allein. Ka's Spuren sind so tief und eindringlich, dass die Schneekristalle immer noch leuchten, wenn man das Buch zugeschlagen hat.
Orhan Pamuk
Schnee. Roman.
Aus dem Türksichen von Christoph K. Neumann.
Hanser Verlag, München 2005; 512 S., 25,90 Euro