"Die Wissenschaft entwickelt sich weiter"
Der deutsche Krebsforscher Otmar Wiestler hat sich in einem Interview mit der Wochenzeitung "Das Parlament" (Erscheinungstag 17. März 2008) für die weitere Forschung mit embryonalen Stammzellen ausgesprochen. "Aus wissenschaftlicher Sicht wäre es die vernünftigste Lösung, den Stichtag komplett fallen zu lassen, dabei aber die strikten Kontrollmechanismen beizubehalten", betonte er.
Die Stammzellforschung sei nicht nur wichtig für die Transplantationsmedizin, sondern auch hochinteressant für die Krebsforschung, begründete Wiestler seine Forderung. Ohne die Verschiebung des Stichtags auf ein junges Datum würde Deutschland von den internationalen Entwicklungen völlig abgekoppelt.
Der Bundestag berät derzeit über verschiedene fraktionsübergreifende Gesetzentwürfe zur Änderung des Stammzellgesetzes. Im April soll darüber in Dritter Lesung abgestimmt werden.
Das Interview im Wortlaut:
Warum ist die Forschung an embryonalen Stammzellen
wichtig?
Weil sie mittlerweile in alle Gebiete der biomedizinischen Forschung ausstrahlt und zudem unerlässlich ist, wenn es darum geht, Entwicklung und Ausreifung von Zellen zu verstehen. Stammzellforschung ist nicht nur wichtig für die Transplantationsmedizin, sondern auch hochinteressant für die Krebsforschung. Gerade in den letzten Jahren haben wir gelernt, dass es in allen Krebsgeschwülsten Zellen gibt, die im Stadium von Stammzellen verharren. Es entwickeln sich wahrscheinlich auch alle Krebszellen im Menschen aus Stammzellen.
Warum braucht es dafür unbedingt embryonale und nicht nur
adulte Stammzellen, die ja problemlos gewonnen werden
können?
Diese erwachsenen Stammzellen werden intensiv erforscht. Sie haben allerdings für die Forschung und die Medizin zwei fundamentale Nachteile: Zum einen können sie, wenn sie dem Körper entnommen wurden, praktisch nicht mehr zur Vermehrung gebracht werden. Zum Zweiten können adulte anders als embryonale Stammzellen nur noch in ganz bestimmte Zellformen ausreifen. Die embryonalen Stammzellen dagegen haben ein großes Wachstumspotenzial und sind pluripotent. Das heißt, dass sie zwar keinen Embryo mehr bilden können, aber in der Lage sind, noch in alle Gewebe- oder Organtypen auszureifen.
Jüngst war zu lesen, dass es japanischen und
amerikanischen Forschern gelungen sei, reprogrammierbare Zellen zu
entwickeln, was die Verwendung embryonaler Stammzellen langfristig
überflüssig machen könne.
Diese so genannten reprogrammierbaren Zellen sind ein Ergebnis, das ohne die Erforschung embryonaler Stammzellen nicht möglich gewesen wäre. Den Wissenschaftlern ist es gelungen, aus erwachsenen Stammzellen durch Zugabe bestimmter Faktoren eine Zellform zu gewinnen, die manche Eigenschaften der embryonalen Stammzellen wiedergibt. Das sind so genannte induzierte pluripotente Zellen. Auf diese Zellen setzt die Wissenschaft momentan große Hoffnungen. Es ist aber noch nicht möglich, abzuschätzen, inwieweit sie in ihren Eigenschaften mit den embryonalen Stammzellen übereinstimmen. Sie sind aber ein Argument dafür, dass man mit der Forschung nur weiterkommt, wenn man auch die Erfahrungen aus der Erforschung embryonaler Stammzellen verwertet.
Woher kommen die verwendeten embryonalen Stammzellen?
Würden sie nicht für die Forschung verwendet, gäbe
es dann eine Möglichkeit, dass aus ihnen irgendwann echtes
Leben werden könnte?
Das ist ein entscheidender Punkt in der Diskussion, über den häufig hinwegdiskutiert wird. Alle Zelllinien, über die wir sprechen und die in Deutschland durch eine Verschiebung des Stichtags zugänglich wären, wurden ausschließlich aus überzähligen Embryonen hergestellt. Das sind Embryonen, die im Rahmen der künstlichen Befruchtung gewonnen werden. Dabei wird immer eine größere Zahl hergestellt, als in die Gebärmutter eingepflanzt werden. Sie können eine gewisse Zeit im tiefgefrorenen Zustand überlebensfähig bleiben, verlieren diese Fähigkeit aber nach einigen Jahren. Deshalb kann aus der überwiegenden Mehrzahl der überzähligen Embryonen kein Embryo mehr entstehen. Die Aussage, dass für die embryonale Stammzellforschung bewusst Embryonen getötet würden, ist schlicht falsch.
Welchen Begrenzungen unterliegen Sie bei der Verwendung der
embryonalen Stammzellen?
Wir hatten im Jahr 2000 und jetzt wieder eine lange Debatte, die in meinen Augen in vielerlei Hinsicht vorbildlich war. Darin hatte man sich auf einen strengen Kompromiss geeinigt. Danach dürfen nur Zellen genutzt werden, die unter bestimmten Bedingungen gewonnen wurden. Alle Forschungsprojekte unterliegen einer rigorosen Prüfung durch die nationale Kommission. Da geht es um Fragen wie: Sind es wirklich hochrangige Forschungsprojekte, gibt es wirklich keine Alternative zu den embryonalen Stammzellen? Nur wenn diese Kriterien erfüllt sind, gibt die Kommission ihre Zustimmung. Nicht umsonst sind in Deutschland überhaupt nur etwa 20 Projekte bewilligt worden.
Was stört Sie am bisherigen Stammzellgesetz?
In unseren Augen sind an der bisherigen Gesetzgebung zwei Dinge enorm problematisch. Das ist die Strafandrohung für deutsche Wissenschaftler im Ausland. Gerade in einer Zeit, in der wir den Eindruck haben, wir müssten in der Wissenschaft internationaler werden, ist eine solche Drohung kontraproduktiv. Der zweite Punkt ist: Die Wissenschaft entwickelt sich weiter. Wir dürfen derzeit nur Zellen benutzen, die vor dem 1. Januar 2002 gewonnen wurden. Heute kann man solche Zelllinien ohne die Verwendung tierischer Zellen gewinnen, durch die sie bisher verunreinigt wurden. Der internationale Standard hat sich längst dahin verschoben. Zudem haben die Zellen, die man über viele Jahre immer wieder neu züchtet, irgendwann Schäden im Erbgut. Das ist zunehmend der Fall.
Welchem der vier Vorschläge, die dem Bundestag zur
Abstimmung vorliegen, würden Sie zuneigen?
Aus wissenschaftlicher Sicht wäre es die vernünftigste Lösung, den Stichtag komplett fallen zu lassen, dabei aber die strikten Kontrollmechanismen beizubehalten. Doch ich sehe, dass es für diesen Vorschlag keine Mehrheit geben wird. Was die Forschung aber braucht, ist zumindest die Möglichkeit einer Verschiebung des Stichtags auf ein junges Datum. Sonst sind wir von den internationalen Entwicklungen völlig abgekoppelt. Wir hoffen, dass sich der Vorschlag durchsetzen wird, der eine Verschiebung des Stichtags in den Mai 2007 vorsieht.
Würde das nicht bedeuten, dass in ein paar Jahren eine
neue Regelung gebraucht wird, die den Stichtag erneut
verschiebt?
Niemand kann das mit absoluter Sicherheit sagen, aber ich würde das fast erwarten.
Als sicher kann gelten, dass man in Deutschland für diese
Art der Forschung weiter strenge Bestimmungen haben wird. Wie ist
die Verwendung embryonaler Stammzellen in anderen Staaten
geregelt?
Da gibt es international große Unterschiede. Es gibt Länder, die relativ restriktiv sind, zum Beispiel Japan. Die Schweiz dagegen ist sehr liberal. Großbritannien wird zunehmend fortschrittlich und die USA sind pragmatisch wie immer: Im privaten Bereich ist alles möglich, im staatlichen Sektor gilt eine ähnlich strenge Regelung wie in Deutschland. Ich denke aber, das wird sich ändern.
Können Sie die grundsätzlichen Einwände der
Gegner der embryonalen Stammzellforschung verstehen, die für
ein Verbot der gesamten Forschung auf diesem Gebiet
plädieren?
Da geht es im Grunde immer um die Frage, wann das Leben beginnt und ab wann es schützenswert ist. Aus naturwissenschaftlicher Sicht muss man sagen: Das Leben beginnt mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. Ich bin aber skeptisch bei der Beurteilung, ob das Lebewesen immer und unter allen Umständen, etwa im Falle überzähliger Embryonen, auch sofort schutzbedürftig ist und würde für eine Abstufung plädieren. Man muss aber auch sagen: Die Diskussion ist zu einem Gutteil verlogen.
Warum?
Das wirkliche Problem ist die Abtreibung. Darüber, dass hunderttausende von Embryonen abgetrieben werden, spricht niemand. Es ist doch aber absurd, diese Tatsache hinzunehmen und die Benutzung weniger überzähliger Embryonen, die gar nicht lebensfähig wären, zum Anlass einer Grundsatzdebatte zu nehmen. Wäre man ehrlich, müsste man die Diskussion an einer ganz anderen Stelle führen. Die einzige Organisation, die in dieser Frage wirklich konsequent ist, ist die katholische Kirche.
Das Interview führte Susanne Kailitz.
Professor Otmar Wiestler ist Vorstandsvorsitzender des Deutschen Krebsforschungszentrums Heidelberg.