Jenseits der Tagespolitik - die Enquete-Kommissionen
Kernenergie, Globalisierung, Gentechnologie – es sind stets Zukunftsfragen, mit denen sich Enquete-Kommissionen befassen. Mit diesen überfraktionellen, von Abgeordneten und Sachverständigen besetzten Arbeitsgruppen versucht das Parlament, über den Tellerrand der Tagespolitik hinauszublicken und Lösungsansätze für gesellschaftliche Probleme zu finden. Gerade in Zeiten großen Reformbedarfs sind die Enquete-Kommissionen so zu einem wichtigen Instrument der Entscheidungsvorbereitung für den Bundestag geworden.
Hausbesetzungen, gewalttätige Demonstrationen, wie etwa gegen
die öffentliche Rekrutenvereidigung der Bundeswehr am 6. Mai,
wachsender Unmut gegenüber politischen Entscheidungen wie dem
Nato-Doppelbeschluss oder dem geplanten Atom-Endlager in Gorleben
– es ist eine Welle von Protesten, die die Bundesrepublik
Deutschland 1980 erschüttert: Seit Mitte der siebziger Jahre
wächst eine alternative Szene und mit ihr die
Unterstützung für neue soziale Bewegungen.
Am 13. Januar 1980 gründen sich in Karlsruhe „Die
Grünen“, als bundesweite
„Anti-Parteien-Partei“. Dass immer mehr junge Menschen
die gesellschaftliche Ordnung nicht als die ihre empfinden, ist
nicht mehr zu übersehen.
Parteienstreit zum Start der Kommission
Als zum Jahreswechsel in Berlin-Kreuzberg Barrikaden brennen, Supermärkte geplündert werden und Autonome die Polizei bei Straßenkämpfen in die Flucht schlagen, reagiert die Politik: Am 7. April 1981 stellt die sozial-liberale Regierungskoalition einen Antrag auf Einsetzung einer „Enquête-Kommission“ um „Ursachen, Formen und Ziele der Proteste junger Menschen" zu untersuchen und „Möglichkeiten für eine Verbesserung des Verständnisses zwischen den Generationen, zwischen Jugend und Politik" aufzuzeigen.
Die konservative Opposition reagiert zunächst ablehnend:
„Brauchen wir eine Kommission?“, fragt Herrmann
Kroll-Schlüter in einer Debatte im Plenum am 10. April 1981.
In jeder Legislatur gebe es einen Jugendbericht, dazu ein
Bundesjugendkuratorium, das die Regierung bei jugendpolitischen
Fragen unterstütze, aber hätten alle „Berichte,
Studien, Modelle und Programme“ je etwas genützt?
Dagegen seien wichtige jugendpolitische Reformen wie das
Jugendhilfegesetz gescheitert, kritisiert der CDU-Abgeordnete. Doch
die Regierung hält dagegen, Jugendpolitiker Rudolf Hauck (SPD)
stellt die zentrale Frage: „Verlässt die Jugend unsere
Gesellschaft?“
Arbeit im Dialog mit der Jugend
Die Opposition lenkt ein: Am 26. Mai 1981 beschließt der Bundestag einvernehmlich die Einrichtung der Enquête-Kommission. Rund fünf Wochen später, am 2. Juli 1981 nimmt das achtköpfige Gremium (vier Parlamentarier, darunter der frühere Juso-Vorsitzende und spätere Bundeskanzler Gerhard Schröder, sowie fünf Wissenschaftler) unter dem Vorsitz des CDU-Politikers Matthias Wissmann seine Arbeit auf.
Diese Arbeit, das zeigt bereits der Zwischenbericht (28. April
1982), hat sich die Kommission nicht leicht gemacht: In insgesamt
32 Sitzungen haben die Mitglieder nicht nur Wissenschaftlern und
Verbandsvertretern zugehört, sondern auch den Jugendlichen
selbst: In Berlin besuchten sie alternative Projekte, diskutierten
sogar in einem besetzten Haus mit Hausbesetzern, in Gelsenkirchen
mit arbeitslosen Jugendlichen und jungen Ausländern.
Schlussbericht: Einmütigkeit und Selbstkritik über
Parteigrenzen hinweg
Die Ergebnisse dieser Anhörungen, die die Kommission in einem 49-seitigen Schlussbericht am 17. Januar 1983 vorlegt, enthalten zwar wie Presse kritisch bemerkt, auch „Binsenweisheiten“. Dass Jugendliche angesichts wachsender Arbeitslosigkeit Angst vor der Zukunft haben, fehlende Geborgenheit in der anonymen Industriegesellschaft verspüren, und „die soziale Wirklichkeit anders als die Mehrheit der Erwachsenen" erleben und bewerten – diese Erkenntnisse seien nicht originell.
Neu jedoch ist, dass sie dieses Mal nicht nur in Zeitungsartikeln
und Jugenderhebungen festgehalten werden, sondern in einer
parlamentarischen Kommission mit ihrer überparteilichen
Legitimation. Und noch etwas überrascht: Der Bericht zeigt in
Analyse der Probleme und Handlungsvorschlägen große
Einigkeit zwischen den Parteien, etwa in der einstimmig getroffenen
Formulierung der Kriegsdienstverweigerung.
Auch zeigten sich Regierungs- wie Oppositionspolitiker
selbstkritisch: Dass es mit ihrer Glaubwürdigkeit bei
Jüngeren nicht zum Besten steht, räumen sie im Bericht
ein, sehen sogar im Entstehen neuer Parteien einen Beweis
dafür, wie flexibel das politisches System „auf die
Anliegen der Bürger reagieren kann".
Protestpartei zieht in Bundestag ein
Die Veröffentlichung des Kommissions-Schlussberichts fiel bereits in die Zeit des Bundeswahlkampfs. Die sozial-liberale Koalition war im Oktober 1982 gescheitert, nach den Neuwahlen im März des darauf folgenden Jahres konnten nun CDU und FDP eine Koalition bilden. Aber es gab einen weiteren, neuen Gewinner: Die alternative Protestpartei „Die Grünen“ zog zum ersten Mal ins Parlament ein.