"Eine verkorkste Debatte"
Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) lehnt die SPD-Forderung nach einem Rechtsanspruch auf einen Hauptschulabschluss weiter strikt ab. In einem Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Erscheinungstag: 11. August) sagte die Ministerin: „Wer heute einen Abschluss nachholen will, kann das jetzt schon tun." Die Debatte halte sie „für verkorkst“.
Schavan kündigte ferner an, sie wolle sich bei der in Kürze stattfindenden Weiterbildungsallianz dafür einsetzen, dass Lernzeitkonten und konkrete Angebote zur Weiterbildung künftig standardmäßig Bestandteile von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen werden.
Die aktuelle Ausgabe von "Das Parlament" beschäftigt sich in einem Schwerpunkt mit dem Thema "Lebenslanges Lernen".
Das Interview mit Annette Schavan im Wortlaut:
"Das Parlament": Frau Schavan, waren Sie erleichtert, als Sie mit
dem Studium fertig waren?
Schavan: Oh ja, denn ich wollte vor allem beruflich loslegen. Als Geisteswissenschaftlerin wusste ich aber auch damals, dass mein Bildungsweg damit nicht abgeschlossen ist. Ich habe in der Begabtenförderung gearbeitet und mich mein ganzes Berufsleben lang mit Bildung beschäftigt. Das bildet weiter.
Da scheinen Sie eine Ausnahme zu sein. Bundesweit fließen nur
fünf Prozent aller Bildungsausgaben in die berufliche
Weiterbildung.
Das zeigt, wie sehr wir in Deutschland immer noch auf Schule, Ausbildung und Hochschule fixiert sind. Zu lange wurde der Eindruck erweckt, die Erstausbildung sei das Wichtigste. Je länger sie dauerte, desto besser. Das Berufsleben begann oft erst mit 30 Jahren, dann kamen die drei stressigen Dekaden und schließlich die Überlegung: Wie komm ich da möglichst früh wieder raus? Das ist doch kein Zukunftsmodell.
Und wie sieht Ihr Zukunftsmodell aus, Frau Ministerin?
Sehr vielfältig und mit vielen Bildungschancen. Die Bürger werden in Zukunft auch als Erwachsene immer wieder an den Ort zurückkehren, an dem sie in jungen Jahren gelernt haben, also das Berufsschulzentrum oder die Hochschule. Unser Zwischenziel ist, den Anteil derer, die sich regelmäßig fortbilden, bis 2015 von heute 43 Prozent auf 50 Prozent zu steigern.
Heißt das, wir sollen länger lernen, damit wir auch
länger arbeiten können?
Zunächst einmal werden wir alle länger leben und folglich auch länger arbeiten. Und wenn der heute siebenjährige im Schnitt 100 Jahre alt werden kann, dann ist doch die Vorstellung schrecklich, dass er nach dem Renteneintritt 33 Jahre lang zu nichts nutze sein soll. Das fixe Renteneintrittsalter wird an Bedeutung verlieren. Das Rentenalter der Zukunft wird flexibel sein.
Und wer muss dann länger arbeiten?
Gerade viele Akademiker würden doch gerne noch länger in ihrem Beruf bleiben. Von 100 auf null auf einen Schlag, das tut auch der Gesundheit nicht gut, weil die Menschen sich dann nicht mehr gebraucht fühlen. In Berufen mit großen körperlichen Anstrengungen wird das natürlich anders sein. Viele von uns werden zudem nicht mehr in dem Beruf aufhören, in dem wir begonnen haben. Deshalb ist lebenslanges Lernen so wichtig. Bildung wird so zur Erweiterung von Möglichkeiten – das ist doch eine schöne Zukunftsvorstellung.
Lebenslanges Lernen, das klingt aber auch gefährlich nach
„lebenslänglich“: der Mensch im dauerhaften
Lern-Stress.
Nicht so pessimistisch. Wir müssen eben erstmal verstehen, das Lernen als Chance, als Geschenk zu begreifen. Diese Mentalität ist bei uns noch nicht so verankert. Lernen wird noch zu wenig mit Lust verbunden.
Im Gegenteil, gerade viele Erwachsene empfinden Lernen als
anstrengend. Sie wissen doch: "Was Hänschen nicht lernt, lernt
Hans nimmermehr".
Das war immer die klassische Aufforderung an Kinder, sich in der Schule mehr anzustrengen. Richtig daran ist: Das Fundament, das die Schule legt, entscheidet letztlich darüber, ob sich jemand auch erfolgreich weiterbilden kann. Wer nie gut lesen gelernt hat, wird schwerlich Lust daran haben, später ein Buch zu lesen. Aber die Richtigkeit des Sprichworts hat ihre Grenzen. Hans lernt auf eine andere Art als Hänschen, mit einem viel größeren Erfahrungsschatz, aber er lernt deswegen nicht schlechter.
Noch sieht man in den Hörsälen allerdings vor allem junge
Leute und einige Senioren. Die mittlere Generation fehlt. Wie
wollen Sie das ändern?
Da wird die derzeitige Umstrukturierung in Bachelor und Master helfen. Es wird mehr Masterstudiengänge geben, die speziell für Berufstätige ausgerichtet sind. Ein zweiter Weg ist das berufsbegleitende Studieren. Es muss flächendeckende Angebote geben, damit auch die Arbeitnehmer studieren können, die ihren Beruf weiter ausüben wollen. Und drittens wollen wir die Hochschulen stärker öffnen für junge Menschen, die aus einer Berufsausbildung kommen. Da ist die Krankenschwester, die Medizin studieren will. Oder der junge Mechatroniker, der eine anspruchsvolle Ausbildung absolviert hat und jetzt Ingenieur werden will. Denen wollen wir helfen.
Aber der Hochschulzugang ist doch Ländersache.
Richtig. Und darum sind jetzt die Länder am Zug. Sie müssen sich auf vergleichbare Zugänge zum Studium einigen. Es kann nicht sein, dass es da 16 verschiedene Varianten gibt. Das versteht doch kein Mensch. Wir brauchen Hochschulzugangsbedingungen, die nicht abschrecken, sondern zeigen, wie es geht.
Hilft der Anspruch auf einen Schulabschluss für Erwachsene,
wie ihn die SPD vorgeschlagen hat?
Diese Debatte ist verkorkst. Einen Abschluss verleiht ein Staat nicht einfach so. Gemeint war doch, dass Erwachsene ohne Schulabschluss diesen auch später noch nachholen können. Das ist, mit Verlaub, selbstverständlich. Wer heute einen Abschluss nachholen will, kann das jetzt schon tun. Er muss nur die Gelegenheit wahrnehmen.
Die meisten Arbeitnehmer beklagen sich nicht über mangelnde
Angebote. Fragt man, warum sie sich nicht fortbilden, dann ist die
häufigste Begründung: keine Zeit. Eine andere
heißt: kein Geld.
Auch da kann man etwas tun. Gegen die Zeitnot sollte es zum Beispiel Lernzeitkonten geben. Dies ist ein gutes Instrument, mit dem Arbeitnehmer im Laufe ihres Berufslebens Zeiten sammeln können, um dann irgendwann eine bezahlte längere Fortbildung nehmen zu können. Zum Geldproblem: Eine Weiterbildungsmaßnahme kostet einen Teilnehmer durchschnittlich 375 Euro. Wer wenig verdient, wird vom Staat in Zukunft eine Bildungsprämie erhalten können, mit der wir einen großen Teil dieser Kosten erstatten.
Im europäischen Vergleich steht die deutsche Wirtschaft in
Sachen Weiterbildung schlecht da. Warum ist das so?
Weil man lange dachte, Bildung sei Privatsache. Fragen wie Bezahlung oder Urlaub werden von Arbeitgebern und Gewerkschaften bis ins Detail ausgehandelt, die Weiterbildung der Mitarbeiter hat einen deutlich geringeren Stellenwert.
Weil Bildung ein Unternehmen immer auch Zeit und Geld kostet. Wer
sich fortbildet, kann in der Zeit nicht arbeiten. Für das
nächste Quartalsergebnis ist das schlecht.
Und langfristig ist es schlecht, keine Anreize für Weiterbildung zu setzen. Moderne Unternehmen müssen erkennen: Wer nicht in Bildung für seine Mitarbeiter investiert, wird seinen Innovationsvorsprung verlieren. Weiterbildung ist ein wichtiger wirtschaftspolitischer Impuls. Das Ermutigende ist, dass diese Botschaft jetzt auch in der Wirtschaft angekommen ist: Weiterbildung ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit.
Woran machen Sie das fest?
Vor vier Jahren gab es nur in 20 Prozent aller Betriebe Vereinbarungen über Weiterbildung. Jetzt sind es 35 Prozent. Das ist eine gute Entwicklung, die weiter forciert werden muss. Dazu habe ich Arbeitgeber und Gewerkschaften eingeladen zur so genannten Weiterbildungsallianz. Nach der Sommerpause im September wollen wir gemeinsam überlegen, was die einzelnen Gruppen einbringen können.
Was soll das bringen?
Wir wollen zum Beispiel die Sozialpartner dabei unterstützen, dass Tarifverträge oder Betriebsvereinbarungen in Zukunft standardmäßig nicht mehr nur Bezahlung und Urlaub regeln, sondern auch Lernzeitkonten und konkrete Angebote zur Weiterbildung. Das wäre ein gutes Ergebnis der Weiterbildungsallianz, mit dem wir uns beim Bildungsgipfel im Oktober sehen lassen könnten.
Das Interview führte Nikolai Fichtner.