Die Uhr im Plenarsaal schlug zehn, als Bundeskanzler Willy Brandt an das Rednerpult trat. Der Raum war erfüllt vom Surren der Fernsehkameras und dem Raunen der zahlreich erschienenen Journalisten, Abgeordneten und Gäste. Auf der Regierungsbank hatte sich das gesamte Kabinett eingefunden. Voller Erwartung harrte man Brandts Bericht über seine Reise auf die andere Seite der Mauer.
Erst am Morgen war der Kanzler aus Erfurt zurück-gekehrt, wo ihn der Vorsitzende des Ministerrates der DDR, Willi Stoph, am Vortag empfangen hatte. Erstmals seit der Teilung Deutschlands vor 25 Jahren hatten sich die Regierungschefs beider Staaten getroffen, um über die Normalisierung der Beziehungen ihrer Länder zu sprechen.
Brandts Besuch hatte in Ost und West für ordentlich Wirbel gesorgt - und auf der Stirn manch eines DDR-Funktionärs für die eine oder andere Schweißperle. 2.500 Menschen hatten sich nämlich vor dem Hotel "Erfurter Hof" versammelt und den Kanzler mit frenetischen "Willy! Willy!"-Sprechchören bewogen, ans Fenster zu treten und zu winken. Die Journalistin Regine Sylvester erinnerte sich später an die Szenerie: "Sicherheitskräfte und aufgeschreckte Kampfreserven der Partei schoben sich zwischen die Leute und setzten zu einer eilig erfundenen Gegenparole an: 'Willi Stoph ans Fenster!' Das DDR-Fernsehen zoomte verzweifelt, um in der Menge die mit dem richtigen Ruf zu finden." Ein DDR-Kommentator behauptete am Abend, die vermeintlichen Demonstranten seien "offensichtlich bestellte Provokateure" gewesen, die den Auftakt der Gespräche hätten stören wollen.
Viel störender jedoch war die Tatsache, dass Brandt und Stoph ihr Verhandlungssäckel jeweils mit sehr unterschiedlichen Forderungen geschnürt hatten. Während Willy (West) angereist war, um einen gegenseitigen Gewaltverzicht und "eine vertraglich vereinbarte Zusammenarbeit auf der Grundlage der Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung" zu verabreden, verlangte Willi (Ost) nichts Geringeres als die völkerrechtliche Anerkennung der DDR.
Brandt wies dieses Anliegen zurück und begründete dies vor dem Bundestag: "Ich halte daran fest, dass die beiden Staaten in Deutschland füreinander nicht einfach Ausland sein können." Es müsse alles vermieden werden, was "endgültig die Möglichkeit verbauen würde, dass das deutsche Volk sich eines Tages im Rahmen einer europäischen Friedensordnung in freier Selbstbestimmung über die politische Art seines Zusammenlebens entscheiden könnte".
Während der Fraktionsvorsitzende der Liberalen, Wolfgang Mischnik, den Kanzler ausdrücklich ermutigte, den begonnenen Weg beharrlich fortzusetzen, wollte die Opposition die Brandtsche Kröte nicht einfach schlucken. Sie sah die Wiedervereinigung Deutschlands durch mögliche Zugeständnisse der sozialliberalen Koalition gefährdet und warf der Regierung vor, von der DDR zu wenig Gegenleistungen zu verlangen. Rainer Barzel, der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, attackierte Brandt und seine Entspannungspolitik mit Nachdruck: "Sehen wir es richtig", fragte er bissig, "dass die Regierung auf dem Wege ist, die Oder-Neiße-Linie anzuerkennen, besondere Beziehungen zur DDR herzustellen, welche Merkmale einer Anerkennung enthalten, der Sowjetunion gegenüber neue Verpflichtungen einzugehen und zwei deutsche Staaten zu Mitgliedern der UNO zu machen?" Dabei könne es doch lediglich um ein "Respektieren im Sinne von Verzicht auf das Mittel der Gewalt bei Aufrechterhaltung des Zieles der Veränderung" gehen, bohrte Barzel weiter. Ein Gewaltverzichtsabkommen zwischen Bonn und Ost-Berlin aber lehne er solange ab, wie "an der Mauer in Berlin und entlang der Demarkationslinie weiter geschossen" werde.
Doch sah es nach Erfurt gar nicht so aus, als ob der deutsch-deutsche Dialog an Schwung gewinnen würde. Das Gespräch zwischen Brandt und Stoph blieb ohne Ergebnis, genauso wie das nächste Treffen im Mai 1970 in Kassel.
Brandt aber verbreitete im Bundestag trotz der offensichtlichen Differenzen verhaltenen Optimismus: "Die Reise nach Erfurt war richtig, sie war notwendig und sie war nützlich. Niemand konnte erwarten, dass eine Annäherung der Standpunkte erreicht werden könnte."
Erst mit dem Grundlagenvertrag von 1972 erkannten beide Staaten ihre jeweilige Staatlichkeit und Selbständigkeit auf Basis gutnachbarlicher Beziehungen an. Besonders die vereinbarten Reiseerleichterungen zeigten schnell Wirkung: In den ersten Jahren nach Abschluss des bedeutenden Staatsvertrages stieg der innerdeutsche Reiseverkehr sprunghaft an.