Jenseits der Tagespolitik - die Enquete-Kommissionen
Kernenergie, Globalisierung, Gentechnologie - es sind stets
Zukunftsfragen, mit denen sich Enquete-Kommissionen befassen. Mit diesen
überfraktionellen, von Abgeordneten und Sachverständigen
besetzten Arbeitsgruppen versucht das Parlament über den
Tellerrand der Tagespolitik hinauszublicken und
Lösungsansätze für gesellschaftliche Probleme zu
finden. Gerade in Zeiten großen Reformbedarfs sind die
Enquete-Kommissionen so zu
einem wichtigen Instrument der Entscheidungsvorbereitung für
den Bundestag geworden.
2000-2005: "Ethik und Recht der modernen Medizin"
Was ist der Mensch? Wann beginnt er Subjekt zu sein? Wann
fängt das Leben an, wann der Tod? Grundsätzlicher
hätten die Fragen nicht sein können, mit denen sich die
26 Abgeordneten und Sachverständigen der Enquete-Kommission "Ethik und Recht der modernen
Medizin" auseinanderzusetzen hatten. Am 24. März 2000 war im
Bundestag auf gemeinsamen Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU,
Bündnis 90/ Die Grünen und FDP einstimmig beschlossen
worden, die Kommission einzusetzen. So grundsätzlich die
Fragen waren, so vielfältig und komplex war auch die Materie,
die sie berührten: Ob Pränataldiagnostik,
Stammzellforschung, Organtransplantation oder sogar Sterbehilfe -
stets stellte sich in der Diskussion um die medizinisch-technischen
Möglichkeiten auch die ethische Frage nach der Würde des
menschlichen Lebens.
Kontroverse über Möglichkeiten und Grenzen der Biotechnik
Mit der Einrichtung der Enquete-Kommission reagierte das Parlament auf eine seit Jahren in Deutschland schwelende Kontroverse über Chancen und Risiken von Biotechnik und Medizin, die sich immer wieder an einzelnen Ereignissen entzündet hatte: 1996 wurde das erste geklonte Säugetier, das Schaf "Dolly", geboren. Die spätere Ankündigung ihres geistigen Vaters, des britischen Embryonenforschers Ian Wilmut, künftig sogar menschliche Embryonen zu therapeutischen Zwecken klonen zu wollen, rief Entrüstung hervor, weckte aber bei vielen Menschen auch Hoffnung auf Heilung schwerer Krankheiten. Das Embryonenschutzgesetz mit seinem Klonverbot aus dem Jahr 1990 befriedete die Diskussion zunächst. Doch der Streit entbrannte erneut, als die Frage aufkam, ob menschliche Stammzellen in Labors gezüchtet und zu Forschungszwecken verwendet werden dürfen.
Die Politik war aufgerufen, auf den Fortschritt, der sich im
Bereich der Medizin und Biotechnik rasch vollzog, zu reagieren.
Zudem forderten Wissenschafter eine Angleichung an liberalere
Gesetze und zwangen damit den Bundestag zu einer Positionierung. In
Großbritannien beispielsweise war es längst erlaubt,
embryonale Stammzellen für die Pränataldiagnostik zu
gewinnen und mit ihnen zu forschen.
Kommissionsauftrag: Entscheidungen im Bundestag begleiten
Die Kommission nahm unter dem Vorsitz der SPD-Abgeordneten
Margot von Renesse (SPD) im Mai 2000 die Arbeit auf. Sie sollte den
Sachstand erheben, die Forschungspraxis untersuchen und Kriterien
für deren Grenzen konkret benennen. Außerdem galt es,
Gesetzesvorhaben der Legislaturperiode, wie etwa die Umsetzung der
EU-Biopatentrichtlinie, beratend zu begleiten. Dementsprechend
befasste sich der erste Zwischenbericht vom 25. Januar 2001 mit dem
"Schutz des geistigen Eigentums in der Biotechnologie". Darin
empfahl die Kommission dem Bundestag dringend, noch keine
Entscheidung zu treffen, sondern die Problematik erst eingehender
zu prüfen. Ein zweiter Zwischenbericht, den die Kommission
noch im gleichen Jahr, am 21. November 2001, dem Parlament
übergab, behandelte das Thema "Stammzellforschung". Diesen
Bericht hatte der Bundestag kurzfristig am 5. Juli 2001 erbeten, um
ihn in die Vorbereitung des 2002 schließlich verabschiedeten
Stammzellgesetzes mit einzubeziehen.
Schlussbericht: Lob trotz inhaltlicher Differenzen
Gerade in der Diskussion über Stammzellforschung und Pränataldiagnostik waren in der Kommission die gegensätzlichen Positionen aufeinander geprallt. Sie blitzten auch in der Debatte über den Schlussbericht auf, den der Bundestag am 13. Juni 2002 im Plenum beriet. So kritisierte Monika Knoche (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) die Stammzellforschung scharf: Sie degradiere den Embryo durch seine "In-Dienst-Setzung für fremdnützige Interessen" zum "Produkt". Edzard Schmidt-Jortzig (FDP) bedauerte darüber hinaus, dass wichtige Themenbereiche in der Kommission nicht bearbeitet werden konnten und verwies auf die Forschung an einwilligungsunfähigen Personen. Auch in der Frage der Sterbehilfe und Sterbebegleitung müsse der Bundestag "die Kraft finden, verbindlich Stellung zu nehmen", forderte der Abgeordnete.
Trotz inhaltlicher Differenzen zeigten sich die Abgeordneten
insgesamt zufrieden mit der Arbeit der Kommission. So lobte Hubert
Hüppe (CDU/CSU): "Als Abgeordneter habe ich noch kein
parlamentarisches Gremium erlebt, in dem die
Parteizugehörigkeit der Mitglieder so unwichtig war." Und
Wolfgang Wodarg (SPD) bekräftigte: "Wir haben auch durch die
Zusammenarbeit mit der Öffentlichkeit gezeigt, wie gut es ist,
dass man sich über diese Themen streitet."
Breite Öffentlichkeit für Biopolitik und Ethik
Tatsächlich fand kaum eine Enquete-Kommission und ihre Arbeit ähnlich viel
Beachtung in der Öffentlichkeit wie die Kommission "Recht und
Ethik der modernen Medizin". Auch hatte kaum eine Kommission zuvor
so bewusst den Kontakt zur Bevölkerung über
Diskussionsveranstaltungen und Online-Foren gesucht.
Zusätzliche mediale Aufmerksamkeit erzeugte im Jahr 2001 die
Entscheidung des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder
(SPD), erstmalig neben der Enquete-Kommission einen "Nationalen Ethikrat" (heute:
Deutscher Ethikrat) einzurichten, in dem sich 25 Wissenschaftler
mit "ethischen, gesellschaftlichen, naturwissenschaftlichen,
medizinischen und rechtlichen Fragen im Zusammenhang mit der
Forschung in den Lebenswissenschaften" beschäftigen sollten.
Von manchen Parlamentariern zunächst als Konkurrenz zur
Enquete-Kommission empfunden,
sah Wolfgang Wodarg den Ethikrat aber durchaus als Chance. Er habe
die Öffentlichkeit für das Thema erhöht: "Diese
Aufmerksamkeit brauchen wir für die breite Debatte."
Zweite Kommission setzte Arbeit fort
Um die noch offenen Fragen in den Bereichen Organspende, Sterbehilfe und -begleitung zu beraten, beschloss der Bundestag am 20. Februar 2003, dass eine weitere Enquete-Kommission, diesmal unter dem Titel "Ethik und Recht der modernen Medizin", in der 15. Legislaturperiode die Arbeit des Vorgängergremiums fortsetzen sollte. Diese Kommission legte insgesamt drei Teilberichte vor: Der erste, vom 13. September 2004, beschäftigte sich mit der Gültigkeit und Bindungswirkung von Patientenverfügungen, der zweite, vorgelegt am 17. März 2005, befasste sich mit den möglichen rechtlichen Rahmenbedingungen für Lebendorganspenden. Der dritte Zwischenbericht, fertig gestellt am 22. Juni 2005, konzentrierte sich schließlich auf eine Verbesserung der Versorgung von Schwerstkranken.
Einen Schlussbericht konnte diese zweite Enquete-Kommission nicht mehr abgeben. Da die Legislaturperiode wegen vorgezogener Neuwahlen ein Jahr früher endete, übergab die Kommission dem Bundestag am 6. September 2005 schließlich ihre bisherigen Ergebnisse als "Stand der Arbeit".