18. Mai 1848: Nationalversammlung in der Paulskirche
Am 18. Mai 1848 wird in Frankfurt am Main die Deutsche Nationalversammlung eröffnet. Sie ist nicht nur das erste gesamtdeutsche Parlament, sondern mit 831 gewählten Mitgliedern (einschließlich der Stellvertreter) auch das größte der deutschen Geschichte. Nach seiner Tagungsstätte um Zentrum Frankfurts wird es auch häufig einfach "Die Paulskirche" genannt.
Ein Parlament der Gebildeten
Trotz der unterschiedlichen regionalen und landsmannschaftlichen Herkunft der Abgeordneten zeigt die Nationalversammlung ein relativ homogenes Bild auf. Sie ist ein "Honoratiorenparlament", dessen Mitglieder überwiegend der gebildeten Mittel- und Oberschicht angehören - darunter viele Juristen, Universitäts- und Gymnasialprofessoren.
Zum hohen Niveau der Debatten trägt bei, dass viele Mitglieder große Kenntnisse des einschlägigen deutschen, französischen, englischen und amerikanischen wissenschaftlichen Schrifttums besitzen, das immer wieder zur Beantwortung von Grundsatzfragen herangezogen wird. Anfänglich drohen die Verhandlungen in einer Flut von Wortmeldungen, Anträgen und Abstimmungen zu ertrinken. Doch findet das Parlament in dem der liberalen Mitte angehörenden Abgeordneten Heinrich Freiherr von Gagern einen energischen und durchsetzungsfähigen Präsidenten. Seiner entschlossenen und zielbewussten Verhandlungsführung ist es zuzuschreiben, dass die Beratungen bald einen geordneten Verlauf nehmen.
Anfänge parlamentarischer Parteien und erste Fraktionsbildungen
Bald entstehen auch fraktionsähnliche Zusammenschlüsse, die der Meinungs- und Willensbildung dienen. Sie werden nach den verschiedenen Hotels und Gasthäusern der Stadt benannt, in denen sich jeweils Abgeordnete gleicher Grundrichtung zu gemeinsamen Beratungen zusammenfinden. Daraus entwickelt sich das für die spätere Parteienstruktur charakteristische Links-Mitte-Rechts-Schema der Sitzverteilung.
Die Mitte, das Zentrum - nicht zu verwechseln mit der späteren katholischen Zentrumspartei - bildet mit den gemäßigten Liberalen die stärkste Gruppe. Ihr Hauptziel ist die Errichtung einer föderalen konstitutionellen Monarchie mit einem mehr oder weniger starken Parlament und einem Erbkaiser an der Spitze. Die gemäßigt links stehenden Demokraten wollen eine parlamentarisch-demokratische Republik, die radikalen Demokraten befürworten darüber hinaus die Fortsetzung der Revolution und eine Trennung von den alten Mächten der Monarchie. Sie gehen vom Prinzip der Volkssouveränität aus. Die Rechte wird gebildet von den Konservativen, die für eine schwache Zentralgewalt und starke einzelstaatliche Regierungen eintreten. Zwischen diesen Gruppierungen gibt es jedoch eine häufige Fluktuation. So ist also die Frankfurter Nationalversammlung gewissermaßen der Geburtsort des deutschen Parteienwesens, wenn sich auch die Parteien als außerparlamentarische Organisationen erst in den folgenden Jahrzehnten herausbildeten.
Bildung einer Zentralgewalt und Beginn mit der Beratung von Grundrechten
Die Nationalversammlung steht von Anfang an vor der doppelten Aufgabe eine nationale Verfassung zu schaffen und zugleich für eine zentrale Regierungsgewalt zu sorgen. Nach längeren Debatten entschließt sich das Parlament auf Initiative ihres Präsidenten von Gagern, von sich aus eine Zentralgewalt zu bilden. Sie wählt den österreichischen Erzherzog Johann zum Reichsverweser und beauftragt ihn, einen dem Parlament gegenüber verantwortlichen Ministerpräsidenten zu berufen und eine Regierung einzusetzen. Doch bleibt die Zentralgewalt relativ machtlos und von der Unterstützung durch die Einzelstaaten abhängig, da sie weder über eigene Einnahmen noch über einen Verwaltungsunterbau oder eigene Truppen verfügt.
Bald nach seiner Konstituierung beschließt das Parlament, als erstes einen Grundrechtekatalog aufzustellen und zu verabschieden. Auf diese Weise soll der Rechtsstaat und der Schutz der Bürger vor polizeistaatlicher Willkür geschützt werden. Aus späterer Sicht hat man diesen Schritt als einen verhängnisvollen Fehler bezeichnet, da mit der Beratung der Grundrechte kostbare Zeit vertan worden sei.
Erneute revolutionäre Kämpfe und Erstarkung der Gegenrevolution
Tatsache ist, dass sich schon bald das Blatt gegen die Nationalversammlung zu wenden beginnt. In Preußen wie in Österreich erstarken die gegenrevolutionäre Kräfte. Dies wiederum ruft die radikaleren revolutionären Kräfte auf den Plan und führt verschiedenen Ortes zu Gewaltausbrüchen. Eine zweite Welle der Revolution greift auf Baden, Berlin und Wien über und wird militärisch niedergeschlagen. Damit gewannen die gegenrevolutionären Kräfte, gestützt auf das Militär, immer stärker die Oberhand.
Die Grundrechte des Deutschen Volkes
Am 21. Dezember 1848 beschließt die Nationalversammlung das Gesetz über die Grundrechte des Deutschen Volkes. Damit werden zum ersten Mal auch in Deutschland Menschen und Bürgerrechte verkündet und in Kraft gesetzt. Die Aufstellung eines Katalogs von "Grundrechten des Deutschen Volkes" gehört zu den Leistungen der Paulskirche, die trotz des Scheiterns ihres Vorhabens, Deutschland im Rahmen einer parlamentarisch-demokratischen Verfassung zu einen, eine herausragende und fortwirkende Bedeutung behalten haben. Sowohl die Weimarer Verfassung als auch das Grundgesetz und die Verfassung der Bundesländer fußen auf dieser Leistung. Zu ihren Kernstücken gehörten die Gleichheit aller vor dem Gesetz, die Aufhebung aller Standesvorrechte , die Gewährleistung der Freiheit der Person, der Glaubens-, Meinungs- und Pressefreiheit, der Freiheit der Wissenschaft, der Versammlungs- und Vereinsfreiheit, der Freiheit der Wohnung sowie das Briefgeheimnis und das Petitionsrecht. Auch mit der Abschaffung der Todesstrafe ist die Paulskirche ihrer Zeit weit voraus. Nur fehlen in der Aufstellung noch soziale Rechte im Sinne einer Gewährleistung sozialer Sicherheit, obwohl auch damals schon die soziale Frage eine zunehmende Bedeutung erhält.
Im März 1849 verabschiedet die Nationalversammlung schließlich die Verfassung, die eine gesamtstaatliche Ordnung für das damit entstehende Deutsche Reich schaffen soll. Sie sieht einen föderalen Bundesstaat mit einem Kaiser als Staatsoberhaupt vor, dem auch die Einsetzung der Regierung zusteht. Dem Reichstag, der sich aus einem Staatenhaus und einem aus allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlen hervorgehenden Volkshaus zusammensetzen soll, steht vor allem die Gesetzgebung und die Verabschiedung des Haushaltes zu. Zwar lässt die Verfassung die zentrale Frage nach der Zuordnung der Regierung zum Parlament und ihrer parlamentarischen Verantwortlichkeit offen. Doch soll ein Gesetz Näheres über die Ministerverantwortlichkeit regeln. So war, wie es aussah, ein parlamentarisches Regierungssystem zu erwarten.
Scheitern der Einigung Deutschlands auf der Grundlage einer Verfassung
Lange Zeit wird darum gerungen, ob das Reich den deutschen Teil des habsburgerischen Vielvölkerstaates einschließen soll (die so genannte großdeutsche Lösung) oder ob eine kleindeutsche Lösung ohne Österreich und unter Preußens Führung zu bevorzugen sei. Doch dann lässt die ablehnende Haltung Österreichs gegenüber der Nationalversammlung gar keine andere als die kleindeutsche Lösung mehr zu. Daraufhin wählt das Parlament den preußischen König Friedreich Wilhelm IV. zum "Kaiser der Deutschen" in der Erwartung, dass er die Wahl annehmen und an die Spitze eines "kleindeutschen" Nationalstaates treten werde. Doch als ihm von einer nach Berlin entsandten Reichstagsdeputation die Kaiserkrone angetragen wird, lehnt er unter Berufung auf von Gottes Gnaden stammende monarchische Souveränität ab. Preußen und andere größere Mitglieder des Bundes wie Bayern und Sachsen verweigern ihre Zustimmung zur Verfassung.
Damit sind das Verfassungswerk und das Bemühen um die Errichtung eines deutschen Nationalstaates praktisch gescheitert. Zwar wird auch weiterhin mit Petitionen, Flugschriften und Volksversammlungen um die Verfassung gekämpft. Doch die zur Fortsetzung des revolutionären Kampfes vor allem im Südwesten entschlossenen radikalen Anhänger der Demokratie verlieren immer mehr die Unterstützung durch die bürgerliche Mitte, die den offenen Kampf, das Abgleiten in einen Bürgerkrieg und Übergriffe auf ihr Leben und Eigentum fürchtet. Immer deutlicher ergibt sich: Die Revolution und die Demokratie haben verloren und die Gegenrevolution hat gesiegt.
Doch obwohl in der nun folgenden Zeit die Kräfte der "Reaktion" vielfach die vorrevolutionären Ordnungen wieder aufzurichten suchen, bleiben die Bestrebungen und die Ereignisse der Arbeit der Paulskirche nicht ohne geschichtliche Wirkung. Lebendig bleibt nicht nur die Sehnsucht nach einer nationalstaatlichen Einigung Deutschlands, sondern auch die Hoffnung auf eine Verwirklichung der Idee des liberalen Rechts- und Verfassungsstaates mit der Gewährleistung von Grund- und Freiheitsrechten und einer Beteiligung des Volkes an der Staatsgewalt durch ein frei gewähltes Parlament. Mit der von Otto von Bismarck inszenierten Proklamation des preußischen Königs zum "Kaiser der Deutschen" am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal des Versailler Schlosses wird die Reichgründung besiegelt.