Der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl hat den zweiten Band seiner "Erinnerungen" vorgelegt
Dass Helmut Kohl dabei sein Licht nicht unter den Scheffel stellt und sich immer wieder selbst rechtfertigt, liegt in seiner Natur. Er mag sich gesagt haben, da er zur Zeit nicht gerade mit Lobeshymnen überschüttet wird, müsse er sich am besten selbst loben. Zu bestaunen ist aber nicht nur die gewaltige physische Arbeitsleistung des Altkanzlers, sondern auch sein Wille, gegen den Strom zu schwimmen und seine Memoiren zu einer Zeit zu verfassen und der Öffentlichkeit zu präsentieren, die ihm nicht gerade freundlich gesonnen ist.
Noch immer verübeln ihm Politiker und Journalisten seine Parteispendenaffäre. Bei all den Jubiläen zu den Jahrestagen der Einheit ist er nicht in Erscheinung getreten, obgleich er die Hauptperson bei diesem Prozess war. Mittlerweile begegnet er der anhaltenden Ablehnung in der Öffentlichkeit mit Trotz: Seine Teilnahme an den Feierlichkeiten zum Wiederaufbau der Dresdener Frauenkirche sagte er ab und gab stattdessen lieber im Südwestrundfunk ein Interview zu seinen "Erinnerungen".
Leider entpuppt sich der Umfang seiner Memoiren zugleich als Lesebremse. Es gehört eine ordentliche Portion Geduld und Langmut dazu, sich durch die über 1.000 Seiten des zweiten Bandes durchzuarbeiten; zusammen mit dem ersten Teil sind mittlerweile 1.600 Blatt zusammengekommen; der Rest bis zur Abwahl im Herbst 1998 wird kaum kürzer ausfallen.
Sichtlich ist ihm der Stoff über den Kopf gewachsen, denn ursprünglich hatte er vor, seine gesammelte Autobiografie in einem handlichen Band zusammenzufassen. Offenbar hatten aber weder der Autor noch der Verlag die Kraft und die Autorität, diesen Mammutschmöker zu kürzen; ein beherzter Lektor hätte das Konvolut auf die Hälfte stutzen können, ohne dem Leser etwas Wichtiges vorzuenthalten. So wirkt das Buch, als sei es Kohl mehr auf die vollständige Aufzählung aller Begebenheiten angekommen als darauf, die Schwerpunkte seiner Tätigkeit sauber herauszuarbeiten.
Es will nicht so recht mit der Ankündigung des Altkanzlers zusammenpassen, er habe beim Verfassen der Memoiren vor allem an die Nachwelt gedacht. Sein Ziel sei es gewesen, dass in späteren Zeiten ein Student der Politologie oder Geschichte, der erfahren wolle, was während seiner Kanzlerschaft geschehen sei, zu seinen Werken greife und nachschlage. Offenbar mochte Kohl die Arbeit an seinem Denkmal nicht den Historikern überlassen, denen er nicht zuzutrauen scheint, dass sie die Vorurteile seiner Zeitgenossen zurechtrücken.
Nach wie vor behauptet Kohl, über ihn sei so viel Unwahres geschrieben und erfunden worden, dass er der Legendenbildung mit seinen authentischen Erfahrungen entgegenwirken müsse. Da er einige von ihnen schon beschrieben hat, verschieben sich stellenweise die Proportionen. So umfasst der Text, der der deutschen Wiedervereinigung von der Öffnung der Grenze zu Ungarn bis zum Beitritt der neuen Länder zur Bundesrepublik gewidmet wird, lediglich magere 150 Blatt. Man hätte annehmen dürfen, dass er in Kohls Autobiografie den breitesten Raum einnehmen würde. Aber der Stoff war wohl mit dem Band: "Ich wollte Deutschlands Einheit", der 1996 vorab erschien, verbraucht.
In den "Erinnerungen" findet sich mithin zum Thema Wiedervereinigung statt einer genauen Darstellung seines Handelns nur eine flüchtige Zusammenfassung und ein Hinweis auf das frühere Buch. Die Lücke fällt umso mehr ins Gewicht, als er schreibt, er habe in der Zwischenzeit viele neue Erkenntnisse gewonnen. So habe er erst später erfahren, dass der französische Präsident Mitterrand mit ihm "eine Art Doppelspiel" gespielt habe.
In Gesprächen mit ihm habe der französische Präsident den Eindruck erweckt, er verfolge den Einigungsprozess wohlwollend, die britische Premierministerin Margaret Thatcher aber, die sich scharf und deutlich gegen die Wiedervereinigung abgrenzte, beruhigte er mit den Worten: "Machen wir uns keine Sorgen." Paris und London könnten die Deutschen ermuntern, die Einigung voranzutreiben "im Bewusstsein, dass die zwei Großen uns davor bewahren". Er meinte den sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow und den amerikanischen Präsidenten George Bush.
Dem Buch lässt sich entnehmen, dass zu Beginn des Einigungsprozesses alle Staatsmänner im Dunkeln tappten, einschließlich Kohl, der zuerst einer deutsch-deutschen Konföderation das Wort redete und sich dann in den Absichten seines Freundes Mitterrand täuschte, bei dem die Freundschaft dort endete, wo seine Furcht vor einem übermächtigen Nachbarn im Osten begann. Mit den heftigsten Vorwürfen überschüttet der Altkanzler die damalige britische Premierministerin Thatcher, die seinem Charme nicht erlag und mit der er auch nicht - wie mit Mitterrand, Gorbatschow und Erich Honecker - Kriegs- und Jugenderlebnisse austauschen konnte. Einer der geringsten Vorwürfe an ihre Adresse lautet, sie habe immer nur die Interessen ihres Landes vertreten und sich mithin niemals um gesamteuropäische Belange gekümmert.
Noch schärfer fällt seine Abrechnung mit den innerparteilichen Widersachern, Konkurrenten, Gegnern und Kritikern aus. Zwar ist er im Vergleich zu früher etwas gnädiger gestimmt, die Altersmilde hat auch ihn gestreift, aber er kann es immer noch nicht verwinden, dass sich einige seiner Parteifreunde aus seinem Schatten gelöst und eigene Wege beschritten haben, die sich naturgemäß von den seinigen entfernten.
Da kommt der Groll darüber zum Vorschein, dass ihm der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß an politischer Phantasie und rhetorischer Brillanz überlegen war. Er räumt in einer langen Passage ein, dass Strauß ein "politischer Stratege, ein Militärexperte, ein Finanz- und Wirtschaftsexperte von hohen Graden" gewesen sei, versteigt sich dann aber zu der Behauptung, er sei "feige" gewesen. "Wann immer es ihm möglich erschien, ließ er gerne andere eingreifen. Es fehlte ihm an Kraft, selbst an der Front zu kämpfen, wenn er es mit einem ebenbürtigen Gegner zu tun hatte."
Das Urteil mag richtig sein. Richtiger wäre es gewesen, wenn Kohl hinzugefügt hätte, dass er selbst im Umgang mit Strauß häufig ebenfalls zum Mittel der indirekten Verleumdung griff. Strauß erkannte während ihrer ständigen Auseinandersetzungen sehr gut, dass Kohl, um ihn zu diskreditieren, morgens ein Gerücht in die Welt setzte, um es abends zu dementieren, und dass er Parteifreunde vorschickte, wenn es galt, ihm unerfreuliche Botschaften zu überbringen.
Etwas neben der Wahrheit liegt Kohl auch mit seiner Bemerkung, er habe Strauß "gerne in dem Glauben" gelassen, "Einfluss auf die Regierungskoalition zu nehmen", während in Wahrheit sein Einfluss "gegen null" tendiert habe. In Wirklichkeit musste Kohl bei allen großen Entscheidungen, auch den Personalentscheidungen, auf Strauß Rücksicht nehmen, oft auch zum Besseren für die Sache, um die es ging.
Den Dauerkonflikt mit Richard von Weizsäcker schildert Kohl so einseitig, selbstgerecht und aus der Sicht des enttäuschten Förderers, dass sein Blick auf die Realitäten getrübt erscheint. Zutreffend ist Kohls Schilderung, er habe Weizsäcker bereits in den 60er-Jahren für die CDU entdeckt und habe das Fundament für dessen politische Karriere gelegt. Richtig ist aber auch, dass er ihm danach ständig Steine in den Weg legte, als es um das Amt des Bundespräsidenten ging: Er wollte es ihm verwehren, weil er die Konkurrenz fürchtete.
Zur Wahl 1969 trug er Weizsäcker zum ersten Mal die Kandidatur für das Amt an, versuchte dann aber, ihn wieder davon abzubringen, als er merkte, dass Strauß den früheren Außenminister Gerhard Schröder unterstützte. 1974 ermutigte Kohl seinen Parteifreund, als "Zählkandidat" gegen Walter Scheel anzutreten, als der die Mehrheit in der Bundesversammlung hatte. 1979, als die Union die Mehrheit stellte, schlug sich Kohl auf die Seite von Strauß und half, Karl Carstens zu nominieren.
Um Weizsäcker und seinen Anhang zu neutralisieren, lobte er ihn nach Berlin, wo Weizsäcker derart erfolgreich war, dass er den SPD-Senat stürzte und sich zum Regierenden Bürgermeister wählen ließ. Als er ein Jahr vor der Wahl 1984 Interesse zeigte, sich um die Nachfolge von Carstens zu bewerben, setzte Kohl alle Hebel in Bewegung, um ihn davon abzuhalten - wie man weiß, ohne Erfolg. Damit begann jene Rivalität zwischen dem Präsidenten und dem Kanzler, die Kohl vorhergesehen hatte.
Bis jetzt, so kann man den "Erinnerungen" entnehmen, schmerzt es Kohl, dass sie gegeneinander ausgespielt wurden und dass Weizsäcker immer die bessere Figur machte. Und er gibt sich geradezu verletzt und gekränkt darüber, dass er vor Weizsäckers berühmter Rede zum Kriegsende am 8. Mai 1985 selbst eine Rede zu diesem Thema gehalten hatte (selbstverständlich die bessere!), die aber von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen wurde. In den Memoiren kann man sie nachlesen. Und vollends bringt es ihn aus der Fassung, dass Weizsäcker in seiner Berliner Amtszeit auf eigene Faust Deutschlandpolitik betrieb und sich mit Erich Honecker traf und dass er abermals nach dem Fall der Mauer eigene Vorstellungen über das Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten entwickelte. Das erscheint dem Exkanzler im Rückblick als ein Privileg, das nur ihm zustand.
Kein gutes Haar lässt Kohl auch an den "Putschisten", jenen Parteifreunden, die versuchten, ihn beim Bremer Parteitag im September 1989 zu stürzen. Über den damaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth, der ihn im Parteivorsitz ablösen sollte, spottet er, Späth habe versucht, sich in der Zeit seiner Bewerbung als Außen-, Sicherheits- und Deutschlandpolitiker zu profilieren, "um seine Defizite auf diesen Feldern auszugleichen". Bei seinen diversen Auslandsreisen habe Späth "allerdings nicht den Anschein … erweckt, als würde sich ein neuer Staatsmann in Szene setzen".
Was Kohl verschweigt ist, dass er den "Putsch" auslöste, indem er dem damaligen CDU-Generalsekretär Heiner Geißler brüsk den Stuhl vor die Tür setzte und sich weigerte, ihn im Amt des Generalsekretärs zu bestätigen. Nach der Parteisatzung war das sein gutes Recht, aber es gab keinen objektiven Grund, ihn abzulösen, außer dem, dass der Kanzler Kohl zu diesem Zeitpunkt die gesamte Macht an sich ziehen und die Partei vollends seinem Regiment unterordnen wollte.
In Kohls Augen hatte die Partei, die für ihn bis dahin Priorität vor der Regierung hatte und den langfristigen Kurs vorgab, nunmehr die umgekehrte Aufgabe: Er wollte sie zum Instrument der Bundesregierung machen, die keine andere Funktion hatte, als der Regierung zuzuarbeiten. Geißler versuchte lange Zeit gegenzusteuern, um die Eigenständigkeit der CDU zu erhalten, aber den Zwiespalt hielten beide auf Dauer nicht aus. Kohl setzte sich am Ende durch, nicht zuletzt deswegen, weil er noch immer in der Partei stark verankert war und weil sich Späth zwar eine Weile in der Gunst der Medien sonnte, aber sich nicht traute, offen gegen Kohl anzutreten.
Nicht viel besser als Lothar Späth kommen in Kohls Darstellung dessen Bundesgenossen, die "Umstürzler" Rita Süssmuth, Norbert Blüm, Kurt Biedenkopf, Walther Leisler Kiep und - wiederum - Richard von Weizsäcker davon. Besonders scharf rechnet er mit einem seiner ältesten Weggefährten, dem damaligen Arbeits- und Sozialminister Blüm, ab. Er behauptet nun, er habe sich in "seinem Charakter getäuscht".
Kohl bewegt sich in den "Erinnerungen" vorwiegend in dem Muster, das seine Regierungszeit bestimmte. Man kann an diesem Punkt auf seinen großen Vorgänger Otto von Bismarck verweisen, mit dem er gern verglichen wird. Dessen Sekretär Lothar Bucher beklagt die subjektive Einfärbung in den "Gedanken und Erinnerungen" seines Auftraggebers. Die Schuld daran, dass etwas missriet, wies Bismarck "immer den anderen" zu, er selbst wollte "an nichts, was misslungen ist, beteiligt gewesen sein".
Selbstverständlich ist Kohl zu beschlagen und erfahren, als dass er sich bei einer massiven Verfälschung der Ereignisse ertappen ließe. Aber er greift gelegentlich zu dem Mittel, nur die halbe Wahrheit und dabei deren für ihn günstigsten Anteil zu erzählen. Bei der Schilderung der Affäre Wörner-Kießling von 1984 schreibt er, der Verteidigungsminister Manfred Wörner habe dem Militärischen Abschirmdienst MAD zu sehr "vertraut".
Die ganze Wahrheit ist, dass Wörner, statt sich auf die Seite des Generals zu stellen, ungeprüft die Behauptung des MAD übernahm, Günter Kießling sei homosexuell. Schlimmer noch, als sich bereits abzeichnete, dass die Behauptung falsch war, versteifte er sich auf die Vorwürfe und tat alles, um Kießling, der sein Ehrenwort verpfändete, der Lüge zu bezichtigen. Kohl hätte also sehr wohl einen Grund gehabt, ihn aus dem Amt zu entlassen.
Ähnlich verfährt er, wenn er behauptet, seine Gegner hätten aus seinem Satz von der "Gnade der späten Geburt" eine Kampagne gegen ihn konstruiert. In Wirklichkeit weckte er bei seinem Besuch in Israel 1984 das Misstrauen der Gastgeber, weil er und seine Delegation den Eindruck hinterließen, sie wollten als Vertreter einer neuen Generation, die noch nicht in die Verbrechen der Nationalsozialisten verstrickt war, einen "Schlussstrich" ziehen. Immerhin hat er daraus gelernt und verstanden, sich mit solchen Äußerungen zu zügeln. In den "Erinnerungen" setzt er sich außerdem gründlicher und intensiver mit dem Nationalsozialismus auseinander als in früheren Schriften.
Als Fazit der "Erinnerungen" lässt sich festhalten, dass Kohl sich selbst treu geblieben ist. Das bedeutet auch, dass er häufig mehr Subjektivität in Anspruch nimmt, als es Memoiren üblicherweise zulassen. So bleibt das Bild eines Staatsmanns, der als eine der bedeutenden Persönlichkeiten des vorigen Jahrhunderts in die Geschichte eingehen wird. Dabei weist er, während seiner aktiven Zeit wie beim Schreiben seiner Memoiren, all die Stärken und Schwächen, die hellen und dunklen Seiten auf, die einen starken Charakter ausmachen.
Helmut Kohl
Erinnerungen, 1982 - 1990.
Droemer Verlag, München 2005; 1088 S., 29,90 Euro
Klaus Dreher stammt aus Mannheim und hat schon als junger
Journalist und später als langjähriger Leiter des Bonner
Büros der "Süddeutschen Zeitung" über Jahrzehnte den
politischen Weg Helmut Kohls über die Anfänge in
Ludwigshafen und Mainz bis in die Kanzlerschaft in Bonn
journalistisch begleitet.