Stützen des Parlaments
Ich habe einen Traum", schrieb Jenny Holzer 2004 in der Wochenzeitung "Die Zeit", "am liebsten würde ich Gedichte auf das Weiße Haus projizieren. Ich liebe es, Gebäude, in denen die Macht regiert, mit Worten einzuwickeln."
Den Regierungssitz des US-amerikanischen Präsidenten hat die Künstlerin zwar noch nicht mit einer ihrer Installationen aus Licht und Worten bereichern können - wohl aber das deutsche Parlament. Direkt am Nordeingang hat Holzers "Installation für das Reichstagsgebäude" seinen Platz gefunden. Die Arbeit hat die Künstlerin eigens als amerikanischen Kunstbeitrag für den Bundestag konzipiert. Orange auf schwarz, schnell und gleichmäßig laufen Wörter über eine LED-Anzeige, die wie eine schmale Stele vom Boden bis zur Decke reicht. Die Wörter, die auf allen vier Seiten dieser Stele zu sehen sind, wirken so, als würden sie Buchstabe für Buchstabe aus dem Steinboden des Foyers wachsen und vom hellen Deckenputz wieder verschluckt werden. Immer neue Wörter erscheinen und verschwinden auf diese Weise, wie in einer Endlosschleife. Wer stehen bleibt und zu lesen beginnt, merkt, dass sie sich nicht wiederholen. Sie werden zu Sätzen, Sätze zu ganzen Reden. Es sind Reden, die Reichstags- und Bundestagsabgeordnete in der Zeit zwischen 1871 und 1992 im deutschen Parlament gehalten haben. "Ich wollte mich in meiner Arbeit besonders mit dem Gebäude des Reichstags selbst beschäftigen", erklärte Jenny Holzer bei der Übergabe ihrer Installation 1999. Deshalb wählte die Künstlerin zunächst Reden aus, in denen die Abgeordneten den Reichstag thematisieren: wie etwa nach dem Reichstagsbrand 1933 und oder als sie den Berlin-Beschluss debattierten. Andere Reden, die Holzer auswählte, erinnern an wichtige und schicksalhafte Ereignisse, Wendepunkte der deutschen Geschichte: Imperialismus etwa, die Auflösung des Parlaments durch die Nationalsozialisten, die Deutsche Einheit. Holzer ordnete die Reden erst nach thematischen Gesichtspunkten, dann chronologisch. Auf jeder Seite der Stele lässt sie eine andere Rede ablaufen. 442 Reden hatte die Künstlerin zum Zeitpunkt der Übergabe aneinander gereiht , so dass diese etwa 20 Tage lang ununterbrochen und ohne Wiederholung über die Leuchtanzeige laufen können. Inzwischen ist das Repertoire auf 447 Reden angewachsen.
Sprache steht seit jeher im Zentrum der künstlerischen Arbeit von Jenny Holzer. Die 1950 in Ohio geborene Holzer wuchs im methodistischen Mittelwesten auf. 1977 graduierte sie am Rhode Island College in Malerei, doch schon bald wechselte sie zum Schreiben. In New York entdeckte sie die Straße als Transportmittel ihrer Kunst, mit der sie politische und soziale Strukturen aufbrechen wollte. Auf Plakaten, Häuserwänden, Bretterzäunen und Neonreklametafeln schrieb sie "truisms", zu deutsch Binsenweisheiten, wie etwa: "It's not good to live on credit", "Es ist nicht gut, auf Kredit zu leben". Mit verblüffend einfachen, lapidaren Botschaften wollte Holzer Einhalten und Nachdenken provozieren in einer von Werbetexten und anderen optischen Signalen dominierten Umwelt.
Bei ihrer Installation für das Reichstagsgebäude greift Holzer mit Schriftband und Leuchtstele auf ein Kommunikationsmittel zurück, das den Menschen aus ihrem alltäglichen Leben vertraut ist: Leuchtanzeigen. Holzer sieht das durchaus kritisch. Zwar verwendet die Künstlerin selbst diese Kommunikationsform, um ihre Botschaften zu übermitteln. Doch indem sie ebenso Leuchtanzeigen und Plakate nutzt wie die Werbung, legt sie deren Wirkungsweise offen, hinterfragt und konterkariert sie sogar.
Diese künstlerische Beschäftigung mit Worten war es auch, die den Kunstbeirat des Bundestags Ende der 90er-Jahre dazu bewegte, Jenny Holzer mit einer Arbeit für das Reichstagsgebäude zu beauftragen: "Sie versteht es einmalig, Sprache und Gestaltung miteinander zu verbinden", lobt Rita Süssmuth (CDU), die zu dieser Zeit den Vorsitz im Kunstbeirat hatte. "Gerade bei einer Installation, die für ein Parlamentsgebäude vorgesehen ist, hat das eine besondere Bedeutung." Schließlich ist das Parlament das Haus der politischen Rede (von altfranz. "parlement" = Unterhaltung). Mit einander zu sprechen, zu diskutieren oder auch zu streiten ist ein Kernelement der Demokratie.
Holzers Idee, die über das Schriftband der Stele laufenden Parlamentsreden symbolisch zum tragenden Pfeiler des Parlaments zu machen, überzeugte den Kunstbeirat sofort. "Wir waren beeindruckt", erzählt Süssmuth. Die Mitglieder des Kunstbeirat seien sich sehr schnell darüber einig gewesen, dass diese Installation in die parlamentarische Kunstsammlung passe. "Mir persönlich gefällt vor allem, dass Holzers Kunstwerk keines ist, das man mit einem Blick erfassen kann", so die ehemalige Bundestagspräsidentin, "man muss stehen bleiben und verweilen - dann taucht man ein in Bundestagsdebatten aus einer ganz anderen Zeit. Das ist faszinierend.