Stasi-Spione im Auswärtigen Amt
Seit ihr klar war, dass es mit der DDR zu Ende ging, saß Lilli Pöttrich die Angst vor Enttarnung im Nacken. Zu einem Treffen, das in Innsbruck stattfinden sollte, war ihr Stasi-Führungsoffizier nicht mehr erschienen. Zwar hatten ihr die Kontaktleute von der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) des MfS versichert, nachrichtendienstliche Unterlagen über sie seien vernichtet oder in Privatwohnungen versteckt worden. Aber als im Frühjahr 1990 ein Kollege aus dem Auswärtigen Amt wegen Verdachts auf Landesverrat verhaftet wurde, musste auch sie ständig damit rechnen, dass ihr Doppelleben als bundesdeutsche Diplomatin und Stasi-Agentin auffliegen würde.
Am 1. Dezember 1993 wurde die Vortragende Legationsrätin Lilli Pöttrich in Bonn festgenommen. 14 Jahre lang hatte die Juristin als "IM Angelika" für das Ministerium für Staatssicherheit spioniert. Aus politischer Überzeugung. Der Fernseh-Journalist Heribert Schwan und die Diplom-Psychologin Helgard Heindrichs haben ihren Fall und die Agententätigkeit von drei weiteren Kollegen aus dem Auswärtigen Amt (AA) zum Anlass genommen, um die raffinierten und wirksamen Methoden zu beschreiben, mit denen der DDR-Geheimdienst Bundesbürger zur Mitarbeit gewonnen und zum Verrat von Dienstgeheimnissen verführt hat.
Sensationelle Enthüllungen sind im "Spinnennetz" nicht zu finden. Die meisten Personen, die als IM genannt werden, sind durch die Berichterstattung über die Strafprozesse bekannt. Das nimmt dem Buch aber nichts von seinem Informationswert und seiner Spannung. Die Autoren schildern höchst anschaulich die Umstände und die Beweggründe, die bundesdeutsche Staatsdiener zum Bruch ihres Diensteides veranlasst haben. Und sie zeigen, gestützt auf mehrjährige Recherchen, die Systematik und den immensen Aufwand, den die HVA bei der Anwerbung, Führung und Betreuung ihrer Agenten im Westen betrieben hat.
Wie geschickt sie bei ihrem beruflichen Werdegang gesteuert wurden, war den meisten "Kundschaftern des Friedens", wie sie propagandistisch tituliert wurden, nicht bewusst. Lilli Pöttrich gibt offen zu, dass sie von allein nie auf die Idee gekommen wäre, sich um eine Stelle im Auswärtigen Dienst zu bewerben. Die speziell geschulten Führungsoffiziere haben es in den geschilderten Fällen verstanden, ein enges, auf Menschenkenntnis und Einfühlungsvermögen gegründetes Vertrauensverhältnis zu ihren westdeutschen "Schützlingen" aufzubauen, das bis zum Schluss intakt blieb. Nur so ist zu erklären, warum "IM Angelika" sich trotz aufkommender Zweifel nie selbst aus ihren Verstrickungen befreien konnte. Und warum ihr, der illoyalen AA-Bediensteten, ein Ausstieg aus der Agententätigkeit wie ein Verrat an ihren MfS-Kontaktleuten vorgekommen wäre.
Sachkundig erläutern die Autoren Funktion und Bedeutung des "Systems zur Informationsrecherche der HVA" (SIRA), in dem die von Agenten gelieferten Informationen in der MfS-Zentrale gesammelt und bewertet wurden. Zwar sind die elektronisch gespeicherten Daten bei der Auflösung der HVA 1990 vernichtet worden. Ein paar Sicherungskopien hatte man aber offenbar vergessen. Einem Spezialisten der Stasiunterlagen-Behörde gelang es, die Magnetbänder zu decodieren. So konnten die Autoren nicht nur auflisten, was die Agenten im Auswärtigen Amt an internen Informationen nach Ostberlin übermittelt hatten. Sie erfuhren auch, wie das Spionagematerial von der HVA qualitativ eingestuft wurde.
Auf die Spur von Lilli Pöttrich waren die Ermittler vom Bundeskriminalamt durch Angaben aus der so genannten Rosenholz-Datei gestoßen, eine Sammlung von Namen und Registrierunterlagen der HVA-Agenten. Um das hoch brisante Material vor dem "feindlichen" Zugriff zu retten, hatte die HVA die kompletten Datenträger dem sowjetischen Geheimdienst in Berlin-Karlshorst übergeben. Auf geheimnisvollem Weg gelangten die verfilmten Karteikarten zum US-amerikanischen Geheimdienst, der sie später an deutsche Behörden übergab.
Lilli Pöttrich wurde im April 1995 zu zwei Jahren Freiheitsstrafe auf Bewährung wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit in einem besonders schweren Fall verurteilt. Sie verlor ihren Arbeitsplatz im Staatsdienst und zahlte, wie die Autoren schreiben, auch im Privatleben einen hohen Preis. Nach ihrem Agentenleben war es ihr nicht mehr möglich, eine offene und ehrliche Partnerschaft zu führen. "Sie blieb allein und ihren Freunden aus der Ostberliner MfS-Zentrale treu."
Heribert Schwan, Helgard Heindrichs
Das Spinnennetz.
Stasi-Agenten im Westen: Die geheimen Akten der Rosenholz-Dateien.
Knaur Taschenbuch Verlag, München 2005; 320 S., 12,95 Euro