"Alles war ein bisschen unwirklich"
Sommerpause im Bundestag - Zeit für das bundestag.de-Sommerinterview: Langjährige Abgeordnete aller Fraktionen berichten an dieser Stelle über ihre Erfahrungen im Parlament. Heute: Barbara Höll (DIE LINKE.). Die 50-Jährige saß bereits zwischen 1990 und 2002 im Bundestag und wurde 2005 wieder in das Parlament gewählt.
Warum haben Sie sich vor Ihrer ersten Kandidatur überhaupt dafür entschieden, sich für den Bundestag aufstellen zu lassen?
Meine erste Kandidatur war 1990, das war die Wendesituation. Ich hatte einfach das Gefühl, dass ich politisch aktiv werden muss. Ich hatte für die letzte Volkskammerwahl kandidiert, für den Demokratischen Frauenbund, und bin von der damaligen PDS gefragt worden, ob ich als unabhängige Kandidatin antreten möchte. In der politischen Arbeit sah ich die Möglichkeit, für Frauenrechte erfolgreich einzutreten. Das, was wir in der DDR schon hatten, also etwa das Abtreibungsrecht und die Kinderbetreuungseinrichtungen, wollte ich jetzt für Gesamtdeutschland erreichen.
Was war das für ein Gefühl, als Sie das erste Mal als
Abgeordnete im Plenarsaal saßen?
Es war ein bisschen unwirklich, weil ich vor der Grenzöffnung nie in der Bundesrepublik war. Und dann gleich im höchsten Parlament zu sitzen, war merkwürdig. Wir PDSler wurden auch bei bestimmten Debatten wie Menschen von einem anderen Stern betrachtet, hatte ich das Gefühl. Auch in persönlichen Gesprächen. Man wurde gefragt: "Was, Sie haben in der Schule Goethe gelesen?". Es gab viel Unverständnis, und ich hatte schon das Gefühl, man musste viel Aufklärung leisten.
Wovon handelte Ihre erste Rede?
Meine erste Rede befasste sich mit Kindern. Ich glaube, es ging um die Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention durch die Bundesrepublik.
Welche Plenarsitzung war für Sie die
bedeutendste?
Zum einen die Debatte um den Umzug des Bundestages von Bonn nach Berlin, die war sehr emotional. Dann natürlich die Debatte zum Paragrafen 218. Das Recht auf Abtreibung ist eine existenzielle Frage für Frauen. Wie Männer in der Debatte zum Teil Urteile über das Selbstbestimmungsrecht der Frauen gefällt haben, das war schon heftig. Die haben Frauen unterstellt, dass sie nicht wissen, dass mit einer Schwangerschaft Leben entsteht. Das fand ich sehr anmaßend.
Es heißt häufig, die wichtigen Entscheidungen
würden hinter den Kulissen fallen. Wie viel Zeit verbringen
Sie im Plenarsaal im Vergleich zu Arbeitsgruppen,
Fraktionssitzungen und ähnlichem?
Ich vermute, zwischen 10 und 20 Prozent der Zeit verbringe ich im Plenarsaal. Eigentlich zu wenig. Mehr geht aber nicht, denn wenn ich einer Debatte folge, höre ich zu und versuche die Argumente zu Themen aufzunehmen, mit denen ich mich nicht so intensiv befasse. Aber ich brauche natürlich auch Zeit, meine Themen vorzubereiten, also Steuerpolitik und Gleichstellung der Lebensweisen. Und dann brauche ich ja auch noch Zeit für die Gespräche mit außerparlamentarischen Vertretern.
Gibt es etwas, an dass Sie sich auch nach knapp 20 Jahren im
Bundestag nicht gewöhnt haben?
Ja, das ist die Frage des Selbstverständnisses des Parlamentes. Bei vielen Diskussionen habe ich das Gefühl, die Abgeordneten entscheiden nicht nach ihrem Gewissen, wie es eigentlich ihre Aufgabe ist. Oft bekomme ich nach einer Debatte zu hören, es tue ihnen leid, sie hätten gerne anders entschieden, aber ihre Fraktion wolle es so. Das finde ich immer wieder erstaunlich bis erschreckend.