Paul Löbe berichtet über den Verfall des Parlamentarismus
Sozialdemokrat Löbe war von 1920 bis 1932 Reichstagspräsident.
© picture-alliance/akg
"In dem Maße, wie die Zahl der kommunistischen Abgeordneten sich mehrte und die Auslese dank dem Listenwahlrecht weniger sorgfältig wurde, setzte der Versuch ein, die Verhandlungen des Hauses durch Gewalt zu stören oder zu diskreditieren. Das geschah durch Nichtbeachtung der geschäftsmäßigen Vorschriften, durch Geschrei, Schimpfreden, durch endlose Tiraden, die den gleichen Text dutzendmal wiederholten, schließlich durch vereinzelte Tätlichkeiten. Versuche des Präsidenten, die Ordnung aufrechtzuerhalten, wurden durch Geschimpfe auf diesen beantwortet …"
"Einige Jahre konnte der Reichstag wieder ordnungsmäßig arbeiten. Als aber 1930 das deutsche Volk 107 Nationalsozialisten neben 77 Kommunisten in den Wallot-Bau entsandte und 40 deutschnationale Hugenbergianer ihre schützende Hand über die Nazis hielten, brach der Sturm aufs Neue los. Äußerste Rechte und äußerste Linke warfen sich die Bälle zu, unterstützten gegenseitig ihre Obstruktionsanträge, begleiteten die jeweiligen Schimpfkonzerte ihrer Antipoden mit tosendem Beifall und versuchten durch unsinnige und demagogische Anträge, die Arbeit des Parlaments und der Regierung lahmzulegen … Straßenradau und Heuchelei untergruben nach und nach die ordentliche parlamentarische Tätigkeit … wo aber die ordnungsmäßige parlamentarische Tätigkeit unmöglich wird, setzen die Ermächtigungsgesetze ein - gefährliche Aushilfsmittel in untragbaren Situationen -, den Ermächtigungsgesetzen folgt der Ausnahmezustand, dem Ausnahmezustand die Diktatur und alles, was damit zusammenhängt. Diesen Weg des deutschen Parlamentarismus muss sich jeder vor Augen halten, der heute bei politischen Entscheidungen mitzuwirken hat."
Paul Löbe, Der Weg war lang. Lebenserinnerungen. Berlin 1954, S. 198 ff.