"Kein Land kann es allein schaffen"
Nach Ansicht der Sprecherin des US- Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, steigert die Globalisierung die Bedeutung nationaler Parlamente. "Wir können von den Europäern lernen, etwa beim CO2-Handel", sagte sie einem Interview mit der Wochenzeitung "Das Parlament" (Erscheinungstag 8. September 2008), die sich in ihrer aktuellen Ausgabe mit dem Schwerpunktthema "USA" beschäftigt. Die wachsenden persönlichen Kontakte seien wichtig, betonte Pelosi, "weil wir weltweit vor ähnlichen Herausforderungen stehen".
Das Interview im Wortlaut:
Sie kommen aus einer italienischen Immigrantenfamilie und vertreten einen eher liberalen, linken Wahlkreis in San Francisco (Kalifornien). Als "Madame Speaker" treten Sie eher überparteilich auf. Enttäuscht das Ihre Wähler?
Einige schon. Aber die meisten haben Verständnis für
den Rollenwechsel. Immerhin bin ich gerade mit 98 Prozent
Zustimmung wieder aufgestellt worden. Ich bin gewiss eine
progressive Demokratin, aber als Speaker muss ich das zurückstellen. Viele Deutsche
könnten sich bei uns in San Francisco zuhause fühlen: Bei
uns ist jedes Kind krankenversichert, wir garantieren zwar keinen
Mindestlohn, aber dafür ein Existenzminimum, das jedem
Menschen ein würdiges Leben ermöglicht. Wir nennen das
die "San Francisco Werte": Fairness, Respekt und die Liebe zur Familie.
Diese Garantien gelten nicht überall in den USA.
Das stimmt. Manche sprechen voll Abscheu über die "San
Francisco Werte". Mich erfüllen sie mit Stolz.
Wie beeinflusst die italienische Abstammung Ihre Arbeit?
Auf dieses Erbe bin ich stolz. Meine Urgroßeltern kamen
aus Italien, mein Vater war Bürgermeister von Baltimore. Auch mütterlicherseits bin
ich rein italienisch, und meine Kinder sind ebenfalls rein
italienischer Abstammung. Bei meinen Enkeln mischt es sich dann
stärker. Sie können manchmal Deutsch bei uns zuhause
hören. Einer meiner Schwiegersöhne stammt aus den
Niederlanden und spricht deutsch.
Sie haben fünf Kinder und sieben Enkel. Was erwarten die von Ihnen, der ersten Frau im Amt des Speakers in der Geschichte der USA?
Sie nennen mich Mimi, zuallererst bin ich ihre Großmutter.
Wenn sie in der Schule die wichtigsten Repräsentanten unseres
Landes durchnehmen und mein Bild dabei auftaucht, reagiert ein Teil
von ihnen mit Scheu, andere sagen zu ihren Mitschülern: Schau
mal, meine Mimi. Mir ist wichtig, dass sie zeitlich nicht zu kurz
kommen und nicht weniger von meiner Aufmerksamkeit genießen,
weil ich jetzt Speaker
bin.
Verlangen die Enkel ein besonderes Eintreten für die Interessen ihrer Generation?
Deshalb habe ich bei meiner Amtseinführung lauter Kinder um
mich versammelt. Allen Kindern in den USA soll es gut gehen, egal
woher sie kommen. Als Großmutter gewinnt man ein besonderes
Verantwortungsgefühl für die nächsten
Generationen.
Welche Rolle haben nationale Parlamente in der internationalen Politik? Wie viel Ihrer täglichen Arbeitszeit widmen Sie der Innen- und wie viel der Außenpolitik?
Die Innenpolitik nimmt den Großteil in Anspruch. Alle
Volksvertreter leisten einen Amtseid, dass sie die Verfassung
verteidigen und das amerikanische Volk schützen. Das betrifft
auch die Außen- und Sicherheitspolitik, eingeschlossen unser
Militär. Wir wollen, dass es hinter keiner anderen Armee
zurückfällt. Aber zugleich wollen wir gesunde
diplomatische Beziehungen. Die Frage, welchen Respekt die USA
genießen, spielt eine große Rolle. Auch die
internationale Zusammenarbeit bei der Begrenzung der
Massenvernichtungswaffen, im Kampf gegen den Terror sowie gegen
Krankheiten, Armut und Erderwärmung sind wichtige
Pfeiler.
Die gegenseitige Abhängigkeit der Staaten nimmt durch die Globalisierung zu. Erhöht oder vermindert das den Einfluss nationaler Parlamente?
Ich meine, es steigert die Bedeutung nationaler Parlamente. Ich
merke das an dem wachsenden Besucherstrom. Jede Woche habe ich
Gäste: aus Taiwan, Saudi-Arabien, Großbritannien, Japan
und anderen Ländern. Im Mai war Bundestagspräsident
Norbert Lammert hier. Diese persönlichen Kontakte sind
wichtig, weil wir weltweit vor ähnlichen Herausforderungen
stehen, zum Beispiel Energiesicherheit, Umwelt- und Klimapolitik.
Jedes Parlament muss zwar national daran arbeiten, aber kein Land
kann es allein schaffen. Es sind ständige Themen, auch
umgekehrt bei meinen Besuchen in Deutschland und anderen Staaten
Europas.
In der öffentlichen Wahrnehmung spielen die Regierungen die ersten Geige, nicht die Volksvertretungen. Wie können Parlamente die Aufmerksamkeit auf ihre Arbeit lenken?
Wir haben unterschiedliche Systeme. Der Präsident mag seine
Meinung haben, wir im Kongress haben unsere eigenen Ansichten. Er
kommt nicht aus unserer Mitte. In vielen anderen Ländern
stützt sich die Regierung auf die Parlamentsmehrheit. In den
USA ist das nicht der Fall. In der Klimapolitik zum Beispiel
stimmen wir überhaupt nicht mit Präsident Bush
überein. Das ist wie Tag und Nacht. Ich möchte jetzt
nicht in einem ausländischen Medium über ihn herziehen,
aber wir haben geradezu gegensätzliche Ansichten.
Was ist Ihr erster Gedanke, wenn Sie das Wort Deutschland hören?
Ich war mehrfach in Berlin, auch in Hamburg und anderen
Städten. Ich liebe Berlin, die Stadt ist so ungeheuer
dynamisch. Und die ganze Kunst dort, das ist phantastisch. Kurz
nach dem Mauerfall war ich auf der Ostseite des Tores. Was hat sich
seitdem alles geändert! Und dann die Besuche amerikanischer
Präsidenten. John F.
Kennedy, "Ich bin ein Berliner". Das ist einfach
unvergesslich. Oder Ronald
Reagen: "Mister Gorbatschow, reißen Sie die Mauer
nieder!" Berlin ist für mich der Ort, an dem der Kampf um die
Freiheit ausgetragen wurde - und wo die Wende errungen
wurde.
Beim Treffen der Parlamentspräsidenten der G8-Staaten in Berlin haben Sie 2007 den Klimawandel ins Zentrum gestellt. Was hat sich seither bewegt?
Die Bush-Regierung hat uns zunächst einen Rückschritt
gebracht. Sie war nicht bereit zu führen. Und sie hat bis zum
vergangenen Jahr geleugnet, dass es die Erderwärmung
überhaupt gibt. Inzwischen sagt sie: Ja, es gibt den
Klimawandel, und menschliches Handeln trägt dazu bei. Das ist
ein Fortschritt, denn damit gibt sie auch zu, dass die Menschen
etwas dagegen tun können. Für die war das eine
völlig neue Erkenntnis. Aber manche dieser Konservativen
bestreiten ja auch die Evolutionstheorie. Das Leugnen
wissenschaftlicher Fakten ging quer durch die Bush-Regierung. Heute ist es keine Frage mehr, ob
wir etwas gegen den Klimawandel tun müssen - sondern nur noch,
wie wir dabei vorgehen. Forschung und Technik können uns dabei
helfen. Es gibt keine einfache Lösung, die Herausforderung ist
groß. Ich bin sehr stolz auf Al
Gore und seine Reden zu dem Thema. Wir können eine
Menge tun, aber wir müssen uns bewusst dafür entscheiden.
Und wir müssen international zusammenarbeiten. Ein Land kann
den Klimawandel nicht allein bekämpfen, aber manchmal reicht
der Widerstand eines Landes, um die Lösung
aufzuhalten.
Lernen die Parlamente dabei voneinander?
Gewiss doch. Wir haben in Deutschland viel Interessantes
gehört. Egal, ob im Rahmen der EU oder der Nato: Wir sprechen mit
allen darüber. Es ist eine Frage der Sicherheit, woher wir
unsere Energie bekommen. Es beeinflusst unsere Wirtschaft. Wir
können neue Jobs schaffen. Auch die Gesundheit hängt
davon ab, wie viele Emissionen wir zulassen. Und es ist eine
moralische Verantwortung, wie wir mit der Erde, diesem Geschenk
Gottes, umgehen. Wir sollten sie in einem besseren Zustand an die
nächste Generation übergeben, als wir sie bekommen haben.
Europa ist uns in diesen Fragen voraus. Wir können von den
Europäern lernen, etwa beim CO2-Handel. Auch von
den Fehlern, die gemacht wurden. Nicht alle Ansätze hatten
Erfolg. Und es ist eindrucksvoll, sich zum Beispiel in einer Stadt
wie Barcelona erzählen zu lassen, was die alles tun, um die
klimapolitischen Vorgaben der EU zu erfüllen - oder sogar noch
besser abzuschneiden.
In diesem Wahljahr in den USA geschieht etwas Seltenes: Die Präsidentschaftskandidaten beider großen Parteien kommen aus dem Repräsentantenhaus, dem Kongress. Barack Obama und John McCain sind Senatoren. Steht das für einen Ansehensgewinn des Parlaments?
Nein, eher nicht. Sie haben zwar Recht: Die Präsidenten der letzten Jahrzehnte waren in der Regel zuvor Gouverneure von Einzelstaaten gewesen. Aber die Präsidentenwahl hier ist vor allem eine Persönlichkeitswahl, es geht weniger um die politische Funktion der Kandidaten. Wir sind sehr stolz auf Barack Obama. Es geht um die Wahl zwischen Vergangenheit und Zukunft. Es geht um ein neues Denken, um unsere Handlungsmöglichkeiten.
Washington ist nach meinem
Gefühl eine Stadt, die in der Vergangenheit verharrt.
Über viele Dinge, die ich als Sprecherin getan habe,
hieß es: Zum ersten Mal seit den 1940er-Jahren... oder: zum
ersten Mal seit 32 Jahren... Viele Gesetze, die wir verabschiedet
haben, hatten eine historische Dimension. Sie veränderten den
Status quo. Dafür mussten
wir große Widerstände überwinden.
Was war besonders umstritten zwischen Kongress und Präsident?
Präsident Bush teilte leider viele unserer Ansichten nicht,
zum Beispiel wenn es um eine Krankenversicherung für jedes
Kind ging. Oder die Förderung der Stammzellenforschung. Oder
das Bekenntnis zur Schlüsselrolle von Bildung und Forschung.
Wir sind bereit für einen neuen Präsidenten. Und für
eine neue Politik, von der Verteidigung über eine allgemeine
Krankenversicherung - die es in Deutschland längst gibt - bis
zum Ziel, die Wirtschaft der USA zu einer "grünen",
umweltfreundlichen Wirtschaft umzubauen, aber bei ausgeglichenem
Budget. Wir müssen
aufhören, mehr auszugeben, als wir einnehmen. Wir sind bereit
für einen neuen Präsidenten. Und er ist bereit.
Die Kandidaten haben auch erstmals richtig Wahlkampf im Ausland geführt. John McCain war in Kolumbien, Barack Obama reiste nach Europa und hielt in Berlin eine Rede an der Siegessäule. Wie denken Sie darüber? Sollen ausländische Politiker in die USA kommen und auf der National Mall in Washington oder vor der Freiheitsstatue in New York Wahlkampf führen?
Ich bin zuallererst für die Freiheit, zu reden. Denn ich komme aus Kalifornien. Natürlich müssen Politiker darauf achten, welche Auftritte an welchen Orten passend sind. Aber es gibt symbolische Orte, die gehören der ganzen Welt. Wenn jemand eine Rede zum Einwanderungsrecht vor der Freiheitsstatue halten möchte, dann ist das sehr passend, ganz egal woher der Redner stammt. Es gibt natürlich kulturelle und nationale Empfindlichkeiten, die muss man respektieren.
Das Interview führte Christoph von Marschall.