"Der falsche Weg"
Der frühere Brüsseler Zeit-Korrespondent Joachim Fritz-Vannahme hält es für den realistischsten Weg, die Ratifizierung des EU-Reformvertrags auch nach dem irischen Nein fortzuführen. Im Interview mit der Wochenzeitung "Das Parlament" (Erscheinungstag 23. Juni 2008) sagte er, stattdessen auf der Grundlage des Vertrags von Nizza weiterzumachen, brächte "Härten, Intransparenz und sehr komplizierte Entscheidungsprozesse mit sich".
Joachim Fritz-Vannahme ist seit 2007 Leiter der Europa-Projekte der Bertelsmann-Stiftung.
Das Interview im Wortlaut:
Irland hat Europa schon einmal 2001 die Rote Karte gezeigt. Hat die Politik sowohl national als auch auf europäischer Ebene geschlafen?
Das finde ich diesmal eigentlich nicht. Der Fehler liegt im System. Ich glaube, dass für die komplexe Materie, mit der wir es bei solchen Verträgen zu tun haben, ein Referendum der falsche Weg ist. Ein Referendum ist als Ausdruck direkter Demokratie nur dann sinnvoll, wenn eine sehr einfache Frage formuliert wird. Aber dem Wähler ein Vertragswerk vorzulegen, das unter so komplizierten Umständen unter 27 Mitgliedstaaten ausgehandelt wurde, ist fast unmöglich.
Was genau haben die Iren denn eigentlich abgelehnt?
Die Iren haben über ganz verschiedene Dinge abgestimmt. Diese reichten vom Abtreibungsverbot bis zur Steuerpolitik und vom Neutralitätsgebot bis hin zu einem gerade vollzogenen Wechsel an der Spitze ihrer eigenen, nationalen Regierung. Wir haben es dabei mit einer Gemengelage von Nein-Argumenten zu tun, die nicht einmal alle zwangsläufig anti-europäisch sein müssen und die manchmal falschen oder geschürten Ängsten entsprungen sind. Darüber zu urteilen, ist wahnsinnig schwierig, zumal noch nicht einmal die Hälfte der Wahlberechtigten zu den Urnen gegangen ist.
Ist es noch demokratisch, wenn eine Minderheit von 860.000 Iren eine Mehrheit von einer halben Milliarde Europäern blockieren kann?
Wir haben es hier mit einer Art Zwitter zu tun, denn es gibt bei diesen Referenden eine nationale und eine europäische Komponente. National gesehen ist es vollkommen demokratisch. Auf der europäischen Ebene mutet das ganze natürlich undemokratisch an. Denn man fragt sich, wie kann eine so kleine Minderheit gegenüber der erdrückenden Mehrheit ein solches Veto durchsetzen? Die EU hat versucht, dieser Vetofalle eines Landes - egal, ob auf dem Referendumsweg oder auf parlamentarischem Weg - mit dem Vertrag von Lissabon zu entkommen. Das Verfahren der qualifizierten Mehrheit ist ja Teil des Verfassungstextes. Das Fatale ist, dass dieses Instrument mit dem irischen Nein erstmal nicht kommen wird.
Ist der Vertrag denn überhaupt noch zu retten?
Das wird mit Sicherheit sehr schwierig werden. Aber die Situation ist ja nicht neu, weil wir mit diesen Schwierigkeiten schon seit eineinhalb Jahrzehnten leben. Durch den Prozess der Entwicklung in der EU müssen immer wieder dieselben Fragen neu gestellt werden - und zwar von einer ständig wachsenden Zahl von Teilnehmern.
Und bei einem offenbar abnehmenden Verständnis der Bürger...
Da diese Geschichte hochkompliziert ist, kann ich jeden verstehen, der sich inzwischen etwas gelangweilt zurücklehnt. Viele sagen, das interessiert mich alles überhaupt nicht. Ihr sollt endlich gute Politik machen. Umgekehrt haben natürlich die Politiker durchaus Recht, wenn sie sagen, um bessere Politik machen zu können, brauchen wir bessere Vertragsgrundlagen. Wir leben ja nicht in den Vereinigten Staaten von Europa, sondern wir leben in einer Gemeinschaft von 27 Staaten. Sie haben aus eigener Kraft ein politisches Gebilde - sui generis - geschaffen, das mit nichts vergleichbar ist, was die Weltgeschichte vorher je gesehen hat.
Welche Optionen für die Ratifikation halten Sie nach dem irischen Nein für am wahrscheinlichsten?
Die realistischste ist meiner Meinung nach die Aufforderung, die Ratifizierung zu Ende zu bringen. Das heißt dann: 26 haben ratifiziert, einer hat nicht ratifiziert. Unter diesen Bedingungen könnten wir auf Irland nochmals einen Schritt zugehen und einen europäischen Ratsbeschluss herbeiführen, der die wichtigsten irischen Bedenken aufgreift. Und mit diesem Papier und dem Vertrag geht die irische Regierung noch einmal vor ihr Wahlvolk.
Und die andere Variante?
Bestünde darin, wir machen mit der Grundlage des Vertrages von Nizza weiter. Das brächte Härten, Intransparenz und sehr komplizierte Entscheidungsprozesse mit sich. Dann würden aber alle, die über die Regelungen von Nizza hinauswollen, sich nicht noch einmal die Finger an einem neuerlichen Vertrag verbrennen, sondern vom Passus der verstärkten Zusammenarbeit Gebrauch machen.
Das wäre dann das "Europa der zwei Geschwindigkeiten", das keiner will...
Wir haben dieses Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten im Grunde genommen jetzt schon. Es gibt zum Beispiel Mitgliedstaaten mit und ohne Euro oder Länder, die dem Schengen-Raum beigetreten sind, während andere nicht dabei sind. Dieses Modell könnte durchaus erfolgreich sein, aber das ganze Verfahren ist weder attraktiv noch gemeinschaftlich gedacht.
Ist dieses "europäische Vertragsleiden" ein Zeichen dafür, dass die Demokratie an ihre Grenzen stößt oder ist es einfach ein Konstruktionsfehler der EU?
Die Konstruktion ist ja nicht nach einem einheitlichen Bauplan erfolgt. Ich glaube, dass wir schon zu lange über solche Verfahrens- und Vertragsfragen diskutieren. Wenn wir den Blick einmal für einen Augenblick nach außen richten und uns fragen würden, was ist denn jetzt eigentlich Europas Rolle in dieser Welt, können wir uns das nicht mehr länger leisten.
Was hätte man denn anders machen können?
Also ich habe zum Beispiel nie verstanden, warum wir sowohl beim Verfassungsvertrag als auch beim Vertrag von Lissabon endlose Ratifikationsprozesse haben. Warum konnten sich die 27 nicht darauf einigen, am 9. Mai, dem Europatag, nach dem jeweiligen, nationalen Modus abzustimmen? Dann wüsste auch jeder, dass an diesem Tag über Europa entschieden wird und nicht über die eigene Regierung.
Gab es vielleicht die Befürchtung, im eigenen Land eine Diskussion über Volksabstimmungen loszutreten?
Ich habe deshalb auch gesagt, nach nationalem Modus. Das hätte bedeutet, die Länder, die per Referendum abstimmen, stimmen per Referendum ab, die Länder, die den parlamentarischen Weg gehen, stimmen auf diesem Weg ab. Das wäre ein konstitutiver europäischer Akt gewesen - allerdings nicht die Akklamation, von der Jürgen Habermas träumt, der die Europawahl mit einem europaweiten Referendum verbinden möchte.
Der Philosoph Jürgen Habermas sieht das Problem Europas auch darin, dass nicht klar ist, wohin der Weg Europas wirklich gehen soll. Wo wird Europa Ihrer Meinung nach 2020 stehen?
Ich bin Anhänger einer schwarzen Pädagogik. Europa hat sich in den vergangenen Jahren immer dann bewegt, wenn der äußere Druck gewaltig wurde.
Ist die derzeitige Krise ein Indiz, dass ein Europa der 27 in dieser Form und Tiefe zu groß ist?
Ich bin mir nicht sicher, ob das Argument, Europa kann sich nicht einigen, mittlerweile nicht durch das erweiterte Europa widerlegt ist. Wir haben im Augenblick sehr wohl eine EU der 27, die entscheiden kann. Was sie nicht hat, ist eine wirkliche Vision. Sie schafft es nicht, sich auszumalen, was die europäischen Belange in den nächsten fünf Jahren sein müssten, wie man dorthin kommen und wie man diese lösen kann.
Welches sind für Sie dabei die dringendsten Fragen?
Man weiß heute ganz genau, dass man ein Europa schaffen muss, das in allen globalen Fragen - und das sind nicht in erster Linie Militäreinsätze, sondern Klima, Energie und Migrationsprobleme - mit einer Stimme sprechen muss, weil der einzelne Nationalstaat der EU überfordert ist. Wächst der Druck, wird auch die Fähigkeit, Lösungen zu finden, wachsen.
Das Interview führte Annette Sach.