225. Sitzung
Berlin, Freitag, den 29. Mai 2009
Beginn: 09.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nehmen Sie bitte Platz. - Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, möchte ich die anwesenden 350 amerikanischen Stipendiaten des Parlamentarischen Patenschafts-Programms auf den Tribünen im Plenarsaal herzlich begrüßen.
Diese jungen Amerikanerinnen und Amerikaner bilden bereits den 25. Jahrgang des Parlamentarischen Patenschafts-Programms und besuchen anlässlich dieses Jubiläums heute den Deutschen Bundestag.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, das Parlamentarische Patenschafts-Programm wurde 1983 vom Bundestag und dem amerikanischen Kongress vereinbart, und seit nunmehr 25 Jahren reisen die jungen Stipendiaten jeweils für ein Jahr in das Partnerland. Dieser Austausch fördert das gegenseitige Verständnis und trägt wirkungsvoll dazu bei, neben der Kenntnis des Landes auch die persönlichen, die menschlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Amerika dauerhaft zu stärken.
Sie, liebe Stipendiatinnen und Stipendiaten, vertreten heute gewissermaßen die 18 500 Amerikaner und Deutschen, die an diesem Programm inzwischen erfolgreich teilgenommen haben und so etwas wie junge Botschafter ihres Landes auf der jeweils anderen Seite des Atlantiks gewesen sind.
Ich möchte Ihnen weiterhin einen interessanten Aufenthalt in Deutschland wünschen. Ich nutze die Gelegenheit gerne, um nicht nur den zahlreichen Kolleginnen und Kollegen für ihren Einsatz als Pate in den Wahlkreisen zu danken, sondern ausdrücklich auch den ehrenamtlichen Gastfamilien, den engagierten Austauschorganisationen sowie der Bundestagsverwaltung.
Ich rufe nun unsere Tagesordnungspunkte 36 a und 36 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines ? Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 91 c, 91 d, 104 b, 109, 109 a, 115, 143 d)
- Drucksache 16/12410 -
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)
- Drucksache 16/13221 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Günter Krings
Volker Kröning
Dr. Volker Wissing
Wolfgang Ne¨kovic
Jerzy Montag
b) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Begleitgesetzes zur zweiten Föderalismusreform
- Drucksache 16/12400 -
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)
- Drucksache 16/13222 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Günter Krings
Volker Kröning
Dr. Volker Wissing
Wolfgang Ne¨kovic
Jerzy Montag
- Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/13223 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Steffen Kampeter
Volker Kröning
Otto Fricke
Roland Claus
Alexander Bonde
Über den Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes werden wir später, also nach Abschluss dieser Beratungen, namentlich abstimmen. Ich mache darauf aufmerksam, dass zur Annahme dieses Gesetzentwurfes die Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Deutschen Bundestages erforderlich ist. Zu diesem Gesetzentwurf liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktionen der FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst der Kollege Dr. Peter Struck für die SPD-Fraktion.
Dr. Peter Struck (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, das Thema, über das wir heute sprechen, ist für die amerikanischen Freunde auf der Tribüne nicht ganz so prickelnd.
Trotzdem ist es für unsere Verfassung und für Deutschland wichtig.
Ich will nicht auf die Einzelheiten der Föderalismusreform eingehen, sondern einige Kritikpunkte aufgreifen, über die in den vergangenen Tagen nicht nur in meiner Fraktion, sondern auch in anderen Fraktionen diskutiert worden ist.
Der erste Kritikpunkt war: Die Regelungen, die wir beschließen wollen, gehörten, weil sie zu sehr ins Detail gehen, nicht ins Grundgesetz. Ich empfehle einen Blick auf Art. 106 im aktuellen Grundgesetz. Dieser eine Artikel umfasst ungefähr drei Seiten.
Meine Damen und Herren, die Aufgabe, die Finanzverfassung zwischen Bund und Ländern zu regeln, ist natürlich etwas komplizierter als die Formulierung eines Grundrechts. Ein Konzern, der ein ähnliches Problem der Zusammenarbeit zu lösen hätte, müsste Verträge aufsetzen, die zig Seiten umfassen würden. Ein Grund, warum es zu dieser Regelung kam, besteht darin, dass die Länder bestimmte Regelungen verfassungsfest festlegen wollten. Das kann ich nachvollziehen. Denn eine verfassungsfeste Regelung ist die Garantie, dass der Bund bereit ist, bestimmte Leistungen für die Länder zu erbringen.
Ein zweites Argument, das gegen die Entscheidung, die die Föderalismuskommission getroffen hat, vorgebracht wird, lautet, die Schuldenbegrenzung für den Bund sei zu eng gefasst. Es wird die Befürchtung geäußert, der Bundestag bzw. der Bundesgesetzgeber sei aufgrund der Schuldenbegrenzung irgendwann gezwungen, Sozialleistungen zu kürzen, weil die Schuldengrenze dies erfordere. Diese Befürchtung ist wirklich unbegründet, meine Damen und Herren; Finanzminister Steinbrück wird sich dazu noch äußern.
Es geht um einen Schuldenpfad, der im Jahre 2011 beginnt und im Jahre 2016 bei den berühmten 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts endet. Wie jeder weiß, können auch Sondersituationen berücksichtigt werden. Es gibt insgesamt drei Ausnahmen, in denen die Aufnahme zusätzlicher Schulden erlaubt ist: die konjunkturelle Verschuldung, die strukturelle Verschuldung und die Verschuldung in Ausnahmesituationen. Es ist absurd, anzunehmen, die Schuldengrenze würde den Staat knebeln.
Beim dritten Kritikpunkt an den getroffenen Regelungen geht es um die Frage: Erlegen wir den Ländern nicht zu viele Pflichten auf? Natürlich weiß jeder, der an den Sitzungen der Föderalismuskommission teilgenommen hat, dass der Vorschlag, den Herr Oettinger und ich - wir waren die Vorsitzenden der Kommission - gemacht haben, zum Inhalt hatte, den Ländern die Möglichkeit einzuräumen, ihre Schulden auf 0,15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu begrenzen, und zwar auch im Jahre 2020; nach aktuellen Zahlen wären das ungefähr 4 Milliarden Euro. Diese Vereinbarung ist übrigens auch im Koalitionsausschuss getroffen worden. Die Länder haben in der Föderalismuskommission allerdings gesagt: Wir wollen im Jahre 2020 die Nullgrenze erreichen.
Natürlich akzeptiere ich diese Meinung der Länder, stelle für meine Fraktion aber ausdrücklich fest: Wenn der Bundesrat, der an dieser Stelle zuständig ist, zu dem Ergebnis kommt, dass diese Schuldengrenze nicht einzuhalten ist, und mit Zweidrittelmehrheit eine andere Entscheidung trifft, dann werden wir diese Entscheidung mittragen. Das ist gar keine Frage.
Ich weiß, dass über dieses Thema in der Koalition noch eine Debatte zu führen ist. Daher stelle ich zunächst einmal nur für mich und meine Fraktion fest: Wir würden einer solchen Entscheidung nicht im Wege stehen. Warten wir erst einmal ab, ob die Länder überhaupt eine Zweidrittelmehrheit erreichen. Um es deutlich zu sagen: Nach den Gesprächen, die bisher geführt worden sind, sehe ich das nicht.
Der vierte Kritikpunkt betrifft das sogenannte Kooperationsverbot, also die Regelung zu Art. 104 b Grundgesetz. Diese Regelung hat nur mittelbar mit den Finanzbeziehungen zu tun. Ich stelle fest, auch als Vorsitzender der SPD-Fraktion: Die Regelungen, die wir zu Beginn dieser Wahlperiode, als es um die Föderalismusreform I ging, getroffen haben, übrigens auch auf Wunsch der Länder, sind unpraktikabel. Die Entscheidung, fast keine Möglichkeit der Zusammenarbeit im Bildungsbereich vorzusehen, war falsch. Das ist eindeutig.
Ich stelle aber auch fest: Im Bundesrat gibt es keine verfassungsändernde Mehrheit für eine Änderung.
- Ganz langsam. Man sollte keine Zwischenrufe machen, wenn man keine Ahnung hat, Frau Enkelmann. Das empfehle ich Ihnen.
Die jetzige Regelung zur Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern ist eine Regelung, die die Länder wollten. Die Länder wollten nicht, dass ihnen der Bund Geld für solche Bereiche zur Verfügung stellen kann, in denen er keine Gesetzgebungsbefugnisse hat. Das war eine Forderung der Länder. Diesen Beschluss haben wir im Rahmen der ersten Föderalismusreform gefasst. Schließlich mussten wir eine Einigung erzielen.
Jetzt haben wir folgende Situation: Fast unmittelbar nach der Verabschiedung der ersten Föderalismusreform hat der Bund erstens entschieden, den Ausbau der Krippenplätze für Kinder bis zu einem Jahr in einer Größenordnung von 4 Milliarden Euro bis zum Jahre 2013 zu fördern. Das ist eine Aufgabe, deren Erledigung eigentlich den Ländern bzw. den Kommunen obliegt.
Zweitens hat der Bund im Anschluss an die Föderalismusreform I beschlossen, die Hochschulpolitik zu fördern, Stichwort: Hochschulpakt. Auch hierfür stellt er vernünftigerweise viel Geld zur Verfügung.
Das Dritte und Gravierendste in der letzten Zeit war das Konjunkturprogramm II. Wir haben eine Menge Geld dafür bereitgestellt - 13 Milliarden Euro -, dass die Kommunen Infrastrukturmaßnahmen finanzieren können. Wegen der jetzigen Verfassungslage mussten wir eine Menge Verrenkungen vornehmen, durch die es uns ermöglicht wird, den Kommunen Geld für die energetische Sanierung ihrer Schulgebäude zu geben. Das ist eigentlich absurd, weil mir manche Kommunen gesagt haben: Eine energetische Sanierung müssen wir nicht durchführen, wir bauen eine neue Turnhalle nach den entsprechenden Gesichtspunkten. - Das durften sie aber nicht. Hier haben wir auch eingegriffen - Sie wissen das - und das einigermaßen korrigiert.
Durch diese drei Beispiele zeigt sich, dass die jetzige Verfassungslage falsch ist.
Wir haben in der Föderalismuskommission II versucht, das zu korrigieren. Wir haben das leicht korrigiert, aber nicht so, wie ich mir das vorgestellt habe und wie meine Fraktion das in der Föderalismuskommission II leider ohne Erfolg beantragt hat. Ich sage ausdrücklich: ?ohne Erfolg? auch deshalb, weil die Länder nicht mitgemacht haben. Man muss hier feststellen - das will ich noch einmal sagen -, dass die Zusammenarbeit zwischen dem Bund und den Ländern im Bildungsbereich absolut unbefriedigend ist. Hier muss korrigiert werden. Vielleicht geschieht das ja im Laufe der nächsten Wahlperiode.
Das letzte Argument, das auch häufig vorgebracht worden ist, lautet, dass die Bestimmung, die wir eingeführt haben, wonach die Länder ab dem Jahre 2020 keine Schulden mehr machen dürfen, verfassungswidrig ist. Wenn es um ein Gesetz ging, habe ich in den fast 30 Jahren, in denen ich hier im Bundestag bin, oft genug das Argument gehört, das Gesetz sei verfassungswidrig. Für mich ist ein Gesetz erst dann verfassungswidrig, wenn das vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe festgestellt worden ist.
Das ist eine logische Überlegung. Das sage ich auch als Jurist.
Wenn jemand meint, es sei verfassungswidrig, dann soll er klagen. Ich habe gehört, dass vier Fraktionen des Landtags Schleswig-Holstein gegen diese Regelung, die wir festgelegt haben, klagen wollen. Sollen sie klagen!
Wenn das Ergebnis lautet, die Regelung ist verfassungswidrig, dann werden wir das natürlich korrigieren. Ich halte eine Klage für aussichtslos, aber ich weiß, dass vor Gericht und auf hoher See alles in Gottes Hand ist.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Ich weiß, dass sich die Kolleginnen und Kollegen der FDP in dieser Debatte nicht nur aus taktischen, sondern auch aus politischen Gründen enthalten - ich würde das gerne ganz genauso machen -, um zu klären, ob es mit der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion eine Zweidrittelmehrheit im Deutschen Bundestag gibt. Ich hoffe, Herr Kollege Westerwelle, dass sich diese Haltung bei der Bundesratsentscheidung nicht auch niederschlägt, sondern dass Sie dafür sorgen werden, dass auch im Bundesrat die nötige Zweidrittelmehrheit für diese Verfassungsänderung gewährleistet ist, wenn ihr denn hier im Deutschen Bundestag zugestimmt wird.
Darum appelliere ich an Sie. Ich bin mir aber ganz sicher, dass ich mich darauf verlassen kann.
Die Föderalismusreform ist ein ganz schwieriges Thema. Ich bin mir auch sicher, dass sie noch nicht beendet ist. Der nächste Bundestag wird sicher wieder eine Kommission zum Thema Bildung und zur Neugliederung unserer Bundesrepublik bzw. zur Länderneugliederung einzusetzen haben. Das ist gar keine Frage.
Trotzdem appelliere ich an Sie alle - auch an diejenigen, die noch überlegen, ob sie dem zustimmen können -: Stimmen Sie bitte zu. Das ist ein Fortschritt für unser Land. Es lohnt sich, für diese Föderalismusreform mit Ja zu stimmen und für sie einzutreten.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Dr. Volker Wissing von der FDP-Fraktion ist der nächste Redner.
Dr. Volker Wissing (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in dieser Föderalismuskommission II erlebt, wie schwer sich einige - insbesondere der SPD - damit getan haben, die Frage, ob wir die Verschuldung begrenzen wollen, eindeutig mit Ja zu beantworten. Deswegen will ich hier einmal damit anfangen, über Zinsen zu reden, die der Staat in Milliardenhöhe Jahr für Jahr zahlt, und die Frage stellen, wie sozial diese Zinszahlungen eigentlich sind.
Es gibt hier ja einige, die meinen, es sei besser, das Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler an Banken statt zur Bewältigung sozialer Aufgaben auszugeben.
Nichts anderes als das ist die Konsequenz Ihres Widerstandes gegen eine effektive Verschuldungsbegrenzung, den Sie in den Kommissionen geleistet haben und den Sie auch nach der Kompromissfindung wieder haben aufleben lassen.
Wenn Sie einen Blick in den Bundeshaushalt werfen, werden Sie feststellen, dass die Zinslasten bedrohlich sind. Das bleibt nicht ohne Folgen. Es schränkt die politische Gestaltungsfähigkeit ein. Jeder Euro, den wir für Zinsen ausgeben, fehlt an anderer Stelle für Investitionen in Forschung und Entwicklung, für soziale Aufgaben ebenso wie für Investitionen in Bildung und Kultur.
Deshalb ist es unverantwortlich, immer wieder zu behaupten, die Schuldenpolitik des Staates hätte irgendetwas mit sozialer Gerechtigkeit zu tun. Das Gegenteil ist der Fall.
Wer wie Teile der Sozialdemokraten oder wie die Linke geschlossen gegen die effektive Schuldenbremse eintritt, der sollte den Menschen in unserem Land auch sagen, warum er das Geld der Bürgerinnen und Bürger lieber an Banken überweist, statt in Bildung, Forschung und Entwicklung oder in moderne Infrastruktur zu investieren.
Die FDP hat sich aus diesem Grund entschlossen, für eine effektive Verschuldungsbegrenzung zu kämpfen. Wir haben konkrete Vorschläge gemacht, wie der Bund-Länder-Finanzausgleich neu geregelt, die Verschuldung begrenzt und - was zwingend erforderlich ist - gleichzeitig eine größere Finanzautonomie der Länder geschaffen werden kann. Denn es ist nicht sinnvoll, auf der einen Seite den Gestaltungsspielraum einzuschränken, ohne auf der anderen Seite neue Gestaltungsmöglichkeiten zu eröffnen. Dass das letzten Endes nicht möglich war, geht auf eine Entscheidung der Großen Koalition zurück. Sie haben sich entschlossen, bei der Reform die Themen Bund-Länder-Finanzausgleich und Finanzautonomie auszuklammern, und sich nur noch mit der Verschuldungsfrage beschäftigt.
Ohne eine Neuregelung des Finanzausgleichs und ohne ein Mehr an Finanzautonomie wird aber nie ein großer Wurf in dieser Frage zu erreichen sein.
Insofern war der Kompromiss, der in der Föderalismuskommission gefunden wurde, ein kleiner gemeinsamer Nenner. Es war zwar weit weniger als das, was die FDP vorgeschlagen hat - wir hatten konkrete Gesetzentwürfe für alle Bereiche vorgelegt, mit denen wir alles abgearbeitet haben, was zum Auftrag der Kommission gehörte -, aber der Kompromiss, den wir gefunden haben, war trotz allem mehr als nichts. Es war ein Schritt in die richtige Richtung, und es war eine Chance. Deswegen haben wir das in der Kommission auch mitgetragen.
Herr Kollege Struck, wenn es bei diesem Kompromiss bleiben sollte, dann wird die FDP weiterhin den Weg aus dem Schuldenstaat mitgehen. Ich glaube, das dürfte völlig außer Frage stehen. Dazu haben wir eine glasklare Position.
Es ist aber unverständlich, dass das SPD-Präsidium mit der jüngsten Erklärung den Kompromiss quasi zum Zwischenschritt degradiert hat und die heutige Bundestagsentscheidung als eine Art Diskussionsgrundlage für weitere Beratungen im Bundesrat sieht. Das hatten wir in der Föderalismuskommission nicht miteinander vereinbart.
Herr Kollege Struck, dass ausgerechnet Sie sich für diesen Weg offen zeigen, ist mir ehrlich gesagt unverständlich. Es ist für mich nicht vorstellbar, dass der Bund den Ländern Konsolidierungshilfen zahlt, der nivellierende Finanzausgleich erhalten bleibt und die Länder weiterhin frei Schulden machen können. Wer soll eine solche Lösung dann noch als Erfolg bezeichnen?
Wir waren und sind uns sicherlich einig, dass der Kompromiss in der Föderalismuskommission niemals zustande gekommen wäre, wenn die Länder vorgeschlagen hätten, die Frage der eigenen strukturellen Neuverschuldung offen zu lassen, um sie später in einem Bundesratsverfahren zu klären.
Wir hätten uns gewünscht, dass es in der parlamentarischen Beratung gelingen würde, die nicht sehr gelungene Formulierung des Gesetzestextes zu verbessern. Auch in der Sachverständigenanhörung wurde einiges an Kritik vorgetragen. Aber das wurde mit Hinweis auf den Kompromiss abgelehnt: An den Texten, die verbesserungswürdig wären, durfte nichts geändert werden. Dagegen sind Sie für eine Änderung in einer fundamentalen Frage, die für uns quasi die Bedingung war, das Vorhaben mitzutragen. An dieser zentralen Schraube wollen Sie jetzt drehen. Diesen Weg gehen wir heute nicht mit.
Weil Teile Ihrer Fraktion den Ausstieg aus dem Schuldenstaat nicht mitgehen, wollen Sie den Gesetzentwurf über den Bundesrat entschärfen. Für uns ist dieser Kompromiss - ich betone es noch einmal - kein Zwischenschritt. Wir sind nicht bereit, Ihnen heute einen wackeligen Weg in den Bundesrat zu ebnen, weil Sie in Wahrheit in den eigenen Reihen keine einheitliche Position gegen die Staatsverschuldung zustande bringen konnten.
Die FDP steht weiterhin zu ihrer Forderung nach einem Paradigmenwechsel in der Haushaltspolitik. Wir wollen endlich hin zu einer Politik der Generationengerechtigkeit. Aber dann müssen Fehlanreize im System effizient beseitigt werden. Eine dauerhafte strukturelle Neuverschuldung der Länder kommt für uns - das sage ich in aller Deutlichkeit - nicht in Betracht.
In der Finanz- und Haushaltspolitik sind mittlerweile alle Dämme gebrochen. Der Bundeshaushalt ist ein einziges ?Wünsch dir was?. Wenn Sie das Geld wenigstens für Strukturreformen ausgäben und mehr Nachhaltigkeit und neue Chancen für unsere Gesellschaft erreichten, wäre etwas geschaffen. Aber das Gegenteil ist der Fall.
Es gibt einen weiteren Grund, daran zu zweifeln, dass die Verfassungsänderung, über die wir heute abschließend beraten, von den Ländern überhaupt ernst genommen wird. Es genügt ein Blick auf die Bundesratsbank.
Dann wird allen, glaube ich, deutlich, dass das, über was heute entschieden werden soll, nicht die eigentliche Entscheidung sein soll, sondern dass alle darauf setzen, das Kompromisspaket wieder zu öffnen, und zwar hin zu neuer Staatsverschuldung. Das lehnen wir ganz klar ab.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun die Kollegin Antje Tillmann für die CDU/CSU-Fraktion.
Antje Tillmann (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Feierlichkeiten zum 60-jährigen Geburtstag unserer Republik sind noch nicht lange her. Viele Menschen haben die Gelegenheit genutzt, sich noch einmal mit den Texten unserer Verfassung zu befassen. Auch wir Abgeordnete haben in zahlreichen Veranstaltungen die Verfassungstexte noch einmal auf uns wirken lassen und dabei erneut festgestellt, dass die Grundrechtsartikel auch in ihrer Formulierung eingängig und überzeugend sind. ?Die Würde des Menschen ist unantastbar.? Mit diesen einfach anmutenden Worten in Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes stellt es klar: Nicht der Staat, nicht politisches Gezänk und nicht bestimmte gesellschaftliche Gruppen sind das Maß der Dinge. Es ist der Mensch, der im Mittelpunkt unserer Verfassung steht. In den folgenden Artikeln geht es ebenfalls um den Menschen, Gerechtigkeit, Solidarität und Chancengleichheit.
Ja, ich teile die Auffassung, dass auch die Klarheit der Worte und die Ästhetik in der Formulierung einen Wert unserer Verfassung ausmachen. Ja, es ist ebenfalls richtig, dass es uns nicht mit jedem Satz in der Finanzverfassung gelungen ist, diese Ästhetik in den Teil des Grundgesetzes hinüberzuretten, der die Finanzbeziehungen darstellt. Das ist übrigens den Vätern und Müttern unseres Grundgesetzes in dem damaligen Teil der Finanzverfassung ebenfalls nicht gelungen. Aber der Geist der ersten Artikel unserer Verfassung ist ganz eindeutig auch Grundlage der Finanzverfassung.
Gerechtigkeit, Solidarität und Chancengleichheit, darum geht es, wenn wir heute eine Schuldenbegrenzung einführen und die entsprechenden Artikel ändern. Es geht um Gerechtigkeit, weil Schuldenbegrenzung Generationengerechtigkeit bedeutet. Das derzeitige Ausmaß der Verschuldung - auch ohne die Schulden aus der aktuellen Wirtschaftskrise - stellt eine schwere Last für zukünftige Generationen dar. Der geltende Art. 115 des Grundgesetzes, der eine Kreditaufnahme für Investitionen und zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts vorsieht, hat nicht die erforderlichen Grenzen gesetzt. Es wurden eben nicht nur Schulden aufgenommen, die einen gleichen Gegenwert in Investitionen hatten, wie es die Verfassung eigentlich vorsieht. Dadurch sind die Zinslasten der öffentlichen Haushalte - Bund, Länder und Gemeinden - auf circa 70 Milliarden Euro pro Jahr angestiegen. Ständig steigende Zinslasten sind aber eine schwere Hypothek für unsere Kinder, insbesondere deshalb, weil wir aufgrund des demografischen Wandels und der damit zusammenhängenden zusätzlichen Kosten für Renten, Pensionen und Gesundheitsleistungen eigentlich sogar Rückstellungen bilden müssten. Zinszahlungen statt Zukunftsinvestitionen sind die Folge. Die Zinszahlungen belasten uns zurzeit noch mehr als die Schuldenstandsquote.
Auch diejenigen, die sich zurzeit Sorgen um Bildung und Kultur machen, werden wohl zugeben, dass es Hundert Prozent sinnvoller wäre, diese Zinsmilliarden in Köpfe und Kulturgüter zu investieren, als sie ohne Gegenleistung hinauszuwerfen. Lieber Kollege Wissing, ich habe Ihrer Rede zugehört und kann viele Punkte unterschreiben. Ich finde es aber schwierig, Ihre Reaktion nachzuvollziehen, der geplanten Änderung der Verfassung zur Begrenzung der Verschuldung nicht zuzustimmen. Es war von Anfang an nicht geplant, den Länderfinanzausgleich zu öffnen, sondern, die Schuldensituation zu verbessern. Das tun wir mit dem heutigen Gesetz. Deshalb wundere ich mich, dass Sie heute, obwohl Sie das in der Föderalismusreform noch mitgetragen haben, dem nicht zustimmen wollen.
Schuldenbegrenzung ist kein Selbstzweck. Wir wollen dadurch Spielräume für wichtige Zukunftsinvestitionen zum Beispiel in Bildung, Familie und Kultur und vielleicht auch für künftige Wirtschaftskrisen schaffen. Das sind wir unseren Bürgerinnen und Bürgern schuldig, insbesondere in einer Zeit, in der die Neuverschuldung ein unvorstellbares Ausmaß hat. Wir müssen den Menschen heute sagen, wie wir diese Schulden in Zukunft tilgen wollen.
In den letzten Tagen wurden viele Briefe verschickt. Viele haben uns aufgerufen, der Schuldenbegrenzung nicht zuzustimmen. Diesen Skeptikern stehen aber Sachverständige gegenüber, die seit Jahren mit uns an der Schuldenbremse gearbeitet haben. Der Bundesrechnungshof wie auch der Sachverständigenrat halten es für geboten, dass sich Bund und Länder auf stringente Regeln einigen, um die Staatsverschuldung nachhaltig zu begrenzen und stabilitätskonforme Haushalte aufzustellen. Auch die überwiegende Mehrzahl der Sachverständigen in der Anhörung teilte im Grundsatz die Meinung, eine Schuldenbegrenzung sei zwingend erforderlich. Es handelt sich dabei aber um eine Begrenzung, die uns eben nicht handlungsunfähig macht. Auch der derzeitigen wirtschaftlichen Situation hätten wir mit der nun zu beschließenden Schuldenbremse begegnen können. Wir werden auch künftig in konjunkturell schlechten Zeiten Spielräume behalten, allerdings müssen wir in wirtschaftlich besseren Zeiten mehr als bisher gegensteuern und zusätzliche Steuereinnahmen zur Tilgung der in der Krise aufgenommenen Schulden aufwenden.
Neben der Gerechtigkeit spielt auch Solidarität eine noch größere Rolle in unserer Finanzverfassung als bisher. Hilfen in einer Gesamtsumme von 800 Millionen Euro jährlich im Zeitraum 2011 bis 2019 zusätzlich zum Länderfinanzausgleich zur Verfügung zu stellen, ist Bund und Geberländern nicht leichtgefallen. Diese Mittel sind aber notwendig, um alle Länder mit ins Boot zu holen. Es war uns wichtig, niemanden mit seinen Schuldenproblemen alleine zu lassen. Die Bereitschaft zur Zahlung war aber ganz eng an eine strenge Schuldenbegrenzung gebunden, weil die Geberländer ihren Bürgerinnen und Bürgern natürlich erklären müssen, warum sie sich freiwillig bereit erklären, über den Länderfinanzausgleich hinaus zusätzliche Mittel aus eigenen Steuergeldern anderen zur Verfügung zu stellen. Machen wir es diesen Ländern nicht noch schwerer. Wer jetzt bestrebt ist, diese Begrenzung aufzuweichen, muss wissen, dass damit auch andere Vereinbarungen hinfällig würden.
Der dritte Bereich umfasst die Chancengleichheit. Die Regeln werden zu unterschiedlichen Zeiten in Kraft treten. Wir wissen natürlich, dass nicht alle in diesem Land zur gleichen Zeit den neuen Regeln Rechnung tragen können. Einige halten die Schuldenbegrenzung für zu ambitioniert, andere wiederum behaupten, das Inkrafttreten der Schuldenbegrenzung wäre zu spät. Beides stimmt nicht. Die neuen Schuldenbegrenzungsregeln sind grundsätzlich erstmals für das Jahr 2011 anzuwenden, und zwar für den Bundeshaushalt mit der Maßgabe, dass das strukturelle Defizit - nur darum geht es bei diesem Punkt - ab dem Jahr 2011 in gleichmäßigen Schritten zurückgeführt werden soll und ab dem Jahr 2016 nur noch Schulden in Höhe von 0,35 Prozent des BIP gemacht werden dürfen. Es ist einfach falsch, zu behaupten, dass Generationen von Politikern Schulden gemacht hätten und wir nun eine Generation zwingen würden, diese Situation auszubaden.
Es geht - leider - noch gar nicht um Schuldenrückführung, es geht ganz im Gegenteil nur darum, dass wir künftig nicht weiter den Weg der Neuverschuldung gehen und dass wir die künftigen Generationen nicht zusätzlich mit neuen Schulden belasten.
Die Länder, die Unterstützung erhalten, müssen ebenfalls 2011 anfangen, zu konsolidieren. Die Gewährung der Hilfen setzt einen vollständigen Abbau des Defizits voraus. Die Abbauschritte, die Hilfen, die Finanzierungsdefizite und die Überwachung durch den Stabilitätsrat haben wir im Begleitgesetz geregelt. Mit der letzten Gruppe, den Geberländern, haben wir das Ziel der gemeinsamen Schuldenbegrenzung festgeschrieben, aber wir haben nicht zu stark in die Haushaltskompetenzen eingegriffen. Wir haben nämlich zugelassen, dass die Geberländer bis 2019 von der Schuldenbegrenzung abweichen, aber im Haushalt 2020 sicherstellen müssen, dass kein strukturelles Defizit mehr vorhanden ist. Wir alle wissen, dass einige Länder das schneller schaffen werden. Sie haben in ihre Landesverfassungen schon ambitioniertere Regelungen aufgenommen. Wir wissen aber auch, dass andere Länder diese Zeit brauchen werden. Das ist aus unserer Sicht nicht schlimm, weil wir wichtig finden, dass wir den Weg weg von immer weiterer Verschuldung einschlagen. Das werden wir, so hoffe ich, heute tun.
Was die Solidarität betrifft, so haben wir die Kommunen nicht vergessen. Mit den neuen Schuldenregeln lassen wir es bei einem grundsätzlichen Neuverschuldungsverbot zu, dass in Notlagen mit Krediten gegengesteuert werden darf.
Diese Möglichkeit wird es künftig über den Art. 104 b Grundgesetz auch in den Bereichen geben, in denen der Bund keine Gesetzgebungskompetenz hat. Der Bund darf also in der Krise Ländern und Kommunen mit Finanzhilfen zur Seite stehen. So gibt es jetzt zusätzliche Sicherheit für die 10 Milliarden Euro aus dem kommunalen Investitionsprogramm. Diskussionen über die Frage: ?Dürfen Schultoiletten oder müssen Schuldächer saniert werden?? gehören damit der Vergangenheit an.
Auch bei den Verwaltungsthemen spielen Menschenwürde und Gerechtigkeit eine große Rolle. Hätten die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes die Möglichkeiten der IT gekannt, sie hätten es als ein Grundrecht in unsere Verfassung geschrieben, dass IT-Sicherheit für die Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten ist. Wir holen das jetzt nach, indem wir den Bund für die Sicherheit in diesen Systemen verantwortlich machen. Wir werden das in der Verfassung verankern.
Auch die Steigerung der Effizienz und der Effektivität des Steuervollzugs dient der Gerechtigkeit. Denn nur wenn die Bürgerinnen und Bürger den Eindruck haben, dass alle gerecht zur Finanzierung des Staates herangezogen werden, stehen sie dem System wohlwollend gegenüber. Ich gebe zu, an dem Punkt werden wir auch nach FöKo II noch etwas zu tun haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Menschen in unserem Land sind wegen der zusätzlichen Kredite, die wir in dieser Krise aufnehmen, unsicher. Erstmals ist die Verschuldung für die Bürgerinnen und Bürger ein Thema. Laut einer Forsa-Umfrage sind 68 Prozent der Bundesbürger dagegen, dass der Staat weitere Schulden macht. Deshalb sind wir es den Menschen nicht nur schuldig, die aktuelle Krise zu meistern, sondern auch, langfristige Lösungen anzubieten. Wir haben heute die Chance, Verantwortung für die Folgen unseres Tuns in der Krise auch über den aktuellen Tag hinaus zu übernehmen und die Schuldenbegrenzung in unserer Verfassung zu verankern.
Ich bitte Sie, das mit uns gemeinsam zu tun.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Bodo Ramelow ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke.
Bodo Ramelow (DIE LINKE):
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Abgeordnete! Das wird unter normalen Umständen meine letzte Rede als Bundestagsabgeordneter hier im Hohen Haus sein.
- Klatschen Sie nicht zu früh, ich beabsichtige, von dieser Seite auf die Bundesratsseite zu wechseln.
Ich befürchte, dass ich dann das auslöffeln muss, was Sie heute anrichten.
Ich teile die Auffassung, dass es eigentlich schon ein Skandal ist, dass die Ministerpräsidenten der Länder hier heute nicht anwesend sind
und nicht mit uns debattieren.
Lieber Peter Struck,
in der FöKo I hatten wir zum Beispiel Beschlüsse zum Strafvollzug gefasst, und dann war es der Kollege Otto Schily, der aus der Mitte des Saals mehrfach intervenierte, und ich erinnere mich an Sitzungen des Rechtsausschusses, dass sogar Kollegen von der CDU/CSU interveniert und gesagt haben: Es ist falsch, dass wir die Ausführung des Strafvollzugs auf die Länder übertragen.
Ich erinnere mich, dass SPD-Bundestagsabgeordnete aus den neuen Bundesländern einen Brief an ihre Partei geschrieben und darin gesagt haben: Das, was ihr mit der Bildung vorhabt, ist ein großer Fehler. Lasst es uns nicht tun.
Damit will ich in Erinnerung rufen, dass schon die FöKo I gescheitert war, dass diese Themen erst mit der Großen Koalition hier im Schweinsgalopp wieder durchgejagt wurden und dass hinterher die SPD das Gegenteil von dem gemacht hat, was sie vorher als politisch richtig festgestellt hat.
In Bezug auf die FöKo II entwickelt sich etwas Ähnliches. Sie wissen genau, dass Sie heute Weichen stellen, die in einigen Jahren bewirken werden, dass einige Bundesländer finanziell nicht mehr handlungsfähig sind.
In der rot-grünen Bundesregierung haben Sie ja die Agenda 2010 auf den Weg gebracht; das war ein großer Fehler, den man den Menschen angetan hat. Nun haben Sie die Agenda 2020. Das bedeutet, dass der ausgleichende Föderalstaat zerstört wird und der Wettbewerbsföderalismus, wie ihn sich die FDP wünscht, endlich durch die Hintertür eingeführt wird. Die wirtschaftlich stärkeren Länder werden in diesem Land das Kommando übernehmen, und sie werden die wirtschaftlich schwächeren Länder an die Wand spielen. Ich halte das für eine Katastrophe für unser Land.
Kollege Struck, Sie haben die Frage der Verfassungswidrigkeit angesprochen und gesagt: Lasst das Karlsruhe entscheiden! - Ja, natürlich, Karlsruhe wird am Schluss eine Entscheidung treffen. Aber was ist das für ein Zustand, wenn frei gewählte Bundestagsabgeordnete wider besseres Wissen Entscheidungen treffen, die falsch sind, und anschließend sagen, das Gericht solle es korrigieren?
Die politische Korrektur geschieht dann nicht mehr auf dem Parteitag, nicht mehr über das Wahlversprechen, nicht mehr über das, was man mit den Wählerinnen und Wählern erörtert, sondern die Korrektur soll Karlsruhe übernehmen.
Ich halte das für ein politisches Armutszeugnis und für einen Irrweg.
Richtig ist allerdings, dass das Verhalten der Bundesländer seltsam ist. Es waren in der Tat Bill Bo und seine Bande, also Koch und die Südstaaten - Kollege Struck, da gebe ich Ihnen recht -, die in der Föderalismuskommission I das Kooperationsverbot in Sachen Bildung gegen die SPD durchgesetzt haben. Die SPD hat es dann mitgemacht. Das halte ich für den eigentlichen Fehler.
Der Bundestag beschließt heute grundgesetzmäßig eine Schuldenbremse von 0,35 Prozent vom BIP für den Bund - das ist etwas, was Bürger ohnehin nicht verstehen -,
nach Art eines Katalogs wird das über mehrere Seiten ins Grundgesetz hineingeschrieben. Das bedeutet, dass der Bund sich anders verschulden darf, als man es den Ländern sozusagen als nachgeordnete Dienststellen zugesteht. Das halte ich für einen groben Fehler. So geht es nicht. Wir können doch nicht den Ländern in die Tasche greifen!
Dann kann man sich überlegen, ob die Rechtsauffassung von Professor Schneider richtig ist, dass man damit das Haushaltsrecht der Länderparlamente zerstört, oder ob man den Fachleuten folgt, die für die Schuldenbremse waren, dann aber gesagt haben: Wenn die Länder am Schluss, 2019, nicht mehr finanziell handlungsfähig sind, muss der Bund ohnehin nachfinanzieren. Es ist klar gesagt worden, dass am Schluss der Bund bezahlen muss. Wenn man also sehenden Auges ein Verfassungsrecht schafft, das die Länder zu Bittstellern des Bundes macht, dann gibt es den ausgleichenden Föderalstaat nicht mehr, sondern dann degradiert man die Länder zu nachgeordneten Dienststellen, und das ist einfach unverschämt.
Herr Präsident, ich will mit Ihrer Erlaubnis etwas zitieren, was ich gelesen habe:
Ich finde es fragwürdig, wenn die jetzige Politikergeneration Regeln ins Grundgesetz aufnehmen will, die ab 2011 Handlungsspielräume zukünftiger Generationen in einer Weise einschränken, die die Generation Struck und Oettinger für sich nie akzeptiert hätte.
Sie können ja einmal überlegen, wer diesen Satz gesagt hat, ob es die Linken waren, ob es die Grünen waren oder ob das jemand Prominentes aus der SPD-Fraktion war. Wir können ja einen Wettbewerb veranstalten. - Es war Andrea Nahles, die damit angekündigt hat, dass die SPD das so nicht mit sich machen lässt.
Heute, nachdem sie das gesagt hat, werden wir nach der Abstimmung feststellen: Sie machen das Gegenteil von dem, was Andrea Nahles angekündigt hat. - Ich könnte weitere Zitate bringen; Kollege Böhning hat sich ähnlich geäußert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir über Schulden reden, dann bestehe ich auf der Feststellung, dass Geldausgeben kein Selbstzweck ist,
auch für die öffentliche Hand nicht. Das erkennt man aber nicht, wenn man die Bundesregierung erlebt. Da hat man das Gefühl, dass gar nicht genug Geld ausgegeben werden kann; die Frage ist nur, wofür.
- Das kann ich Ihnen sagen, ganz konkret.
Die Frage ist, ob man den Wettbewerbsföderalismus will, wie ihn die FDP sich vorgenommen hat. Das hielte ich für eine Katastrophe für dieses Land, weil die Länder dann je nach finanzieller Ausstattung mit ihren Mitarbeitern und ihren Angeboten der Daseinsfürsorge für die Menschen sehr unterschiedlich umgehen müssten. Wenn man dem Weg von Herrn Wissing folgt und den Ländern die Möglichkeit gibt, die Steuererhebung frei zu gestalten, um Schulden abzubauen, bedeutet das für die wirtschaftlich schwächeren Länder die Notwendigkeit, einen Einkommensteuerzuschlag von bis zu 40 Prozent zu erheben.
Das heißt, derjenige, der in einem wirtschaftlich schwächeren Bundesland wohnt, in dem ein solcher Einkommensteuerzuschlag erhoben wird, hat dann eben Pech gehabt. Das Ergebnis ist, dass wir überhaupt keinen Ausgleich mehr haben. Deswegen halte ich es für einen völlig falschen Weg, den Ländern Steuergestaltungsmöglichkeiten zu geben.
Wenn Sie die Frage aufwerfen wollten, wie die Schulden zu bezahlen sind, Kollege Wissing: Allein eine Vermögensteuer, wie sie in England erhoben wird - England wird nun wahrlich nicht von der Linken regiert -, bedeutete eine Einnahmeverbesserung um 90 Milliarden Euro.
Eine Börsenumsatzsteuer in Höhe von nur 1 Prozent würde zusätzliche Einnahmen von 70 Milliarden Euro für den Bundeshaushalt bedeuten.
Eine Optimierung der Verfahren bei der Steuererhebung
zum Beispiel durch mehr Steueraußenprüfungen, Kollegin Tillmann, brächte ein Plus von 10 Milliarden Euro; das jedenfalls geht aus der Kienbaum-Studie hervor, und zwar nur bezogen auf das mittlere Segment.
Das heißt, zusammen genommen hätten wir Mehreinnahmen von 170 Milliarden Euro. Ich weiß, Sie wollen Steuern senken, um den Staat immer handlungsunfähiger zu machen. Wir haben ein völlig anderes Staatsverständnis: Wir wollen Steuern erheben,
und zwar Steuern, die in den Nachbarstaaten normal und gang und gäbe sind.
Ich wiederhole: Allein durch eine gerechte Steuererhebung ergäbe sich ein Plus von 10 Milliarden Euro; das jedenfalls geht aus der Kienbaum-Studie hervor, und zwar bezogen nur auf das mittlere Segment. Diese 10 Milliarden Euro hätten wir auch dringend nötig.
Wenn man diese Einnahmerechnung weiterführt, ergibt sich ein finanzieller Spielraum für Zinszahlungen in Höhe von 70 Milliarden Euro. Damit wäre zumindest die Schuldenbewirtschaftung aus den Mehreinnahmen zu bewerkstelligen. Wir hätten 57 Milliarden Euro, um die Verschuldung jährlich herunterzufahren. Schließlich hätten wir noch 43 Milliarden Euro für die notwendigen Bildungsinvestitionen übrig. Damit würden die Bildungsausgaben insgesamt 7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes ausmachen, ein Ziel, das ja auch Frau Merkel öffentlich verkündet hat.
Wenn man das will, muss man aber auch dafür sorgen, dass das entsprechende Geld eingenommen bzw. so umgerubelt wird, dass es auch bei der Bildung ankommt.
Vor diesem Hintergrund, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, verstehe ich nicht, warum man heute die Länder zu einer 0,0-Prozent-Verschuldung verpflichten will, ihnen also vorschreiben will, dass sie gar nicht mehr investieren dürfen. Ab 2011 wird es so sein, dass keine Investments mehr auf den Weg gebracht werden können.
- Entschuldigung, Sie wissen offenkundig nicht, was Sie tun. - 2019 wird es endgültig dazu kommen; 2019 wird neu über den Länderfinanzausgleich verhandelt. Das heißt, Sie beschließen heute etwas, das Sie nie wieder zurücknehmen können. Sie beteiligen sich sehenden Auges an einer Grundgesetzänderung und hoffen, dass Sie das anschließend über Karlsruhe oder den Heiligen Geist korrigiert bekommen. Das ist ein Irrweg. Hören Sie auf damit! Zeigen Sie Mut, und stoppen Sie diese Fehlentwicklung!
Es lohnt sich tatsächlich, einmal nachzulesen, was Bofinger und weitere 70 Wissenschaftler geschrieben haben. Sie sagen eindeutig, dass das Thema Schulden auch etwas mit Investitionen zu tun hat, dass Schuldenpolitik nicht einfach nur mit Zinsbewirtschaftung gleichzusetzen ist und dass die Beschränkung für die Haushalte, auf die man sich verständigt bzw., besser ausgedrückt, die man sich jetzt auferlegt, dazu führt, dass Politik handlungsunfähig wird.
Es gibt drei Bundesländer - ich ärgere mich ganz besonders, dass Vertreter dieser Länder heute nicht in den Bundestag gekommen sind -, nämlich Bremen, das Saarland und Schleswig-Holstein, für die die Zinshilfen nicht ausreichend sind. Es ist aktive Sterbehilfe für diese drei Bundesländer, die heute hier praktiziert wird, und die Herren kommen nicht einmal her und stellen sich der Debatte. Ich halte das einfach für einen Skandal.
Ich halte fest: Jeder, der eine sogenannte Schuldenbremse einführt, ohne gleichzeitig für eine wirkliche strukturelle Entschuldung der Landeshaushalte zu sorgen, der öffnet den Weg zu einem Wettbewerbsföderalismus, wie ihn die FDP will. Diesen Weg halte ich für völlig falsch.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Fritz Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen.
Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Feiern zum Jubiläum ?60 Jahre Grundgesetz? sind jetzt verklungen. Ganz am Rande möchte ich festhalten: Ich habe zwar sehr viele allgemeine Reden gehört, aber die beste Debatte darüber gab es hier im Bundestag. Auch ich fand es richtig, dass die Fraktionen hier diese Debatte geführt haben.
Nun stellt sich die spannende Frage, ob dies, jenseits all der Jubiläumsreden, ein guter Tag für unser Land werden wird, also für unsere Gemeinden, unsere Länder und den Bund und auch für unser Grundgesetz. Wir von Bündnis 90/Die Grünen sind der Überzeugung, dass dies heute kein guter Tag wird. Unter der Überschrift ?Schuldenbremse? wird heute ein komplexer Satz von Instrumentarien und Regeln verabschiedet. Nach unserer Überzeugung wird damit das Ziel, die Verschuldung der öffentlichen Hand zu begrenzen, jedoch nicht erreicht. Deswegen, lieber Herr Kollege Wissing, waren wir in der Kommission dagegen und werden auch heute dagegen stimmen, obwohl wir Grünen für eine vernünftige Schuldenbremse natürlich zu haben sind; wir haben ja Vorschläge gemacht, wie so etwas aussehen könnte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, warum sage ich, dass mit diesen Instrumentarien das Ziel nicht erreicht wird? Der Hauptgrund liegt darin, dass die Regeln zur Beschränkung der Schuldenaufnahme durch die Länder, aber auch die Art, wie der Bund langsam eine Begrenzung der Neuverschuldung vornehmen will, nicht realitätstauglich sind.
Bei den Ländern - dies sage ich voraus - wird sich alles auf das Jahr 2019 kaprizieren. Länder, die keine Konsolidierungshilfen bekommen, sind bis 2019 sehr frei in der Gestaltung ihrer Haushalte. Bis 2019 schließlich - losgehen wird es schon 2017 - werden alle sagen, dass sie die Ziele wegen des Länderfinanzausgleichs nicht erreichen können. Die Geberländer werden sagen: Wir müssen zu viel in den Länderfinanzausgleich einzahlen; die Nehmerländer werden sagen: Wir bekommen zu wenig, und deswegen können wir das Konsolidierungsziel nicht erreichen.
Wer sich mit dem Föderalismus und insbesondere mit den Verhandlungen über den Länderfinanzausgleich auskennt - es sitzen ja einige da, die dies tun -, wird verstehen, dass das kein Schwarzseherszenario ist, sondern Realität sein wird.
Wer wie Frau Tillmann sagt: ?Wir müssen angesichts der großen Neuverschuldung den Leuten sagen, wie wir tilgen wollen?, macht sich etwas vor. Interesse an der Schuldenbremse hat auch die Kanzlerin erst gezeigt, als die Bankenkrise kam und man ein Gegengewicht - jedenfalls ein symbolisches - brauchte. Funktionieren wird dies nach unserer Überzeugung nicht.
Da hilft auch der Vorschlag von Herrn Platzeck nicht. Ich will einmal sagen: Herrn Platzeck haben wir in der Föderalismuskommission überhaupt nicht gesehen, er hat nicht agiert für das Land Brandenburg. Sich dann zum Sprecher zu machen für Veränderungen im Nachhinein, das ist eine ganz billige Nummer, die wir ihm so nicht durchgehen lassen können.
Ich will die größeren Strukturfehler der Reform, die Sie heute beschließen lassen wollen, aufführen. Verlierer dieser Reform werden eindeutig die Gemeinden sein.
Der Mechanismus ist ganz einfach. Im Prinzip haben Länder, die Konsolidierungshilfen bekommen und schon jetzt auf einen Konsolidierungspfad gehen müssen, nur zwei Möglichkeiten: Sie können entweder bei der Bildung sparen - da wünschen wir gute Verrichtung; das steht keine Landesregierung durch -, oder sie müssen zulasten ihrer Gemeinden sparen und die Sätze des kommunalen Finanzausgleichs noch restriktiver handhaben als ohnehin.
Nur wenn durch Grundgesetzänderung auch an die Gemeinden Konsolidierungshilfen gegangen wären, nur wenn man das Konnexitätsprinzip im Grundgesetz neu definiert hätte, nur wenn man sich über eine minimale Finanzausstattung der Gemeinden, die grundgesetzlich garantiert sein müsste, Gedanken gemacht hätte, hätte man dieses Problem lösen können.
Ich frage Sie als Föderalisten, als Leute, die aus der Kommunalpolitik kommen: Was ist das für eine Schuldenbremse, die systematisch zulasten der Gemeinden gehen muss? Gemeinden sind doch der Ort, wo die Bevölkerung, wie Erhard Eppler immer gesagt hat, die Politik am direktesten, am unmittelbarsten und die Demokratie am eigentlichsten erfährt. Eine Entschuldungspolitik zulasten der Gemeinden muss aus diesem Grund der falsche Weg sein.
- Herr Poß, jetzt hören Sie doch einmal zu! Das kann Ihnen nur guttun.
Das nächste Argument ist die Bildung. Sie wollen sich mit den falschen Ergebnissen der Föderalismuskommission I nicht wieder befassen. Es gibt hier keine Reform in dem Sinne, dass mit den heutigen Vorlagen die Fehler der Föderalismusreform I korrigiert werden könnten, obwohl sich alle auf den Bildungsgipfeln wie in einem ewig gleichklingenden Singsang einschwören, dass man mehr für Bildung tun müsse und das dies eine gesamtstaatliche Aufgabe sei. Das, was hier gemacht wird, ist absurd. Sie haben überhaupt nicht den Mut, das entscheidende Zukunftsthema Bildung anzugehen.
Das Problem des Kooperationsverbots in Bezug auf die Kommunen - aber auch im Bereich der Bildung - ist unzulänglich gelöst. Ich will es zuspitzen: Wer etwas für die Gemeinden tun will - das ist die absurde Logik dessen, was Sie heute beschließen -, der muss schon auf eine Flut oder eine Finanzkrise hoffen, um helfen zu dürfen.
Was ist denn das für ein Staat, der nur über eine solche Definition Hilfe ermöglicht? Ich halte es für völlig falsch, dass Sie da nicht mehr Mut bewiesen haben.
Jetzt komme ich zu einem Punkt, den wir in Bezug auf die Entschuldungs- und Verschuldungsdiskussion für elementar halten. Viele Finanzpolitiker - der Finanzminister gehört dazu - sagen einfach: Schulden sind Schulden. - Sie können nicht zwischen guten und schlechten Schulden differenzieren. Angesichts des Zahlenwerks im Haushalt muss ich sagen: So ist es ja auch; Schulden sind Schulden. Aber es macht nach unserer Überzeugung einen elementaren Unterschied, warum und zu welchem Zweck sich die öffentliche Hand in einer bestimmten Situation verschuldet.
Ich will es an einem Beispiel verdeutlichen: Wir geben die Kosten zur Finanzierung der Abwrackprämie von 5 Milliarden Euro als Verschuldung an künftige Generationen weiter, es wird aber für künftige Generationen nichts, aber auch gar nichts an Zukunftsrendite übrig bleiben.
Wenn wir diese 5 Milliarden Euro in den Klimaschutz oder in das Bildungssystem investieren, dann gibt es für die künftigen Generationen logischerweise eine Zukunftsrendite,
weil trotz Abschreibung nicht alles von dem vervespert sein kann.
Unter diesem Gesichtspunkt ist es schon eine wesentliche Frage, für was sich die öffentliche Hand verschuldet. Im privaten Bereich ist es genauso: Wenn ich in der Spielbank 1 Million Euro verzocke, dann ist das Geld weg. Wenn ich dafür Schulden mache, dann bringt mir das überhaupt nichts.
Wenn ich mit dem Geld etwas Vernünftiges baue oder ein Haus saniere, dann bleibt ein Wert zurück. Diesen Unterschied haben Sie finanztechnisch nicht berücksichtigt, weil Sie sich nicht auf ein Verschuldungskriterium auf der Grundlage des Nettoinvestitionsbegriffs einlassen wollten. Das bedeutet, dass Nettoinvestitionen, das heißt Investitionen minus Abschreibungen, ein Kriterium für die Frage sein können, wie hoch man sich zusätzlich verschulden kann.
Deswegen haben wir zu der Verschuldungsgrenze von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für den Bund und 0,15 Prozent für die Länder gesagt: Nur bei Nettoinvestitionen, also bei solchen Investitionen, durch die sich der Kapitalstock des Landes vergrößert, sind Abweichungen von dieser Grenze zulässig, sonst nicht.
Die pauschale 0,35-Prozent-Regelung schützt uns nicht vor so einem Unsinn, wie Sie ihn mit der Abwrackprämie gemacht haben.
Der Sachverständigenrat hat im März 2007 den Begriff der Nettoinvestition als mögliche Grundlage vorgeschlagen. Jetzt weiß ich - Herr Finanzminister, das werden Sie gleich sagen -, dass es hier Abgrenzungsprobleme gibt. Das ist logisch. Aber man kann auch Probleme angehen und lösen. Sie haben sich verweigert, weil Sie sich in der Debatte ?Was erhöht den Vermögensstock eines Landes oder das Produktionspotenzial?? - das sind die entscheidenden Fragen - drücken wollten.
Ich sage noch einmal: An dieser Stelle gibt es bei dem, was Sie heute vorschlagen, einen Konstruktionsfehler.
Herr Ramelow, vieles von dem, was Sie gesagt haben, war richtig. Aber aus dem, was Sie gesagt haben, folgt nicht - das ist der wichtige Unterschied zu uns -, dass man keine Schuldenbremse einführen sollte. Vielmehr folgt daraus, dass man eine richtige, vernünftige und ökonomisch begründete Schuldenbremse einführen soll. Ihre Verweigerungshaltung in Bezug auf das Verschuldungsproblem ist nicht zukunftsweisend.
Noch eine Bemerkung. Das Ausspielen von solidarischem Föderalismus gegen Wettbewerbsföderalismus, das Sie gerade vorgeführt haben, gehört für mich der Vergangenheit an. Die Kunst besteht doch darin, dass wir die richtigen Elemente der Solidarität zwischen den Ländern, zwischen dem Bund und den Ländern und den Gemeinden praktizieren und neu festschreiben,
andererseits aber einen produktiven Wettbewerb zwischen den Ländern zulassen. Es ist doch nicht schlecht, wenn zwei Bundesländer die Frage stellen: Wer kann eine bestimmte Aufgabenstellung am besten erfüllen? - Nur das eine oder das andere anzustreben, funktioniert nicht. Beides muss ein kluger Gesetzgeber machen.
Ich sage Ihnen voraus: Wir werden ab 2015 in Deutschland neue Verhandlungen über den Föderalismus führen; denn die jetzige Grundgesetzänderung leistet einfach nicht das, was Sie vorgegeben haben. Wir werden dann auch über den Länderfinanzausgleich und die Neugliederung der Bundesländer reden müssen. Wir haben heute keine große Lösung erreicht, Herr Röttgen. Große Koalition ist gleich große Lösung, das hat nicht funktioniert. Das Gegenteil ist eingetreten. Sie haben einen etwas kleinkarierten Kompromiss gefunden. Aber den Föderalismus haben Sie weder durch die Stärkung der Gemeinden noch durch die Stärkung der Länder oder die Stärkung der Beziehungen zwischen dem Bund und den Ländern vorangebracht.
Deswegen werden wir dagegenstimmen, obwohl wir für eine Begrenzung der Schuldenaufnahme durch die öffentliche Hand sind.
Ich danke Ihnen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Für die Bundesregierung erhält nun das Wort der Bundesminister der Finanzen, Peer Steinbrück.
Peer Steinbrück, Bundesminister der Finanzen:
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kuhn, Sie haben vorhin richtig gesagt, dass es in Ihrer Rede einen Punkt geben könnte, auf den ich eingehen könnte. Aber Sie haben sich den falschen Punkt ausgesucht.
Ich habe schon in der Föderalismuskommission versucht, Ihnen eine, wie ich hoffe, einigermaßen verständliche Erklärung dafür zu geben, dass das Nettoinvestitionskonzept die entscheidende Fehlkonstruktion nicht auflöst.
Das jetzige Grundgesetz enthält einen falschen Investitionsbegriff. Wir haben im Augenblick die Situation, dass jeder Euro in Beton als Investition und jeder Euro in die Köpfe der Menschen als konsumtiv definiert ist.
Ihr Nettoinvestitionskonzept löst dieses Problem nicht, da die jetzige Schuldenregelung dieses Problem umgeht. Deshalb ist Ihre diesbezügliche Argumentation leider Gottes nicht erkenntnisfördernd.
Ich will auf die Einzelheiten der Ergebnisse der Föderalismuskommission gar nicht eingehen, insbesondere nicht auf die Ausgestaltung der Schuldenregelung. Frau Tillmann hat diesen Punkt sehr zutreffend dargestellt.
Ich möchte zwei grundsätzliche Bemerkungen machen und vier zentrale Missverständnisse aufgreifen:
Erstens. Mit der Verankerung einer neuen Schuldenbremse im Grundgesetz hat es diese zweite Große Koalition exakt 40 Jahre nach der ersten Großen Koalition in der Tat in der Hand, eine finanzverfassungsrechtliche und finanzpolitische Entscheidung von historischer Tragweite zu treffen, eine Entscheidung - das ist der Unterschied zu Ihnen, Herr Ramelow -, die die finanzielle Handlungsfähigkeit des Staates insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Generationengerechtigkeit sichern und nicht einschränken soll.
Die absurde Quintessenz Ihrer Rede, Herr Ramelow, ist, dass zusätzliche Schulden die Handlungsfähigkeit des Staates erweitern.
Das ist eine absurde Zusammenfassung.
Jetzt hören Sie mal einen Moment zu; auch ich habe Ihnen sehr aufmerksam zugehört. Wenn Sie sich anschauen, wie sich die Schuldenstandquote in Deutschland, das heißt das Verhältnis der Schulden zu unserer Wirtschaftsleistung - und damit automatisch die Zinslastquote; will sagen: der Anteil der Zinsausgaben am Bundeshaushalt -, entwickelt hat, dann werden Sie feststellen, dass wir der gefährlichen Tendenz unterworfen sind, dass der Bundeshaushalt immer weiter verkarstet und versteinert und Ihre politischen Handlungsspielräume, vor allen Dingen die der nachfolgenden Generationen von Bundestagsabgeordneten, immer geringer werden. Das ist das Problem.
Ich will auf Ihre nicht minder aberwitzigen Vorstellungen zu einer prohibitiven Besteuerung in Deutschland gar nicht weiter eingehen. Aber Ihre Rede ist ein Plädoyer dafür gewesen, in Deutschland eine Substanzbesteuerung von 80 bis 90 Milliarden Euro einzuführen.
- Das war doch der Kern dessen, was gesagt wurde. Vor diesem Hintergrund habe ich eine gewisse Hoffnung, dass Sie im Deutschen Bundestag weiter auf den jetzigen Stühlen sitzen und niemals auf der Bundesratsbank. Das wäre schlecht.
Vor 40 Jahren hat die erste Große Koalition eine Finanzverfassung verabschiedet, die auf der Höhe der Zeit war. Aber wir werden kritisch eingestehen müssen, dass die Finanzverfassung, die vor 40 Jahren auf der Höhe der Zeit gewesen ist, heute nicht mehr auf der Höhe der Zeit ist. Insbesondere der jetzige Art. 115 des Grundgesetzes hat uns nicht vor einer Fehlentwicklung bewahrt.
Er hat Konstruktionsfehler; einen habe ich erwähnt: den falschen Investitionsbegriff.
Zweitens werden wir zugeben müssen, dass die Ausnahmemöglichkeiten dieses Art. 115 uns alle, die wir in den letzten 40 Jahren Regierungsverantwortung hatten, sehr leichtfüßig in eine Verschuldung hineingetrieben haben. Wir haben uns dieser Ausnahmemöglichkeiten sehr häufig bedient. Drittens. Wir haben das, was damals jedenfalls konzeptionell angelegt war, letztlich nie erfüllt: Wir haben in schlechten Zeiten Schulden gemacht, diese aber in guten Zeiten nicht zurückgezahlt.
Deshalb ist es richtig, diesen Art. 115 abzuschaffen und eine bessere, zeitgemäße Finanzverfassung einzuführen.
Ich gebe Ihnen noch einmal wenige Zahlen an die Hand, die das eben Ausgeführte belegen. 1969 beliefen sich die Zinszahlungen des Bundes auf 3,2 Prozent des Bundeshaushalts; im Jahre 2008 haben sich die Zinsausgaben auf 15 Prozent belaufen, Tendenz steigend. Natürlich tragen wir dazu auch aktuell bei, weil wir in dieser Wirtschaftskrise mit enormen kreditfinanzierten Programmen, die der sehr schwierigen, krisenhaften Situation geschuldet sind, in den nächsten Jahren wahrscheinlich in eine weitere Erhöhung dieses Prozentsatzes hineinkommen werden. Deshalb sind wir es nach meiner Auffassung den Bürgerinnen und Bürgern schuldig, ihnen zu signalisieren, dass wir es mit der Konsolidierung wieder ernst meinen, sobald wir aus der Wirtschaftskrise heraus sein werden.
Wir müssen auch den Finanzmärkten ein Signal geben, dass in Deutschland eine solide Haushaltspolitik betrieben wird.
Wir müssen als Deutsche dazu beitragen, dass die Stabilität des Euro durch unser Haushaltsgebaren nicht infrage gestellt wird. Außerdem haben wir ein massives Interesse daran, dass die Glaubwürdigkeit des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes auch durch unseren Beitrag gewährleistet wird.
Meine Damen und Herren, dies bringt mich zu einer zweiten Grundsatzbemerkung: Ein Resultat der von mir erwähnten weltweiten Finanzkrise ist es, dass plötzlich die Kreditwürdigkeit ganzer Staaten infrage gestellt ist. Diese Entwicklung erleben wir gegenwärtig; sie betrifft selbst die Kreditwürdigkeit von Staaten, die bisher quasi als unantastbar angesehen wurden. Wenn sich inzwischen selbst die Vereinigten Staaten von Amerika und das Vereinigte Königreich vergegenwärtigen müssen, dass sie heruntergerated werden können, was fatale Folgen für ihre Finanzmarktkonditionen hätte, dann liefert dies eine Vorstellung davon, wie wichtig es gerade in dieser Situation ist, dass Deutschland seine Bonität auf den Finanzmärkten nicht verliert.
Dabei ist unsere Nettokreditaufnahme gar nicht entscheidend. Sie ist, wie ich zugebe, schlimm genug, was der Situation geschuldet ist. Aber ich möchte Ihnen eine andere Zahl vortragen, damit Sie eine Vorstellung davon bekommen, was dies heißt: Die jährliche Bruttokreditaufnahme ist entscheidend. Sie beträgt inzwischen allein für den Bund wahrscheinlich 330 Milliarden Euro. Das heißt, wenn wir auf den Finanzmärkten Bonität, Ansehen und Ratings verlören und allein um einen Prozentpunkt - die Fachleute sprechen von 100 Basispunkten - heruntergestuft würden, hätten wir es mit zusätzlichen Zinsausgaben in Höhe von 7 bis 8 Milliarden Euro zu tun. Dies bitte ich bei Ihren Entscheidungen mit zu bedenken, wenn es um eine neue Schuldenregelung geht. Hier kommt es auf die Signalwirkung auf die Finanzmärkte an, die unmittelbar - kurzfristig, schon im nächsten Jahr - die Kapitalmarktkonditionen beeinflussen, die wir als großer Schuldner auf den Märkten zugestanden bekommen.
Es gibt ein erstes Missverständnis: Die Schuldenbremse behindert angeblich Investitionen in die Zukunft unseres Landes. Dies ist falsch. Ich habe versucht, darauf hinzuweisen, dass allein die strukturelle Verschuldung, die wir in Zukunft noch eingehen können, uns des falschen Investitionsbegriffes enthebt. Ich will Sie jetzt nicht länger damit konfrontieren, dass neben dieser Strukturkomponente auch eine Konjunkturkomponente in dieser Schuldenregelung enthalten ist, die uns wie auch in der jetzigen Zeit auf der Basis der alten Schuldenregelung reagieren lässt und es uns erlaubt, antizyklisch das zu tun, was notwendig ist, um eine schwierige Wirtschaftslage einigermaßen zu stabilisieren.
Das zweite Missverständnis: Die Schuldenbremse nimmt der Politik Gestaltungsspielräume. Ich bin bereits darauf eingegangen - ich will dies jetzt nicht im Einzelnen wiederholen -, dass es um das Gegenteil geht. Wir stecken in einem Schraubstock der Verschuldung. Der steigende Schuldenstand und die steigende Zinslastquote verkarsten den Bundeshaushalt zusammen mit anderen Komponenten immer mehr. Anders ausgedrückt: Wir haben nicht nur ein Niveauproblem in unserer Ausgabenpolitik, sondern wir haben ein Strukturproblem in unserem Bundeshaushalt. Vier Komponenten legen 80 bis 85 Prozent des Bundeshaushaltes fest:
die Schulden, die Zahlungen an die Rentenversicherung, die gesetzlichen Leistungen und die Betriebsausgaben des Bundes. In Wirklichkeit entscheiden Sie als Souverän des Landes frei nur noch über 15 Prozent des Bundeshaushaltes, mehr nicht.
- Bin ich so unverständlich, dass Sie mich ständig unterbrechen müssen? Oder warum machen Sie ständig Zwischenrufe?
Das dritte Missverständnis: Gäbe es die Schuldenbremse in dieser Krise schon, hätte die Politik keine Konjunkturprogramme auflegen können. Ich habe versucht, Ihnen im Telegrammstil zu belegen, dass diese Programme auf Basis der alten Schuldenregelung möglich sind - mit den Risiken, die ich beschrieben habe -, aber auch auf Basis der neuen Schuldenregelung. Es ist ein Irrtum, der ständig weitergegeben wird, dass wir 20 10/2011 nicht antizyklisch reagieren können. Wir können das auf Basis dieser Schuldenregelung.
Ich will aus Zeitgründen ein letztes Missverständnis aufgreifen: Die Schuldenbremse entmachte angeblich die Länder und höhle den Föderalismus aus. Fakt ist: Die Schuldenbremse schafft weder das Budgetrecht der Landesparlamente ab, noch widerspricht sie dem föderalen Staatsaufbau. Wenn andere anderer Auffassung sind, sollen sie den dafür vorgesehenen Weg zum Bundesverfassungsgericht gehen.
Im Übrigen war es der Vorschlag des Bundes, und zwar sowohl der Vertreter der Exekutive als auch der Parlamentarier, auf Basis des Maastricht-Kriteriums von 0,5 Prozent den Ländern 0,15 Prozent anzubieten.
Die Länderfürsten haben sich eine Denkpause genommen. Als Sie wieder hereingekommen sind, haben sie zum Erstaunen der Bundesvertreter, zumindest vieler, die hier sitzen, die Strukturkomponente von 0,15 Prozent nicht angenommen.
Ich sage etwas flapsig: Das ist doch deren Problem und nicht mein Problem. Dann sollen sie es regeln.
Ich habe nichts dagegen, wenn sie diese Position im Bundesrat verändern.
Wer zukünftig einen handlungsfähigen Staat will, wer die Gestaltungsfähigkeit der Politik und nachfolgender Parlamentariergenerationen erhöhen will, der muss dafür sorgen, dass Schuldenstand und Zinslast reduziert werden. Ein handlungsfähiger Staat braucht langfristig tragfähige öffentliche Finanzen. Langfristig tragfähige Finanzen sind nur dann gewährleistet, wenn die Verschuldung dauerhaft langsamer wächst als das Bruttoinlandsprodukt. Genau das ist Kern dieser Schuldenregelung. Das ist die Basis der neuen Regelung. In meinen Augen ist das auch die Basis einer verantwortungsvollen, generationsgerechten Politik. Deshalb müssen wir mit unserer heutigen Entscheidung endlich die Konsequenz ziehen aus den vielen Reden, in denen wir auf die Belastung nachfolgender Generationen, unserer Kinder und Enkelkinder, hinweisen. Sie entscheiden heute, bezogen auf diese Schuldenregelung, ob das wichtige Ziel der Generationengerechtigkeit verfassungsrechtlich ausgefüllt, belegt und unterstützt wird oder nicht.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Ernst Burgbacher für die FDP-Fraktion.
Ernst Burgbacher (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundesfinanzminister, wir stimmen Ihnen zu,
aber nur in einem Punkt. Auslöser der ganzen Problematik war sicherlich die Reform der ersten Großen Koalition von 1969, als Art. 115 ins Grundgesetz aufgenommen wurde. Art. 115 bildete das Einfallstor für immer neue Schulden. Bis 1969 war der Staat weitgehend schuldenfrei; heute erdrückt uns die Schuldenlast. Kollege Wissing hat das hier deutlich gemacht.
Hier wird immer wieder die Mär geschürt, dass die Finanz- und Wirtschaftskrise die bisherige Konsolidierungspolitik unmöglich macht und dazu führt, dass man mehr Schulden auftürmen muss. Das stimmt nicht. Herr Finanzminister, ich erinnere daran, dass Sie in Ihrer Regierungszeit 19 Steuer- und Abgabenerhöhungen durchgeführt haben. Sie haben viel mehr Steuereinnahmen. Trotzdem haben Sie alle Haushalte - auch vor der Krise - mit einer Neuverschuldung vorgelegt.
Man muss dies noch einmal deutlich machen: 2007 waren es 14 Milliarden Euro, 2008 12 Milliarden Euro und 2009 10,5 Milliarden Euro. Das hat mit Konsolidierung nichts, aber auch gar nichts zu tun.
Dass heute ein historischer Tag ist, würde ich nicht sagen. Wir haben zusammen versucht - Herr Kollege Struck, ich bin wirklich dankbar für Ihre sachlichen Äußerungen hier -, etwas hinzubekommen.
Wir haben versucht, ein gemeinsames Konzept zu finden. Wir sind allerdings - das war immer unser Vorwurf - weit hinter der Zielsetzung des Einsetzungsbeschlusses zurückgeblieben.
Im Einsetzungsbeschluss haben wir zum Beispiel die Länderneugliederung angesprochen. Dieses Thema wurde in der Kommission überhaupt nicht mehr diskutiert, obwohl es vonseiten der FDP konkrete Vorschläge für eine Änderung von Art. 29 gab, um zumindest eine gewünschte Länderneugliederung zu erleichtern. Fehlanzeige!
Im Einsetzungsbeschluss war auch das Thema Steuerautonomie enthalten. Wir haben es auch einige Wochen diskutiert, aber am Schluss: Fehlanzeige! Jetzt haben wir ein Problem bei den Ländern. Wir verpflichten sie, keine Schulden mehr zu machen, andererseits geben wir ihnen bei den Einnahmen so gut wie keine Gestaltungsspielräume. Das kann eigentlich nicht sein.
Die Zahlen, die Herr Ramelow - er ist nicht mehr da - vorgetragen hat,
waren schon abenteuerlich. Vielleicht kann man Herrn Ramelow einmal sagen, dass das gesamte Erbschaftsteueraufkommen in Thüringen 7 Millionen Euro im Jahr beträgt. Nur damit man weiß, worüber man redet.
Einer unserer großen Vorwürfe ist, dass Sie das Thema Länderfinanzausgleich völlig ausgeklammert haben. Auch hier einige Zahlen, damit man weiß, worüber man redet. Aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der FDP ergibt sich, dass dem Saarland von 1 Million Euro zusätzlicher Erbschaftsteuer unter dem Strich gerade einmal 18 000 Euro blieben. Der Rest wird im Rahmen des Länderfinanzausgleichs abgezogen. Der Länderfinanzausgleich ist ein dermaßen anreizfeindliches System, dass eine Reform der Bund-Länder-Finanzbeziehungen ohne Reform des Länderfinanzausgleichs überhaupt nicht möglich ist. Das war der Fehler im Ansatz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, man sollte heute noch über einige andere Dinge reden. Es wird so manches in das Begleitgesetz geschrieben, was völlig unbeachtet bleibt. Es wundert mich zum Beispiel, dass in Art. 4 des Begleitgesetzes das Gesetz über die Verbindung der informationstechnischen Netze des Bundes und der Länder eingeführt wird. Das bedeutet, dass die Netze dann voll in Regierungshand, in der Hand irgendwelcher Kommissionen sind und die Parlamente überhaupt keine Eingriffsmöglichkeit mehr haben. Hier geht es aber um Grundlagen des Datenschutzes. Dies ist deshalb äußerst kritisch und stößt bei der FDP-Fraktion auf allergrößte Skepsis.
Wir haben in der Kommission versucht, eine große Reform der Bund-Länder-Finanzbeziehungen hinzubekommen. Ich erinnere noch einmal daran, dass diese Kommission auf Druck der FDP zustande gekommen ist. Ich finde es schade, dass die Große Koalition so wenig Mut hatte. Man muss noch einmal deutlich sagen, dass sich wieder zeigt: Eine Große Koalition steht für kleine Lösungen; denn kleiner könnte die Lösung fast nicht sein.
Wir hatten trotzdem erwogen, dem Gesetzentwurf zuzustimmen; aber dann hat sich die SPD vier Tage vor der Entscheidung von diesem Kompromiss, der gemeinsam getroffen wurde, wieder verabschiedet
und plötzlich eine andere Lösung für die Länder beschlossen. Es war ein Kompromiss der gesamten Kommission. Sie werden verstehen, dass wir daher nicht zustimmen können. Ich sage aber ganz klar - ich wiederhole, was mein Kollege Wissing gesagt hat -: Sollte dieser Entwurf unverändert durch den Bundesrat gehen, dann wird er an der FDP nicht scheitern; dann werden wir ihm zustimmen. Aber wir werden Ihnen heute keinen Blankoscheck dafür ausstellen, dass Sie nachher wieder das tun können, was Sie am liebsten tun, nämlich Schulden machen. Das wird mit der FDP nicht möglich sein.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Der Kollege Dr. Hans-Peter Friedrich ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Wir stehen heute vor einer historischen Entscheidung. Wir haben die Chance - der Bundesfinanzminister hat darauf hingewiesen -, 40 Jahre nachdem die erste Große Koalition die Schleusen für den Schuldenstaat geöffnet hat, diese Schleusen wieder zu schließen. Dies ist ein bedeutender Kraftakt. Erforderlich sind eine Zweidrittelmehrheit im Deutschen Bundestag und eine Zweidrittelmehrheit im Bundesrat. Wenn in einer Situation, in der die Interessen vielgestaltig und die Interessenkonflikte häufig sind, ein solcher Kraftakt gemeistert, eine solche gemeinsame Leistung auf den Weg gebracht werden kann, verdient das Anerkennung und Respekt. Ich halte es für eine politische Sensation, dass wir dazu heute in der Lage sind.
Noch vor einigen Jahren galt die allgemeine Meinung, es gebe keine ausgeglichenen Haushalte; in den öffentlichen Haushalten müsse es immer Schulden geben. Als Abgeordneter der CSU sage ich mit einigem Stolz, dass es Edmund Stoiber, langjähriger Ministerpräsident und CSU-Vorsitzender in Bayern, war, der vor über zehn Jahren gesagt hat: Ich will einen ausgeglichenen Haushalt erreichen.
Er wurde belächelt; aber er hat bewiesen, dass es geht. Er hat die Stabilitätspolitik hoffähig gemacht. Es war Theo Waigel - lassen Sie mich auch das mit Stolz anmerken -, der über die Maastricht-Kriterien die Stabilität zum Maßstab in Europa gemacht hat. Ich denke, das ist aller Ehren wert.
Mein Kompliment gilt auch den Ministerpräsidenten, die leider heute nicht hier sind. Sie sind über ihren Schatten gesprungen. Professor Fuest, Sachverständiger in der Anhörung und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Finanzministeriums, hat festgestellt: Politik hat sich parteiübergreifend zu einem beeindruckenden Schritt entschlossen.
Ich habe - das gebe ich zu - eine Schuldenbremse für die Länder nicht für möglich gehalten, weil mir die Vielgestaltigkeit der Interessen zu groß erschien. Ich habe immer vorgeschlagen, Kollege Kröning: Lasst uns zumindest eine Schuldenbremse für den Bund einziehen; dann haben wir wenigstens etwas erreicht. - Dass die Ministerpräsidenten sich zusammengesetzt haben und alle über ihren Schatten gesprungen sind, in Verantwortung für eine nachhaltige Finanzpolitik und für den gesamten Bundesstaat, ist aller Ehren wert. Dafür hat auch Günther Oettinger ein Kompliment verdient, der die vielgestaltigen Interessen vereint hat.
Mein Kompliment gilt aber auch den Ministerpräsidenten, deren Länder zu den Geberländern gehören und die weiteren Konsolidierungshilfen, also neuen Leistungen an die strukturschwachen Länder, zustimmen müssen. Auch das ist nicht einfach. Sie haben das zum einen in Verantwortung für den Gesamtstaat getan, zum anderen aber auch, weil Sie wissen, dass solide Staatsfinanzen langfristig in den Ländern dazu führen, dass Geld nicht mehr für Zinsen ausgegeben werden muss, sondern für politische Gestaltung zur Verfügung steht. Das kommt dann allen zugute und wirkt sich letzten Endes auch beim Länderfinanzausgleich positiv aus.
Es ist Kritik geäußert worden an der Tatsache, dass wir Jahreszahlen und konkrete Beträge in die Verfassung schreiben. Aber ich weise darauf hin, dass für einige der Ministerpräsidenten die Schuldenbremse nur dann ein Thema war, wenn sie Konsolidierungshilfen bekommen, und für andere die Zustimmung zu Konsolidierungshilfen nur dann ein Thema war, wenn eine Schuldenbremse eingezogen wird.
Beide Seiten haben gleichermaßen auf Rechtssicherheit in Bezug auf die Befriedigung ihres Anspruches gedrängt. Deswegen ist es richtig, dass wir das beiden Seiten verfassungsfest garantieren. Das bringen wir jetzt auf den Weg.
Detailregelungen hat Peter Huber, Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, in der Anhörung angesprochen. Er hat gesagt, als Verfassungsjurist habe er sehr viel Sympathie für die napoleonische Idee der Verfassung; eine Verfassung müsse kurz und unklar sein. Aber er hat darauf hingewiesen, dass wir seit 1990 schon einige sehr ausführliche Artikel in die Verfassung geschrieben haben: Art. 13, Art. 16 a, Art. 23, Art. 143 a und b. Der Sündenfall liegt also schon 20 Jahre zurück.
Man muss aber eines wissen: Die Schuldenbremse funktioniert nur, wenn wir minutiös festschreiben, dass das Geld zurückzuzahlen ist. Sie wissen, wie es mit allgemeinen und wertungsoffenen Begriffen ist. Wenn in der Verfassung steht, dass Schulden erst dann gemacht werden dürfen, wenn das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht gestört ist, fragt sich jeder, was das bedeutet. Die Antwort ist ganz einfach: wenn der Bundestag es beschließt. So können wir keine Schuldenbremse machen. Wir müssen eine Regelung in die Verfassung schreiben, die nicht manipulierbar bzw., wie Professor Huber sagt, die justiziabel ist. Wir haben eine Schuldenbremse geschaffen, die justiziabel ist und dazu führen wird, dass die Schulden in angemessener Form zurückgeführt werden.
Die Staatlichkeit der Länder wird durch die Schuldenbremse nicht berührt. Auch das war Thema vieler Erörterungen in den letzten Wochen. Professor Lange hat in der Anhörung zu Recht darauf hingewiesen, dass es Solidarität des Gesamtstaates nicht nur beim Ausgeben von Geld geben darf, sondern auch beim Sparen und beim Erbringen von Opfern für die finanzielle Stabilität des Landes geben muss. Ich denke, das ist ein wichtiger Punkt.
Lieber Herr Kuhn, Sie haben gesagt, die Länder seien in den nächsten Jahren völlig frei in der Entscheidung, ob sie Schulden machen oder nicht. Das ist nicht richtig.
Wir schreiben im neuen Art. 143 d des Grundgesetzes - ich bitte, das nachzulesen - vor, dass sich diejenigen, die Konsolidierungshilfen haben möchten, bestimmten Auflagen unterwerfen müssen.
Sie müssen sich der Nullverschuldung in Schritten nähern. Das beginnt im übernächsten Jahr und wird schrittweise bis zum Jahr 20 19/2020 vollendet sein. Darum geht es.
Professor Fuest, ebenfalls Sachverständiger in der Anhörung, hat darauf hingewiesen, dass es in den meisten OECD-Ländern in den letzten drei Jahrzehnten Versuche gab, Schuldenbremsen einzuführen. Es gibt eine ausführliche Forschung zu diesem Thema. Das Ergebnis dieser Forschung ist: Dort, wo Schuldengrenzen eingeführt wurden, werden tatsächlich weniger Schulden gemacht.
Ich denke, das sollte uns optimistisch stimmen.
Wir haben im Verwaltungsteil die Möglichkeit eines Leistungsvergleichs zwischen den Ländern eingeführt. Wie soll dieser Leistungsvergleich aussehen? Wir wollen, dass in diesem föderalistischen Staat auf allen Ebenen ständig um die besten und effizientesten Lösungen gerungen wird. Das ist eine Aufgabe, die sich jedem von uns jeden Tag stellt. Der Föderalismus ist ein Gestaltungswettbewerb, in dem um die besten Lösungen gerungen wird.
Dies wird offensichtlich auf der linken Seite des Hauses nicht verstanden. Lieber Herr Ramelow, zu dem, was Sie hier offensichtlich im Namen aller Sozialisten aller Fraktionen zum Thema Steuern erklärt haben, fällt mir Folgendes ein: Das Einzige, so sagte Winston Churchill, was Sozialisten von Geld verstehen, ist, dass sie es von anderen haben wollen.
Das habe ich inzwischen begriffen. Aber es ist unmoralisch,
das Geld von künftigen Generationen zu nehmen,
die sich heute nicht wehren können, und sie somit ihrer Chancen, Möglichkeiten und Spielräume zu berauben, die sie brauchen, um ihren Herausforderungen gerecht zu werden.
Wir stoppen heute den Weg in den Verschuldungsstaat. Das ist verantwortungsvoll gegenüber der Zukunft, gegenüber der jungen Generation. Ich bitte Sie deswegen um Zustimmung.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Volker Kröning ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion.
Volker Kröning (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der ersten Lesung dieses Gesetzespakets sind die Ergebnisse der Föderalismuskommission II gewürdigt worden. Heute sind wir in der zweiten und dritten Lesung. Die Anhörung zu dem Gesetzespaket hat ergeben, dass unter den Ökonomen, Juristen und Politikwissenschaftlern, die wir gehört haben, überwiegend Zustimmung besteht. Der Rechtsausschuss und die mitberatenden Ausschüsse sind diesem Ergebnis gefolgt. Sie empfehlen allesamt die Annahme des Pakets mit Zweidrittelmehrheit. Es tut mit leid, dass die FDP nicht dabei ist; aber das muss sie mit sich selbst ausmachen.
Die Abwägungen, die uns zu der heutigen Empfehlung geführt haben, hat der Fraktionsvorsitzende der SPD und vom Bund gestellte Kommissionsvorsitzende vorgetragen. Das lässt keine Zweifel, verehrter Herr Kauder, dass wir - auch bezüglich der Vereinbarungen, die den Entscheidungen zugrunde gelegen haben - koalitionstreu geblieben sind. Es freut mich, dass das auch nicht angezweifelt wird. Dies unterstützt die Einmütigkeit der Koalition.
Den Kernpunkt des Gesetzespakets haben die Kollegin Tillmann und der Bundesfinanzminister hinreichend und eindrucksvoll zusammengefasst, nämlich die Neufassung der verfassungsrechtlichen Kreditgrenzen. Ich brauche das nicht zu wiederholen. Ich kann mich dem voll anschließen, sowohl unter rechtspolitischer als auch unter ökonomischer Betrachtung.
Es wird deutlich, dass der Finanzpakt zwischen Bund und Ländern, der Ihnen vorliegt, ein für die Finanzverfassung typischer Interessen- und Machtkompromiss ist. Es kommt allerdings vor allem auf die Innovationen hinter dieser Technik an. Als Haushälter möchte ich namens der SPD-Fraktion drei Punkte ansprechen.
Erstens. Leitprinzip der gesamtstaatlichen Haushaltswirtschaft soll werden, was für die Bürgerinnen und Bürger selbstverständlich ist, nämlich nicht mehr auszugeben, als man einnimmt. In konjunkturell schlechten Zeiten dürfen Kredite aufgenommen werden, in konjunkturell guten Zeiten sind sie zurückzuzahlen. In einer Extremsituation können die Obergrenzen, die für Bund und Länder gelten, überschritten werden. Dieser Beschluss, der nur mit Kanzlermehrheit gefasst werden kann, ist mit einem Tilgungsplan zu verbinden. Das heißt, die neue Richtschnur lautet: Kredite sind zulässig, aber zurückzuzahlen. Kredit und Tilgung gehören zusammen. Das ist eine Lehre, die gerade aus der aktuellen Finanzkrise zu ziehen ist.
Zweitens. Die Bewältigung der Krise, in der wir uns befinden und über deren Ursachen und Folgen wir noch nicht genug wissen - das enthebt uns übrigens nicht unserer politischen Entscheidung, sondern fordert die Politik in einem ungewöhnlichen und neuartigen Sinne -, folgt in den Jahren 2009 und 2010 noch dem alten Recht, ab dem Jahre 2011 dann dem neuen Recht. Für den Bund gilt eine Anpassungsstrecke bis 2015, für die Länder bis 2019.
Leise, aber deutlich füge ich hinzu: Die Beseitigung der Folgen der Aufnahme außerordentlicher Kredite wird in den nächsten Jahren eine Höchstanforderung an die Politik sein, nicht nur mit Blick auf den Bundeshaushalt, sondern auch mit Blick auf die Nebenhaushalte. Dies gilt nicht nur für die Ausgabenseite, sondern auch für die Einnahmeseite der Haushalte, kurz: für den Steuerzahler, der für jede Leistung eine Gegenleistung erwartet, so für die Leistung der Krisenbewältigung die Gegenleistung der Rücksichtnahme auf seine Steuerzahlung. Das schulden wir den Bürgerinnen und Bürgern; das muss heute deutlich gesagt werden. Deshalb entscheiden wir heute über dieses Regelwerk. Die Bürgerinnen und Bürger wissen viel besser, als wir manchmal glauben, worum es geht, nämlich darum, die Krisenbewältigung nicht zum Vorwand für eine neue Schuldeneskalation werden zu lassen.
Drittens. Im Kern geht es nicht um die Haushaltsumfänge, sondern um die Haushaltsstrukturen. Dabei sind neben der Ausgaben- und der Einnahmeseite besonders die Investitionen in Sach- und Humanwerte ins Auge zu fassen. Dieser Bereich wird in den nächsten Jahren die größte Bewährungsprobe für die gesamtstaatliche Bildungspolitik sein. Das ist ein Kernanspruch der Bürgerinnen und Bürger, aber auch ein Kerninteresse unseres Landes im internationalen Umfeld. Es ist bereits deutlich gemacht worden: Nur so lässt sich eine sowohl konjunkturgerechte als auch zukunftsorientierte Finanzpolitik betreiben.
Ein weiterer Schwerpunkt der Reform ist die Weiterentwicklung der kooperativen Umgangsformen der Gebietskörperschaften: beim Steuervollzug auf der Basis des geltenden Art. 108 Grundgesetz, bei den öffentlichen Informations- und Kommunikationssystemen, bei einem kontinuierlichen Leistungsvergleich zwischen den Verwaltungen von Bund und Ländern und insbesondere mit der Errichtung des Stabilitätsrates zur Überwachung der gesamtstaatlichen Haushaltswirtschaft. Wer den Umgang von Bund und Ländern, zum Beispiel im Rahmen der Finanzministerkonferenz, viele Jahre miterlebt hat, der weiß, welch wichtige Innovation das ist. Ich freue mich, dass Sie, Herr Kollege Dr. Friedrich, gerade den kooperativen Gedanken betont haben, und zwar nicht in einem versteinerten, sondern in einem dynamischen Sinne.
Ich wiederhole, was ich schon angedeutet habe: Eine besondere Bewährungsprobe steht der Bildungs- und Wissenschaftsverfassung der Bundesrepublik bevor. Es wird von großer Bedeutung sein, wie sie sich nach den zwei Schritten der Bundesstaatsreform, die in diesem Jahrzehnt durchgeführt worden sind, entwickelt. Wir haben nicht nur eine striktere Trennung und somit eine bessere Zurechenbarkeit der Verantwortung, sondern auch mehr Zusammenwirken erreicht, sowohl bei der Forschung - das darf man nicht verkennen - als auch bei der Bildungsberichterstattung. Sie ist allemal besser als die frühere, völlig funktionslos gewesene Bildungsplanung.
Jetzt geht es um die Frage: Werden die Vereinbarungen des Bildungsgipfels 2008, die die Bundeskanzlerin und 16 Ministerpräsidenten getroffen haben, umgesetzt? Werden sie, wie das die Bürgerinnen und Bürger erwarten, nicht nur parlamentarisch vom Bundestag, sondern auch föderal, nicht nur vom Bund und den Ländern, umgesetzt? Werden sie so umgesetzt, dass in unserer Gesellschaft mehr Integration und Chancengleichheit erreicht werden? Werden sie so umgesetzt, dass sie auch ökonomisch wirksam werden? Dies geht, so sage ich ganz klar, mit der Verfassung
und setzt keine weitere Änderung der Verfassung voraus.
Bundesstaat für die Menschen - um einmal ein Leitbild deutlich zu machen - heißt, dass Familien in allen Ländern und Gemeinden die bestmögliche Bildung unabhängig von Grenzen in Anspruch nehmen können. Ich drücke es mit dem Preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun und dem Bremer Bürgermeister Martin Donandt so aus: zusammenarbeiten, als ob es Grenzen nicht gäbe. - Das sage ich als überzeugter Föderalist.
Die Fragen, um die es nach diesem Jahrzehnt im nächsten Jahrzehnt gehen wird, sind angedeutet worden: die Tauglichkeit der Steuerverteilung, ihrer Maßstäbe, aber auch ihrer Berechnung, und eine aufgabenadäquate Finanzausstattung - auch dieses Thema wird über den einen Bund und die 16 Länder hinaus auch für die über 12 000 Gemeinden von Bedeutung bleiben. Kurz gesagt - so, wie wir es im Koalitionsvertrag gesagt haben; wir brauchten nicht die FDP, um uns auf diesen Weg zu machen -: Eigenverantwortung der Gebietskörperschaften, die den Namen verdient.
Dabei darf keine Politik, die sich dem Gesamtstaat verpflichtet fühlt, sei es nun die Bundespolitik oder die Politik der Ländergesamtheit, aus den Augen verlieren, dass noch immer 60 Prozent der Schulden - in Kürze sogar deutlich mehr - auf den Schultern des Bundes lasten, der Bund aber nur 40 Prozent der Einnahmen - ohne Kredit - erhält. Ich möchte hier heute noch einmal deutlich sagen: Das kann mit Blick auf die nächste Dekade so nicht bleiben.
Zum Schluss will ich danken: den langjährigen Weggefährten in meiner Fraktion und Partei, die sehr mitgeholfen haben, die Ergebnisse der Föderalismusreformen I und II zu erreichen, den Partnern in der Union, auf die Verlass ist, den Mitarbeitern der Verwaltungen und auch der Arbeitsgruppen, auf deren Gewissenhaftigkeit - das darf man Beamten konzedieren - wir bauen konnten, und stellvertretend für alle Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich als Obmann zusammengearbeitet habe - auch auf den anderen Politikfeldern -, Dr. Peter Struck. Vielen Dank.
Ich bitte um Annahme des Pakets.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Günter Krings für die CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Günter Krings (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Ich darf zunächst einmal im Anschluss an die Worte von Herrn Kollegen Kröning dieses Lob zurückgeben. Es hat Spaß gemacht, in den beiden Föderalismuskommissionen mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Das war eine gute Zeit hier im Parlament und war eine gute Arbeit für den Deutschen Bundestag und das Land insgesamt.
Wenn man in diesen Tage einerseits auf der Zielgeraden zur Schuldenbremse im Rahmen der Föderalismusreform steht und andererseits sieht, dass wir durch die Finanzmarktkrise gezwungen sind, eine Rekordneuverschuldung zu akzeptieren, dann kann einem schon einmal ein Satz von Mark Twain nachdenklich machen:
Als sie das Ziel aus den Augen verloren, verdoppelten sie ihre Anstrengungen.
Im Unterschied zu Twains Romanhelden Huckleberry Finn, der aussichtslos einem Mississippidampfer hinterherpaddelte, haben aber wir ein klares Ziel vor Augen, und wir werden mit der Föderalismusreform gleich hoffentlich auch einen klaren Kurs abstecken, auf dem wir dieses Ziel - runter mit der Neuverschuldung, Neuverschuldung möglichst bei Null - erreichen können.
Dies ist deshalb wichtig, weil sich die Politik auch in der Demokratie immer einem Dilemma ausgesetzt sieht.
Schulden sind heute immer ein relativ bequemer Ausweg, um möglichst vielen Interessen Rechnung tragen zu können. Diejenigen, die durch Schulden belastet werden können - eben künftige Generationen -, haben heute im politischen Prozess noch gar keine Stimme, egal wie tief man das Wahlalter ansetzt. Diejenigen, die Opfer dieser Schuldenpolitik sein werden, sind heute noch gar nicht geboren.
Aus dem Grunde ist im Verfassungsstaat die einzige Möglichkeit, dieses Dilemma wenigstens ein Stück weit aufzulösen, eine verfassungsrechtliche Selbstbeschränkung. Genau das versuchen wir mit dieser Föderalismuskommission: eine Selbstbindung von Regierung und Parlament, eine Selbstbindung von Bund und Ländern.
Die Schuldenbremse - darauf haben die Redner der FDP gerade hingewiesen - mag nicht perfekt sein. Sie ist aber ein realistischer und konsequenter Ansatz, der deutlich über das hinausgeht und besser ist als das, was vor knapp 40 Jahren im Deutschen Bundestag beschlossen worden ist. Wir gehen ab von dem Prinzip, so viele Schulden machen zu dürfen, wie wir investieren, weil es nicht funktioniert hat. Die bestehende Schuldenregelung im Grundgesetz hat fast 40 Jahre Zeit gehabt, eindrucksvoll ihre Untauglichkeit zu beweisen. Wir haben jetzt die Wahl, das einfach weiter hinzunehmen oder zumindest einen wichtigen Schritt in Richtung weniger Neuverschuldung zu machen.
Das ist deutlich besser als gar nichts. Mir ist ein halbes Brot allemal lieber, als gar kein Brot zu bekommen.
Jetzt ist also die Zeit für einen neuen Anfang. Ich finde es gut, Herr Kuhn, dass wir uns im Grundsatz auch mit den Grünen einig sind. Aber in den sieben Jahren Rot-Grün habe ich Ihr Engagement für weniger Schulden vermissen müssen. Wer sieben Jahre Zeit hatte, etwas zu tun, aber nichts getan hat, sodass in jedem Haushalt eine deutliche Neuverschuldung notwendig wurde - ohne eine Finanzmarktkrise -, der sollte zumindest die Chance ergreifen, dass diese Selbstbeschränkung eine Besserung herbeiführt.
Ich will noch auf einige Kritikpunkte eingehen. Ein wesentlicher Kritikpunkt, der auch von einigen Ländern vorgetragen wurde, war, wir würden ungebührlich in die Haushaltsautonomie der Länder eingreifen. Dieser Kritikpunkt relativiert sich schon ein ganzes Stück, wenn man einen Blick in den jetzigen Text der Finanzverfassung wirft. Dieser Text beinhaltet ebenfalls eine Reihe von Einschränkungen für die Länder. Darauf gehe ich gleich ein.
Insgesamt gebietet es der solidarische Verbund zwischen Bund und Ländern sowie zwischen den Ländern untereinander auch, dass das Grundgesetz Regelungen vorsieht, die auch die Länder binden. Das Grundgesetz ist voll mit solchen Bindungen für die Länder, angefangen bei den Grundrechten bis zu dem Homogenitätsgebot nach Art. 28 Abs. 1 und speziell dem Sozialstaatsprinzip, das übrigens immense Kostenfolgen für die Länder hat. Es ist für die Länder eben nicht zum Nulltarif zu haben. Wir geben klare Vorgaben, die die Länder einhalten müssen. Das ist auch nicht erstmalig in der neuen Finanzverfassung der Fall. In der geltenden Finanzverfassung gibt es bereits sehr starke Eingriffsmöglichkeiten. Im Falle der Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts kann der Bundesgesetzgeber heute schon sogar Kreditobergrenzen für die Länder vorschreiben, ja er kann die Länder sogar verpflichten, Rücklagen bei der Bundesbank zu bilden. Das ist geltendes Verfassungsrecht, das bislang von niemandem in Karlsruhe angegriffen wurde.
Auf einen Punkt muss ich in diesem Zusammenhang noch hinweisen. Ich habe mich etwas geärgert, dass die Landtagsvertreter, die in die Föderalismuskommission miteingebunden waren, jetzt - zum großen Teil jedenfalls - kritisieren, dass sie in ihrer Autonomie zum Schuldenmachen eingedämmt werden, aber den Ländern, die eine Steuerautonomie für sich gefordert haben, nicht beigesprungen sind.
Haushaltsautonomie kann nicht erst dann beginnen, wenn man Schulden machen will; sie muss - wenn ich sie richtig verstehe - umfassend gemeint sein. Das gilt dann für Einnahmen und Ausgaben.
Ein zweiter Kreditpunkt, der von vielen Stellen in diesem Hause vorgetragen worden ist, betrifft den Text der Verfassungsänderung: Er sei zu lang und zu detailreich. Nach 60 Jahren Grundgesetz mag ein wenig Nostalgie mitschwingen, dass man schaut: Wie war es damals, wie ist es heute? Die Verfassungsänderung heute findet aber unter völlig anderen Gesetzmäßigkeiten und Bedingungen statt als die Verfassungsgebung vor 60 Jahren. 1949 war Deutschland zwar ökonomisch eine Trümmerwüste, aber juristisch war es eine echte Stunde Null. Um mit John Rawls zu sprechen: Es lag ein Schleier des Nichtwissens über dieser Verfassungsgebung. Es war eben nicht klar, welches Land besonders stark und welches besonders schwach herauskommen würde und wie die einzelnen Rollen - auch in ökonomischer Hinsicht - im Bundesstaat verteilt werden würden. Es gab eine gewisse Bereitschaft, ein Wagnis einzugehen. Das ermöglichte damals, nach der Maxime Napoleons zu handeln, der einmal gesagt haben soll: Verfassungen müssen kurz und unklar sein.
2009, 60 Jahre später, sind die Bedingungen vollkommen anders. Nach 60 Jahren Bundesstaatspraxis ist diese konsensfördernde Unkenntnis verschwunden. Jeder weiß genau, wo er steht. Bildlich gesprochen: Bei einer Föderalismusreform sitzt jeder Verhandlungspartner schon mit dem Taschenrechner auf den Knien am Tisch und rechnet auf Punkt und Komma aus, was das für ihn in Euro und Cent bedeutet, was er verliert und was er gewinnen kann. Das macht es schwer bzw. unmöglich, wolkige und allgemeine Formulierungen hineinzuschreiben. Das verlangt nach sehr konkreten und präzisen Regelungen. Das kann man kritisieren, aber das ist die Realität. Wer das nicht erträgt, muss bereit sein, auf Verfassungsänderungen, die notwendig sind und die Lücken schließen, generell zu verzichten. Er würde den Verfassungsstaat zu Untätigkeit und Unveränderbarkeit verurteilen. Genau das wäre sicherlich nicht im Sinne der Mütter und Väter unseres Grundgesetzes.
Es gab auch manchen gut gemeinten Vorschlag im Rahmen der Beratungen im Deutschen Bundestag. Ich gebe gern zu, dass das Ziel vieler Vorschläge eine Verschlankung und vielleicht eine bessere Lesbarkeit der Texte war. Aber diejenigen, die solche Vorschläge unterbreitet haben, haben verkannt, dass selbst scheinbar wenig bedeutende Nebensätze eine klare normative Wirkung bei dieser Reform haben. Ich nenne als Beispiel, das in starkem Maße auch die Kommunen betrifft, Art. 104 b des Grundgesetzes. Hier gab es den Vorschlag, der Bund solle Finanzhilfen für alle außergewöhnlichen Notsituationen auch außerhalb seiner Gesetzgebungskompetenz geben können und nicht nur für diejenigen, die dem staatlichen Einfluss entzogen sind. Das hätte die Tore viel weiter geöffnet, als wir von der Union das wollten. Das, was wir mit der letzten Föderalismusreform geschafft haben, wäre dann in der Tat weitgehend zurückgedreht worden.
Wir nehmen nun eine sachgerechte Öffnung vor, gehen aber nicht weiter, als es in der Sache geboten ist. Die aktuelle Wirtschaftskrise zeigt, dass diese Öffnung richtig ist. Wer hier die reine Lehre vertritt und sagt, gemäß der Trennung von Bund und Ländern und im Sinne eines echten Gestaltungs- oder Wettbewerbsföderalismus müssten die Finanzhilfen ganz zurückgefahren werden, der hätte in der aktuellen Wirtschaftskrise konsequenterweise nur vorschlagen dürfen: Die Länder bekommen befristet Einnahmen aus zwei oder drei Mehrwertsteuerpunkten, und der Bund legt kein Konjunkturprogramm auf. Er hält sich aus allen Maßnahmen heraus und überlässt alles den Ländern. - Einen solchen ernst gemeinten Vorschlag gab es von keiner Seite dieses Hauses. Das ist auch nachvollziehbar. Aus diesem Grund ist die Öffnung, die wir in Art. 104 b des Grundgesetzes vornehmen, richtig und notwendig.
Diese Öffnung ist dringend notwendig; denn viele Kommunen in Deutschland sind nach wie vor verunsichert, ob ihre Projekte, die mit Mitteln aus dem Konjunkturpaket II finanziert werden sollen, verfassungskonform sind. Wenn wir aber Stimulanz durch diese Konjunkturpakete wollen, dann müssen wir auch dafür sorgen, dass das Geld tatsächlich ausgegeben werden kann. Viele Kommunen schauen uns heute zu und warten ab, ob die geplante Verfassungsänderung Realität wird. An die Adresse derjenigen, die diese Verfassungsänderung ablehnen, sich enthalten oder das Ganze im Bundesrat stoppen wollen, sage ich: Es herrscht Zeitdruck. Wer dieses Projekt auch nur für einige Wochen aufhält, verhindert, dass Städte, Gemeinden und Kreise in Deutschland zeitnah dieses Geld ausgeben können.
Ich finde, die nun zu beschließende Föderalismusreform bietet eine historische Chance für mehr Generationengerechtigkeit. Diese Chance zu verspielen, wäre unklug und leichtfertig, weil wir angesichts der Finanzmarktkrise und der Notwendigkeit neuer Schulden die Verschuldungsschleusen in diesen Tagen ein Stück weit wieder öffnen müssen. Wenn wir aber nicht gleichzeitig einen Schließmechanismus in das Grundgesetz einbauen, dann wird eine ganze politische Generation in Deutschland - so befürchte ich - daran verzweifeln, die Schleusentore wieder zu schließen. Wir müssen beides, Generationengerechtigkeit und Nachhaltigkeit auf der einen Seite sowie die Notwendigkeit, in dieser Krise zu reagieren, auf der anderen Seite, miteinander verbinden.
Wir als Union und die Große Koalition nehmen diese Herausforderung - ich hoffe, möglichst einstimmig - an. Wir handeln verantwortlich, weil wir gerade in der Krise diese Schuldenbremse verabschieden wollen. Ich hoffe, dass möglichst viele Mitglieder aller Fraktionen in diesem Hause dem zustimmen können.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13221, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/12410 in der Ausschussfassung anzunehmen. Mir liegen rund 40 persönliche Erklärungen zur Abstimmung aus fast allen Fraktionen des Hauses zu diesem Gesetzentwurf vor, die wir nach dem üblichen Verfahren dem Protokoll beifügen.
- Darf ich einen Augenblick um Aufmerksamkeit bitten? - Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
und Schlussabstimmung. Ich weise darauf hin, dass zur Annahme dieses Gesetzentwurfs die Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Deutschen Bundestages erforderlich ist. Das sind mindestens 408 Stimmen. Wir stimmen nun über den Gesetzentwurf auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und SPD namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Ich eröffne die Abstimmung.
Gibt es noch einen Kollegen oder eine Kollegin, die ihre Stimmkarte noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Da die Begleitgesetze in einem logischen Zusammenhang mit den gerade zur Abstimmung stehenden Grundgesetzänderungen stehen, schlage ich im Einvernehmen mit den Geschäftsführern vor, dass ich bis zur Vorlage des Auszählungsergebnisses dieses Abstimmungsvorganges die Sitzung kurz unterbreche. Das wird voraussichtlich nur wenige Minuten dauern. Deswegen möchte ich Sie bitten, hierzubleiben, weil wir unmittelbar danach über die Begleitgesetze zur Föderalismusreform abstimmen.
Die Sitzung ist für diesen kurzen Augenblick unterbrochen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich eröffne die unterbrochene Sitzung wieder und gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Schlussabstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes - Drucksachen 16/12410 und 16/13221 - bekannt: abgegebene Stimmen 575. Mit Ja haben gestimmt 418,
mit Nein haben gestimmt 109, enthalten haben sich 48 Kolleginnen und Kollegen. Der Gesetzentwurf hat die erforderliche verfassungsändernde Mehrheit erreicht und ist damit beschlossen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf der Drucksache 16/13232? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit Mehrheit abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 16/13231? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch dieser Entschließungsantrag ist mehrheitlich abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/13230? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch dieser Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 36 b. Es geht um die Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurf eines Begleitgesetzes zur zweiten Föderalismusreform. Der Rechtsauschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13222, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/12400 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
und Schlussabstimmung. Ich darf diejenigen, die diesem Gesetzentwurf zustimmen wollen, bitten, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist auch dieser Gesetzentwurf mit der notwendigen Mehrheit angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 37 a und 37 b sowie die Zusatzpunkte 7 a und 7 b auf:
37. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Silke Stokar von Neuforn, Volker Beck (Köln), Monika Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Grundrecht auf Datenschutz im öffentlichen und privaten Bereich stärken
- Drucksache 16/13170 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Renate Künast, Silke Stokar von Neuforn, Jerzy Montag, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines ? Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 2 a, 5 a, 13 a, 19)
- Drucksache 16/9607 -
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuss)
- Drucksache 16/13218 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Beatrix Philipp
Dr. Michael Bürsch
Gisela Piltz
Jan Korte
Silke Stokar von Neuforn
ZP 7 a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesdatenschutzgesetzes
- Drucksachen 16/10529, 16/10581 -
- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesdatenschutzgesetzes
- Drucksache 16/31 -
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuss)
- Drucksache 16/13219 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Beatrix Philipp
Dr. Michael Bürsch
Gisela Piltz
Jan Korte
Silke Stokar von Neuforn
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Silke Stokar von Neuforn, Bärbel Höhn, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mehr Datenschutz beim so genannten Scoring
- Drucksachen 16/683, 16/13219 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Beatrix Philipp
Dr. Michael Bürsch
Gisela Piltz
Jan Korte
Silke Stokar von Neuforn
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Bundesdatenschutzgesetzes liegt ein Entschließungsantrag der FDP-Fraktion vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Dr. Hans-Peter Uhl für die CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute über den von den Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes, aber auch über einen von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zum sogenannten Scoring.
Datenschutz ist zum zentralen Anliegen unserer Gesellschaft geworden, einer Gesellschaft im Informationszeitalter. In einer Zeit, die von einer Automatisierung der Datenverarbeitung geprägt ist und in der uns das Internet mit Daten aller Art zuschüttet, erleben wir eine Datenflut. Das muss natürlich zur Folge haben, dass der Schutz der Daten im Rahmen dieser Datenflut neu organisiert wird.
Wir als Koalition haben uns dem Thema Datenschutz gestellt und uns monatelang in Verhandlungen zwischen SPD und Union sowie mit den betroffenen Verbänden und den Datenschützern mit diesem Thema befasst.
Das Bundesverfassungsgericht hat in einem beachtenswerten Urteil aus dem Jahre 1983, wie Sie wissen, das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung sozusagen eingeführt. Eine weitere wichtige Entscheidung im Bereich Datenschutz ist im Februar vergangenen Jahres zur Onlinedurchsuchung ergangen. Hier wurde das Recht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität bei Nutzung informationstechnischer Systeme begründet - ein weiterer Baustein für einen effizienten Datenschutz. Wer diese Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes jetzt in Grundgesetzartikeln normieren will, macht etwas, was nicht zwingend nötig ist; denn es handelt sich bereits um materiell geltendes Verfassungsrecht, wie Juristen schon im ersten Semester in Staatsrechtsvorlesungen lernen.
- Sinnvoll kann es dann sein, wenn man sich mit den einfachgesetzlichen Fragen befasst. Das will ich hier heute tun.
Es ist zunächst einmal eine Verlagerung des Problems festzustellen. Es geht nicht mehr in erster Linie um die Festlegung von Abwehrrechten des Bürgers gegenüber dem Staat. In diesem Bereich liegen erkennbar nicht die Hauptprobleme, die zu regeln sind.
Es geht nämlich nicht um den öffentlichen Bereich, sondern um den privaten Sektor, also den Datenschutz in diesem Bereich.
Der Staat - das hat, wie ich meine, die Diskussion zur Onlinedurchsuchung durchaus auch ergeben - muss verantwortungsbewusst mit den Daten, die er sammelt, umgehen, und der Bürger muss vor einer unverhältnismäßigen Datensammelwut des Staates geschützt werden. Der Staat - all das haben wir über eine Vielzahl von Sicherheitselementen in das Gesetz zur Onlinedurchsuchung eingebaut - kann nicht willkürlich im Wege der Onlinedurchsuchung Daten erheben und auf die Festplatten der Bürger zugreifen. Wir haben einen Richtervorbehalt eingebaut; all das geht also nur, wenn ein Richter zustimmt. Wir haben entsprechende Befugnisse nur dem Präsidenten gegeben und nicht einfachen, kleinen Mitarbeitern. Wir haben die Verwertung geregelt, also wie mit erkennbar privaten Daten, auf die man dabei stößt, umzugehen ist. All dies haben wir in einem sehr komplizierten Gesetzeswerk minutiös geregelt. Das Verhältnis zwischen Bürger und Staat im Umgang mit entsprechenden Daten und der Schutz dieser Daten sind also sehr sensibel geregelt worden.
Die Datenskandale, die uns im vergangenen Jahr und auch schon in diesem Jahr bewegten - es wird wahrscheinlich in den kommenden Monaten noch weitere geben -, waren völlig anderer Natur. Mit diesen Skandalen verbindet man die Namen Lidl, Telekom, Post und Deutsche Bahn, um nur einige zu nennen. Die Liste mit den Namen von privaten oder privatisierten Firmen, die im Umgang mit den schützenswerten, intimen Daten ihrer Mitarbeiter bzw. von deren Angehörigen jede Sensibilität vermissen lassen, wird sich - davon bin ich zutiefst überzeugt - fortsetzen. Das ist der Punkt, um den es geht: Wie können wir verhindern, dass im privaten Sektor Ausspähung durch den Arbeitgeber erfolgt?
Wir führen in der Koalition seit langem Gespräche darüber, ob wir das noch in dieser Legislaturperiode leisten können. Wir sind zu dem Ergebnis gekommen: Wir sollten diesem Thema Aufmerksamkeit schenken und werden in einem neu geschaffenen § 32 BDSG die für den Arbeitnehmerdatenschutz geltenden Rechtsgrundlagen, ohne sie zu verändern, noch einmal aufzeigen, wissend, dass wir in der nächsten Legislaturperiode, wer auch immer dann die Mehrheit haben wird, das Thema Arbeitnehmerdatenschutz sehr sorgfältig und grundsätzlich in einem eigenen Gesetz behandeln müssen.
Ich bitte deswegen, diesen § 32 BDSG, der hoffentlich in der nächsten Sitzungswoche behandelt wird, nicht als abschließende Behandlung dieses Themas, sondern als Einstieg in eine grundsätzliche Diskussion zu verstehen.
Was heute schon behandelt werden kann, ist das Scoring. Auf dieses Thema wird meine Kollegin Frau Philipp nachher ausführlich eingehen. Unsere Vorschläge bringen deutliche Verbesserungen für die Betroffenen. Man soll erfahren können, was Auskunfteien über einen an Daten sammeln, wie der Score-Wert für einen berechnet wird und was er bewirken kann. Dadurch wird im Bereich des Scoring Transparenz geschaffen. Deswegen sind wir mit dem Gesetzentwurf, den wir Ihnen heute vorlegen können, sehr zufrieden.
Wir, die Unionsfraktion, genauso aber die SPD, haben, auch gemeinsam, in einer Anhörung mit der Wirtschaft, mit Verbraucherschutzverbänden, mit Datenschützern, eine Unzahl von Gesprächen geführt, um Verbesserungen beim privatwirtschaftlichen Datenschutz herbeizuführen. Wir haben es hier mit einem Zielkonflikt zu tun, der uns allen bewusst sein muss: Einerseits gibt es das Recht des Bürgers auf informationelle Selbstbestimmung, andererseits gibt es berechtigte Interessen der gewerblichen Wirtschaft an der Nutzung von bestimmten Daten zu Werbezwecken. Die Wirtschaft muss wirksam werben können. Dazu gehört auch adressierte Werbung, die wir nicht verurteilen, sondern zulassen wollen.
Die Frage ist nur: Wie kommt die Wirtschaft an diese Daten, und wie kann sich der Bürger, der solchermaßen beworben wird, dagegen wehren? Wir dürfen auf keinen Fall zulassen, dass intime Verbraucherdaten gesammelt und zur Bildung eines Profils genutzt werden, um auf diese Weise den Bürger gezielt zu bewerben. Der Bürger muss sich gegen solche Werbung wehren können. Er muss das letzte Wort haben, wenn es darum geht, seine persönlichen Daten zu nutzen, um ihn gezielt zu bewerben; denn er hat das Recht, über die Verwendung seiner Daten zu bestimmen.
Deswegen sind wir dabei, eine Wende einzuleiten: dass künftig der Grundsatz gilt, dass die Weitergabe und die Nutzung von Daten zu Zwecken des Adresshandels und zu Werbezwecken nur nach Einwilligung des Betroffenen - eine solche Regelung wird heutzutage Opt-in-Regelung genannt - erfolgen darf.
Wer meint, all dies könne man durch Artikel im Grundgesetz lösen, der irrt - oder er macht Symbolpolitik. Diese Themen sind kompliziert. Wenn Sie unsere Entwürfe in den Händen halten, werden Sie sehen, wie detailliert und ausgewogen wir diesen Zielkonflikt lösen.
Die Einführung eines neuen Grundgesetzartikels als Lösung darzustellen, macht überhaupt keinen Sinn. Ich habe bereits gesagt: Materiell-rechtlich, verfassungsrechtlich sind die Probleme durch das Bundesverfassungsgericht mit seinen beiden Grundsatzurteilen bereits gelöst. Da besteht kein Handlungsbedarf. Jetzt geht es darum, detailliert und mit einfachgesetzlichen Regelungen diesen Zielkonflikt vernünftig auszutragen: einerseits der Wirtschaft das Werben möglich machen, andererseits dem Betroffenen die Möglichkeit zu geben, selbst zu entscheiden, wann seine Daten benutzt werden, ob und von wem er beworben werden will.
Das ist die sehr komplizierte Aufgabenstellung, mit der wir uns auch noch in diesen Stunden - das gebe ich gerne zu - beschäftigen. Wir verhandeln auch heute noch darüber, wie wir zu einem guten Datenschutzgesetz kommen können. Herr Bürsch, der in der nächsten Legislaturperiode, wenn ich das richtig sehe, nicht mehr dabei sein wird, ist guter Hoffnung, dass er dieses Kind noch auf die Welt bringen wird.
Ich meine, wir sollten hier alle an einem Strang ziehen und vernünftige Regelungen erarbeiten: zum Wohle der Betroffenen und des Datenschutzes, aber ohne die Wirtschaft mit ihren legitimen Interessen außer Acht zu lassen. Wer die Diskussionen über Opel, Karstadt und andere in größte Not geratene Firmen verfolgt, der kann nicht zur gleichen Zeit sagen: Die Wirtschaft darf nicht mehr wirksam werben. - Das passt nun weiß Gott nicht in die Landschaft.
Wer sich mit dem Thema einmal näher befasst, der weiß, was daran für eine Industrie hängt. Damit sind Umsätze in Milliardenhöhe und sehr viele Arbeitsplätze verbunden. Deswegen hat es gar keinen Sinn, diese Form der Werbung zu verteufeln. Wir müssen einen vernünftigen Mittelweg finden. Das werden wir tun.
Gehen wir es an! Wir müssen uns um einfachgesetzliche Regelungen bemühen, statt plakativ die Einführung irgendwelcher Grundgesetzartikel zu fordern, die die Welt nicht verändern werden und können; denn diese Rechtsgedanken sind durch höchstrichterliche Rechtsprechung bereits normiert. Um diesen Punkt geht es uns heute.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, durch ein Versehen ist eine falsche Reihenfolge bei der Rednerliste entstanden.
- Nein. Dies ist ein Antrag der Fraktion der Grünen, die damit eigentlich das Recht haben, die Debatte zu eröffnen. Deswegen erteile ich jetzt als zweiter Rednerin der Kollegin Stokar das Wort.
Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Uhl hatte hier sichtlich Probleme, seine lange Redezeit mit irgendwelchen Inhalten zu füllen.
Wir haben jetzt erfahren, dass sich die Große Koalition beim Thema Datenschutz in einem Zielkonflikt befindet. Es wäre allerdings Ihre Aufgabe, diesen Zielkonflikt zu lösen und hier tatsächlich Inhalte, über die Sie dann reden könnten, vorzulegen.
Wir haben jetzt 60 Jahre Grundgesetz gebührend gefeiert. Es ist an der Zeit, sich wieder verstärkt der Verfassungswirklichkeit zu widmen. Diese sieht eher traurig aus. Eindrucksvoll hat der Grundrechte-Report 2009 dokumentiert, in welcher Gefahr sich die Bürgerrechte in unserem Land befinden. Im Zusammenhang mit dem Datenschutz wird im Grundrechte-Report von einem ?toten Grundrecht? gesprochen. Lassen Sie uns dieses Grundrecht gemeinsam wiederbeleben!
Richtig ist: Sowohl der Staat als auch Private haben in der Vergangenheit das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gröblich missachtet. Die Datenschutzverstöße gehen munter weiter. So werden - das ist nur ein Beispiel - hochsensible personenbezogene Daten des Gemeinsamen Analyse- und Strategiezentrums illegale Migration, des GASIM, zwischen Polizeibehörden und Nachrichtendiensten munter hin- und hergeschoben, ohne dass es dafür eine hinreichende Rechtsgrundlage gibt. Es ist ganz gleich, ob beim Staat oder in der Privatwirtschaft: Da, wo hingeschaut und kontrolliert wird, finden wir Datenschutzverstöße und Datenschutzskandale. Auch die mangelnde Kontrolle und die fehlenden harten Sanktionen haben dazu geführt, dass das Grundrecht auf Datenschutz unter die Räder gekommen ist.
Es ist nun einmal so: Da, wo Regeln außer Kraft gesetzt werden, herrscht die blanke Anarchie. Wir müssen uns heute damit auseinandersetzen, dass sich die Sicherheitszentralen der großen Konzerne offensichtlich vom Rechtsstaat und von der Bindung an die Verfassung abgekoppelt haben. Ganz gleich, ob Lidl, Telekom, Deutsche Bahn oder der große Autokonzern Daimler - diese Aufzählung ist keineswegs vollständig -: Die Persönlichkeitsrechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wurden völlig ignoriert. Im vermeintlichen Interesse der Konzernsicherheit wurden ganze Belegschaften heimlich gescreent. Die Kommunikation von Aufsichtsräten, Gewerkschaftern und Journalisten wurde ausgeforscht. Es wurden Krankheitsdossiers angelegt. Die Videoüberwachung am Arbeitsplatz ging bis in den intimsten Privatbereich.
Ich begrüße es durchaus, dass diese groben Verstöße gegen den Datenschutz in unserer Gesellschaft nicht mehr klaglos hingenommen werden. Es ist richtig, dass diejenigen zur Verantwortung gezogen werden, die diese ungeheuren Überwachungs- und Bespitzelungsskandale zugelassen haben. Ich finde es richtig, dass sie ihre Vorstandsjobs verlieren und sich heute vor Gericht verantworten müssen.
Erschüttert und erschreckt hat mich das fehlende Unrechtsbewusstsein. Dass wir Pressefreiheit, Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit haben, das wissen heute die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land. Wir wollen, dass Datenschutz gleichermaßen als unveräußerliches Grundrecht in die Köpfe der Bevölkerung eingeht. Wir halten es für richtig, den Datenschutz als eigenständiges Grundrecht in die Verfassung aufzunehmen.
Für mich gilt der Grundsatz: Ein einfacher Blick in die Verfassung muss ausreichen, damit Grundrechte für jedermann klar definiert erkennbar sind. Ich möchte den Bürgerinnen und Bürgern nicht zumuten, Urteile des Bundesverfassungsgerichts hervorholen und eine Ableitung aus den Grundrechtsartikeln 1 und 2, die die Persönlichkeitsrechte definieren, herstellen zu müssen. Die Argumentation, in den Art. 1 und 2 sei alles ablesbar, ließe auch den Schluss zu, auf die restlichen Grundrechte in unserer Verfassung verzichten zu können. Aber niemand kommt auf die Idee, zu sagen, dass eines dieser Grundrechte überflüssig ist oder nicht in die Verfassung gehört. Im 21. Jahrhundert, im Jahrhundert der Informationsgesellschaft, gehört der Datenschutz als eigenständiges Grundrecht in unsere Verfassung.
Unsere Verfassung ist nichts Totes. Unsere Verfassung ist etwas Lebendiges. Der ehemalige Verfassungsrichter Winfried Hassemer bezeichnet das Grundgesetz gern als eine Baustelle. Er nannte im Zusammenhang mit der Vorstellung des Grundrechte-Reports 2009 das Grundgesetz ein Gesetz, das nahe am Leben ist, das auf den sozialen Wandel reagiert, das beweglich und lernfähig ist. Im Bereich des Datenschutzes müssen wir auf den rasanten Technologiewandel reagieren. Im Bereich des Datenschutzes haben wir eine Veränderung, die sich eben nicht in unserer Verfassung widerspiegelt. Deswegen sagen wir: Datenschutz gehört in die Verfassung.
Wir waren durchaus bereit, über einzelne Formulierungen unseres Gesetzentwurfes zu diskutieren. Aber von Ihrer Seite kam nur die Ablehnung.
In einem einzigen Punkt dieser groß angelegten Datenschutzdebatte können Sie von der Großen Koalition sich heute loben: Die Koalitionsvereinbarung haben Sie voll umgesetzt. Darin steht nämlich zum Thema Datenschutz nichts. Zum Thema Datenschutz haben Sie bis heute nichts Vernünftiges vollbracht. Für mich ist es ein trauriges Kapitel der Parlamentsgeschichte, dass es die Abgeordneten der CDU, der CSU und der SPD sind, die seit Monaten jeden Fortschritt beim Thema Datenschutz blockieren. Bundesinnenminister Schäuble hat bereits im Herbst des letzten Jahres einen Gesetzentwurf vorgelegt, der durchaus bemerkenswerte Verbesserungen enthielt. Im Dezember des letzten Jahres ging dieser Gesetzentwurf einstimmig durch das Kabinett. Dann kam in der ersten Lesung des Bundestages der Totalverriss durch die Abgeordneten der CDU, begleitet von massiven Bedenken aus den Reihen der SPD. Ich habe dies früher anders erlebt: Der Innenminister hat blockiert, und das Parlament war bemüht, Datenschutz zu stärken. Bei Ihnen in der Großen Koalition ist es umgekehrt.
Das halte ich für einen Skandal und für peinlich.
Bundesinnenminister Schäuble verkündete nach dem Datenschutzgipfel im vergangenen Herbst großspurig das Ende des Listenprivilegs, Horst Seehofer wollte dem Adresshandel ein Ende setzen, und Bundeskanzlerin Merkel versprach noch auf dem Verbrauchertag am 12. Mai, Adressdaten dürften nur noch mit der Einwilligung der Betroffenen weitergegeben werden. Alles Schall und Rauch, Ankündigungen, die nicht umgesetzt werden. Ich kann nur sagen: Über allen Gipfeln ist Ruh?. Seit Monaten warten wir auf die Abschaffung des Listenprivilegs und die Einführung einer klaren Opt-in-Regelung für die Weitergabe von persönlichen Daten.
Aber SPD und CDU waren schon immer die Datenschutzmuffel. Ich erinnere mich noch gut an die Zeiten, als Datenschutz hier als Täterschutz diffamiert wurde. So tragen Sie eine Mitverantwortung für die Datenschutzskandale, mit denen wir uns in den letzten Monaten auseinanderzusetzen hatten.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die SPD sich in den Jahren der rot-grünen Regierungszeit schlicht und ergreifend weigerte, die Koalitionsvereinbarungen zum Datenschutz umzusetzen. Ganz gleich, ob unter Arbeitsminister Müntefering oder jetzt Arbeitsminister Scholz, das Thema Arbeitnehmerdatenschutz fiel einer sozialdemokratischen Arbeitsverweigerung zum Opfer. Sie haben vom verfassungsrechtlich geschützten Streikrecht an der falschen Stelle Gebrauch gemacht. In den vergangenen zehn Jahren wurde trotz vielfacher Parlamentsbeschlüsse jede Forderung nach einem Arbeitnehmerdatenschutzgesetz ignoriert und ausgesessen. Eine Presseerklärung von Andrea Nahles vom heutigen Tag ist nichts weiter als eine weitere Ankündigung; sie schafft kein Arbeitnehmerdatenschutzgesetz. Die realen Chancen, hier etwas zu machen, haben Sie vertan. Auch zu diesem Thema haben wir bereits seit über einem Jahr umfangreiche Vorschläge vorgelegt.
Das Einzige, was Sie hier heute zur Datenschutzdebatte beitragen können, ist ein Gesetz zum Scoring. Nur bleibt auch in diesem Gesetz der Datenschutz auf der Strecke. In weiten Bereichen hat sich die Lobby der Auskunfteien durchgesetzt. Sie begrenzen das Scoring nicht, sondern dehnen es weiter aus. Scoring macht Sinn, wenn es darum geht, die Bonität im Bereich von Kreditgeschäften zu bewerten. Zu dieser Einschränkung kommt auch der Bundesrat. Sie aber lassen Scoring für alle weiteren Lebensbereiche zu. Ihre Ausweitung des Scoring wird in wenigen Jahren dazu führen, dass wir eine massive soziale Ausgrenzung über Scorewerte haben werden. Sie lassen die Bewertung der Bonität nach Wohnort ausdrücklich zu. Es reicht einfach nicht aus, wenn eine Entscheidung nicht ausschließlich von Geodaten abhängig gemacht werden darf. Dies wird zu einer massiven Verschärfung der sozialen Diskriminierung von Menschen führen, die in sozialen Brennpunkten leben. Sie werden höhere Zinsen für Kredite zahlen müssen, wenn sie überhaupt einen bekommen, sie können vom Versandhandel und vom Internetshopping weitgehend ausgeschlossen werden, und sie bekommen Schwierigkeiten beim Abschluss von Mobilfunkverträgen und Internetanschlüssen. Hiermit stärken Sie die Auskunfteien, die die Bonität von Kunden nicht nach dem tatsächlichen Verhalten, sondern nach der Wohnanschrift bewerten, und Sie schwächen die Schufa, die zumindest bemüht ist, Datenschutzregeln einzuhalten. Bislang verzichtet die Schufa auf die Verwendung von Geodaten. So viel zu Ihrem Argument, es sei nicht praxistauglich. Außerdem stärken Sie diejenigen Auskunfteien, die ?Auskunft light? machen und damit massiv in die soziale Vertragsgestaltung von Menschen eingreifen.
Wir fordern darüber hinaus die Einrichtung eines Internet-Bürgerportals. Auch das haben Sie im Innenausschuss abgelehnt.
Wir haben im Innenausschuss drei konkrete Änderungsanträge vorgelegt. Diese hätten die gröbsten Mängel dieses Gesetzes bereinigt. Dazu gab es aus Ihren Reihen keine Zustimmung. Wir können heute Ihrem Gesetz zum Scoring nicht zustimmen. Für Datenschutzplacebopolitik gibt es von uns keine Unterstützung.
Danke schön.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollegin Gisela Piltz für die FDP-Fraktion.
Gisela Piltz (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es hat niemand die Absicht, im Privatleben harmloser Bürger herumzuschnüffeln.
Der eine oder andere wird mir nicht glauben, wenn ich Ihnen jetzt sage, von wem das Zitat ist. Es ist von Bundesinnenminister Schäuble und stammt aus dem Tagungsband Terrorismusbekämpfung in Europa - Herausforderungen für die Nachrichtendienste. Es geht weiter:
Und jeder, der das behauptet und dem Staat einen Überwachungswahn unterstellt, untergräbt das Vertrauen in unsere rechtsstaatliche Ordnung.
Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht das Gerede vom Überwachungsstaat, sondern die Sorge vor dem Überwachungsstaat untergräbt das Vertrauen in den Rechtsstaat.
Wer sich nicht mehr sicher sein kann, ob er sich unbeobachtet im Rahmen seiner Freiheitsrechte frei entfalten kann, ist nicht mehr frei, kann nicht mehr auf seine Freiheit vertrauen. Genau das ist es, was das Bundesverfassungsgericht unter mittelbarer Beeinträchtigung der Grundrechte versteht.
Die Verletzung des Grundrechtes auf informationelle Selbstbestimmung hat in der laufenden Legislaturperiode ein solches Ausmaß angenommen, dass man sich fragen muss, ob von diesem Grundrecht seitens der Bundesregierung und der sie tragenden Fraktionen überhaupt noch Kenntnis genommen wird.
Herr Uhl, interessanterweise haben Sie fünf Minuten lang nur über das BKA-Gesetz gesprochen. Nur für diejenigen, die zugeschaut haben: Das ist schon längst verabschiedet; das ist nicht aktuell; das ist nicht das Thema dieses Tages.
Das BKA-Gesetz, das immer noch kritisch zu sehende BSI-Gesetz - man kann nur hoffen, dass die Notbremse noch gezogen wird - und die Vorratsdatenspeicherung, gegen die die größte Klage läuft, die dieses Land je gesehen hat - von über 30 000 Menschen -, sind nur drei Beispiele von vielen für die schleichende Entwertung der Bürgerrechte, für das, was Sie in diesem Parlament beschlossen haben.
Soweit es allerdings um die Verbesserung der datenschutzrechtlichen Belange des einzelnen Bürgers geht, agieren Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der sogenannten Großen Koalition, nicht einmal im Schneckentempo. Etablierung eines Einwilligungsvorbehalts bei der Weitergabe von personenbezogenen Daten? Bisher Fehlanzeige. Ich bin einmal gespannt, ob Sie Ihr Spitzenpersonal, Ihren Innenminister und Ihre Kanzlerin, im Regen stehen lassen. Wir werden das sehr interessiert verfolgen. Die Kollegin Stokar hat ja schon viel dazu gesagt.
Novellierung des Arbeitnehmerdatenschutzes? Auch da Fehlanzeige.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie stellen seit elf Jahren einen Minister, der sich - bei unterschiedlichen Titeln - Minister für Arbeit nennt. Dass es in elf Jahren kein Arbeitsminister in Deutschland geschafft hat, die Datenschutzinteressen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wahrzunehmen und den Schutz durchzusetzen, ist wirklich ein Armutszeugnis für eine Partei, die sich Arbeiterpartei nennt. Das muss ich Ihnen wirklich einmal sagen.
- Wissen Sie, Sie können sich nicht immer damit rausreden, dass jemand anders das auch nicht gemacht hat. Sie regieren seit elf Jahren. Bekennen Sie sich dazu. Bekennen Sie sich zu Ihren Fehlern, und schieben Sie Ihre Fehler nicht immer auf andere ab.
In der Sache sind wir von der FDP-Bundestagsfraktion absolut bei Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Ich weiß, dass Sie das überrascht. Der Datenschutz gehört auch nach unserer Auffassung 60 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes, 25 Jahre nach dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts und erst recht mit Blick auf das Urteil Karlsruhes zur Onlinedurchsuchung ins Grundgesetz. Hiermit würde die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durch den Verfassungsgesetzgeber anerkannt.
Der Verfassungsgesetzgeber - also wir - würde zudem auch landespolitischen und europarechtlichen Entwicklungen Rechnung tragen. Herr Uhl, Sie müssen das nicht wissen, aber bereits zehn Länder haben ein Datenschutzgrundrecht explizit in ihre Verfassung aufgenommen. Sie müssen auch nicht wissen, dass das Gleiche für die europäische Grundrechtscharta gilt. So gesehen ist es gar nicht so abwegig, darüber einmal nachzudenken.
Obgleich wir in der Zielsetzung durchaus beieinander sind, haben wir von der FDP-Fraktion doch erhebliche Zweifel an der rechtlichen Umsetzung Ihres Gesetzentwurfes. Ich will Ihnen auch sagen, warum das so ist. Bereits in der wegweisenden Entscheidung zur Volkszählung im Jahr 1983 führte das Bundesverfassungsgericht aus, dass ?Einschränkungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung nur im überwiegenden Allgemeininteresse zulässig sind?. Die Formulierung in Ihrem Gesetzentwurf wird dieser Vorgabe leider nicht gerecht.
Ich will Ihnen gar nicht unterstellen, dass Sie die Voraussetzungen für Eingriffe in den Schutzbereich der informationellen Selbstbestimmung absenken wollen. Es könnte mit Ihrer Formulierung aber passieren. Wir von der FDP sind nur dann an Ihrer Seite, wenn klar ist, dass das im Grundgesetz formulierte Grundrecht nicht hinter den Vorgaben des Verfassungsgerichtes zurückbleibt.
Sonst spielen wir nur denen in die Hände, die immer und immer wieder in die Grundrechte eingreifen, und erreichen eben gerade nicht das, was wir erreichen wollen. Aus unserer Sicht hat Ihr Gesetzentwurf an dieser Stelle leider handwerkliche Fehler.
- Och, Herr Bürsch! Ich muss jetzt wirklich nicht die Grünen verteidigen.
Ich könnte als Beispiele für handwerkliche Fehler auch manche Gesetzentwürfe der CDU/CSU nennen. Als Studentin an der Uni habe ich mir das Agieren eines Gesetzgebers anders vorgestellt.
- Das gilt für Sie also auch. - Damit können Sie sich leider nicht herausreden.
Wir können dem Gesetzentwurf in dieser Form nicht zustimmen. Vielleicht tut sich ja noch etwas.
Dasselbe gilt aus unserer Sicht auch für den quasi in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aufgesetzten Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Bundesdatenschutzgesetzes. Der abenteuerliche Umgang der sogenannten Großen Koalition mit den beiden Datenschutznovellen ist wirklich zu einer Farce geworden. Wie hoch Sie die Bedeutung des Datenschutzes in diesem Haus einschätzen, zeigt sich daran, dass Sie sieben Monate gebraucht haben, um diesen Gesetzentwurf ins Parlament einzubringen. Sie haben nicht einmal einen eigenen Tagesordnungspunkt dafür bekommen, sondern mussten den Tagesordnungspunkt der Grünen quasi hijacken.
Das wundert einen aber nicht. Wer Tag und Nacht um Kleinigkeiten feilscht, hat für die großen Dinge, nämlich wichtige Gesetze auch im Plenum zu verabschieden, vielleicht keinen Blick mehr. Ich bin sicher, das hört bald auf, und ich hoffe, es wird besser.
Wir begrüßen es jedenfalls, dass wenigstens dieser Teil jetzt zum Abschluss kommt, auch wenn man nicht sagen kann: Ende gut, alles gut.
Diese Änderungen des Bundesdatenschutzgesetzes sind aus unserer Sicht wichtig und richtig. Wichtiger wäre aus unserer Sicht jedoch gewesen, das gesamte Bundesdatenschutzgesetz zu novellieren. Der eine oder andere weiß es vielleicht nicht: Das Bundesdatenschutzgesetz stammt aus dem Jahr 1978. Es ist zum 1. Januar 1978 inkraft getreten. Zu der Zeit hatte mein Telefon noch eine Wählscheibe, und von den vielfältigen Möglichkeiten mobiler Kommunikation, von Handy oder Laptop hatten wir gar keine Ahnung.
Wir wussten auch noch nicht, was man alles speichern kann, wie leicht und wie schnell man etwas speichern und wie schnell man Millionen von Daten übertragen kann.
Wir Liberale haben uns von Anfang an dafür eingesetzt, dass Betroffene und Verbraucher bessere Auskunfts- und Informationsrechte gegenüber den Auskunfteien erhalten. Der ursprünglich vorgelegte Gesetzentwurf war ein erster Schritt in die richtige Richtung. Ich bin sehr froh, dass es gelungen ist - sicherlich auch durch den öffentlichen Druck und durch die ganzen Skandale -, noch erhebliche Verbesserungen vorzunehmen. Das muss man konzedieren. Der uns heute vorliegende Gesetzentwurf ist immer noch nicht gut, aber er ist besser als der ursprüngliche Entwurf.
So ist es nach unserer Auffassung gut, dass die verantwortliche Stelle nunmehr verpflichtet sein soll, den Betroffenen auf Verlangen die wesentlichen Gründe für eine Entscheidung des Vertragspartners mitzuteilen. Ein Fortschritt ist auch, dass künftig die Bedeutung des sogenannten Scorewertes einzelfallbezogen und nachvollziehbar beauskunftet - das heißt wirklich so; es ist ein schreckliches Wort - werden muss und insbesondere das unsägliche Gewichten von Adressdaten nur noch eine untergeordnete Rolle spielen darf. Es ist doch nicht mit sozialer Politik vereinbar, dass ich eine Leistung oder eine Ware nicht bekomme oder nicht Vertragspartner werden kann, nur weil ich eine falsche Adresse habe. Das war bisher Praxis, und das darf einfach nicht sein.
- Frau Philipp, Sie haben gleich 15 Minuten Redezeit. Dann können Sie ganz viel erzählen, keine Sorge.
Einige aus unserer Sicht entscheidende Punkte haben indes leider nicht Einzug in den Gesetzentwurf gehalten. Diese möchte ich kurz darstellen.
Da ist zum einen die fehlende Begrenzung des Scorings auf Rechtsgeschäfte mit zumindest weitgehend kreditorischen Risiken. Der Anwendungsbereich des Scorings wird auch nach der Verabschiedung der Novelle zu breit gefasst sein. Nach unserer Einschätzung kann das Scoringverfahren jedoch nur dort seine Berechtigung finden, wo bei dem abfragenden Unternehmen besondere finanzielle Ausfallrisiken bestehen. Ich möchte nicht, dass demnächst auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gescort werden.
Das könnte hier theoretisch der Fall sein. Der Entwurf setzt der derzeit zu vernehmenden Ausweitung des Scoringverfahrens indes nichts entgegen. Das wäre aus unserer Sicht aber dringend notwendig gewesen.
Als Zweites möchte ich eine kritische Bemerkung zu Art und Umfang der Informationspflicht der Auskunfteien machen. Im Aufriss des Problems im Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/10529 heißt es, dass Verbraucher aufgrund der intransparenten Verfahrensweisen der Auskunfteien die Entscheidungen ihrer potenziellen Geschäftspartner nur schwer oder gar nicht nachvollziehen könnten. Dieser zweifelsohne richtigen Problemanalyse soll eine Stärkung der Informations- und Auskunftsrechte der Betroffenen entgegengesetzt werden. Leider hapert es wie so oft an der Umsetzung dieses Lösungsansatzes.
Warum, frage ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der sogenannten Großen Koalition, haben Sie sich bis zum Ende der Beratungen gegen die Einführung einer Pflicht zur Offenlegung der Gewichtung der Daten gesperrt? Das an dieser Stelle gegen ein Mehr an Transparenz oft ins Feld geführte Argument des Schutzes von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen kann dabei nicht überzeugen. Genauso wenig nützt die einseitige Argumentation, es könne zu Manipulationsversuchen durch den Bürger kommen. Es wird völlig übersehen, dass Transparenz immer etwas Positives ist. Sie hätten durchaus auch dem alternativen Vorschlag des Bundesdatenschutzbeauftragten folgen können, der die Beauskunftung von persönlichen Daten in absteigender Reihenfolge ihrer Bedeutung nach vorgeschlagen hat.
Der Gesetzentwurf kann also leider keine größere Begeisterung hervorrufen, weder bei uns noch bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern. Noch viel weniger ist mit der Verabschiedung dieses Gesetzentwurfes der lange Weg zu mehr Datenschutz zu Ende. Insoweit appelliere ich an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und SPD: Versuchen Sie, eine Einigung auch bei den anderen Gesetzentwürfen zu erzielen! Es ist an der Zeit, dass Sie Ihre Scheingefechte bei der Datenschutznovelle aufgeben und endlich Politik für die Verbraucherinnen und Verbraucher machen.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollege Michael Bürsch für die SPD-Fraktion.
Dr. Michael Bürsch (SPD):
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal herzlichen Dank an die grüne Fraktion für die Gelegenheit, über das Thema Datenschutz einmal etwas grundsätzlicher zu reden. Das ist in dem vorliegenden Antrag angelegt. Eine Debatte über das Grundrecht Datenschutz bietet, wie ich finde, eine gute Gelegenheit, sich - über den heutigen Tag und einige aktuelle Anlässe hinaus - über den Datenschutz im 21. Jahrhundert im Allgemeinen ein paar Gedanken zu machen.
Bevor ich dazu komme, möchte ich zwei kleine Vorbemerkungen machen.
Herr Uhl hat darauf hingewiesen, dass die Datenschutznovelle noch in Arbeit ist. Wir nehmen unsere Arbeit so ernst, dass wir auch den heutigen Tag nutzen. Wir streben an, die sogenannte Datenschutznovelle - zu der das Thema Einwilligung statt Widerruf und Ähnliches gehört - in der nächsten Sitzungswoche wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Die Kollegin Anette Kramme wird zum Arbeitnehmerdatenschutz etwas sagen, der Kollege Zöllmer zum Scoring.
Zur Kollegin Stokar ein etwas ironisches Wort: Datenschutz fängt, meine ich, bei den Mitgliedern des Bundestages an. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: Sollte Datenschutz nicht auch die Geheimhaltung bezüglich der Stimmabgabe bei geheimen Abstimmungen umfassen?
Das kann man aufgrund Ihrer Einlassung durchaus überlegen.
Im Übrigen sind Sie ja seit letztem Sonnabend Hospitantin der CDU/CSU-Fraktion. Vielleicht liegt es sogar nahe, Frau Kollegin Stokar, dass Sie sich mit den politischen Ansichten der CDU/CSU-Fraktion ein bisschen befreunden. Dann könnte die nächste Rede, die Sie halten, etwas freundlicher ausfallen.
Genug der Vorrede.
Zum Datenschutz im 21. Jahrhundert möchte ich ein paar Bemerkungen machen und auch ein paar Grundsätze nennen, an denen sich das orientieren sollte, was uns aus meiner Sicht in der nächsten Legislaturperiode beschäftigen sollte.
Es ist darauf hingewiesen worden, dass das Datenschutzrecht aus den 70er-Jahren, aus 1978, stammt. Am 13. März 1989 - das ist im Grunde der Beginn des neuen Zeitalters, der digitalen Revolution - legte der Brite Tim Berners-Lee in Genf den Grundstein für das Datennetz. Eigentlich wollte er nur die Zusammenarbeit der Forscher in einem Großforschungsinstitut verbessern, doch heraus kam der sogenannte Hypertext,
der Informationen auf eine völlig neue Art miteinander vernetzt. Der erste Browser des Amerikaners Marc Andreessen öffnete dann die Tür zum Massenmarkt.
Heute nutzen über 1 Milliarde Menschen das Internet. Wofür andere Branchen Jahrzehnte brauchen, vollzieht sich im Internet im Zeitraffer. Umwälzende Techniken wie Breitbandverbindungen oder mobile Geräte wie das iPhone lassen das Leben im Netz pulsieren. Bald werden alle Telefongespräche über das Internet geführt; auch das Fernsehen verlagert sich mehr und mehr ins Netz.
Nach den Pionieren sind nun Unternehmen wie Facebook und Twitter die neuen Stars im Web 2.0, das für viele das wahre Internet darstellt. Nun kommunizieren Millionen Menschen über das Netz miteinander. Der große Trend ist zurzeit die Offenheit. Internetunternehmen öffnen ihre Software, Millionen Entwickler entwickeln Zusatzprogramme usw. Was ist mit dem ursprünglichen Erfinder Berners-Lee?
Berners-Lee ist heute Sir Berners-Lee; er ist mit vielen Orden dekoriert. Er arbeitet an der dritten Generation des Netzes, dem sogenannten semantischen Internet.
Das zur Beschreibung, wohin sich das Ganze entwickelt hat.
Nun sage ich etwas zu dem, was Sie thematisiert haben, nämlich die Frage der Grundrechte beim Datenschutz und die Frage, was wir, wenn wir das ernst nehmen, berücksichtigen müssen. Ich werde am Ende auch etwas zu Ihrem Vorschlag sagen, ähnlich wie die Kollegin Piltz es getan hat.
Worauf kommt es beim Datenschutz im 21. Jahrhundert an? Es wird immer wieder gesagt, Datensparsamkeit müsse das oberste Ziel sein, so stehe es auch im Bundesdatenschutzgesetz. Aber, ich fürchte, das wird jedenfalls auf Dauer ein frommer Wunsch. Mit Datenflut werden wir leben müssen. Der Technologietrend, den wir schon jetzt beobachten, ist, dass immer mehr Informationen elektronisch gespeichert und ausgetauscht werden. Das umfasst Zahlen, die wir - wir haben die vier Grundrechenarten gelernt - überhaupt nicht nachempfinden können. Im Jahr 2001 wurden 1015 Bytes und im Jahr 2006 wurden 1018 Bytes bewegt. Für das Jahr 2010 sagen die Experten voraus, dass 1021 Bytes bewegt werden.
Inzwischen sind so viele Menschen online - es kommen täglich neue hinzu -, dass wir uns, wenn wir Datenschutz ernst nehmen und eine Interessenabwägung vornehmen wollen, darauf einstellen müssen.
Wenn wir über Datenschutz im 21. Jahrhundert sprechen, merken wir, dass es einen eklatanten Widerspruch in der Einstellung der Bürger gibt. Einerseits wünschen sich 95 Prozent der Deutschen, dass ihre Daten nur mit ihrer Zustimmung wiedergegeben werden dürfen; das besagt eine Umfrage von Infratest dimap. Andererseits gehen sie sehr freigiebig mit ihren Daten um, wenn sie zum Beispiel in sozialen Netzwerken wie Facebook oder StudiVZ aktiv sind.
Die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts ist klar. Es heißt in dem Verfassungsgerichtsurteil zur Volkszählung: Der Einzelne muss das Recht haben, selbstbestimmt zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden. - Aber selbst in diesem Verfassungsgerichtsurteil - den Zusatz muss man dazu lesen - heißt es: Das gilt nicht uneingeschränkt. - Das heißt, auch das Verfassungsgericht hat erkannt, dass das, was in § 1 des Bundesdatenschutzgesetzes steht, nicht dem entspricht, was die Grünen in der Kurzfassung daraus machen, nämlich: Jeder Bürger hat das Recht auf seine Daten, und niemand anders soll da reinpfuschen. Das ist so leider nicht durchzuhalten.
Datenschutz - darauf will ich hinweisen - ist, glaube ich, kein Selbstzweck mehr. Es wird immer eine Interessenabwägung geben müssen, so wie wir das jetzt bei den Überlegungen zur Datenschutznovelle machen. Wir müssen auf der einen Seite das informationelle Selbstbestimmungsrecht schützen und den Verbraucherschutz berücksichtigen. Auf der anderen Seite gibt es wirtschaftliche Interessen. Was uns vorgetragen wurde, war zum Teil abenteuerlich. Das haben wir auch so gekennzeichnet. Ich war überrascht, mit welcher Frechheit zum Teil der Untergang des Abendlandes an die Wand gemalt wurde, der stattfinden würde, wenn wir den Zugang zu Daten nicht zuließen und nicht die Möglichkeit eines ungehinderten und uneingeschränkten Datenhandels schafften.
In den 35 oder 40 Gesprächen, die Herr Uhl für die CDU/CSU und ich für die SPD im letzten halben Jahr geführt haben, sind allerdings auch sehr vernünftige Vorschläge gemacht und Geschäftsmodelle vorgestellt worden, mit denen man sich wirklich beschäftigen muss: vom ADAC, von der Post und von verschiedenen Zeitungen.
Wir Abgeordnete sind keine Datenschützer mit Tunnelblick. Wir sind auch nicht nur Verbraucherschützer. Wir müssen vielmehr eine Gesamtabwägung vornehmen. Frau Stokar, das war immer mein Selbstverständnis als Abgeordneter.
Allerdings - auch darauf will ich hinweisen - hat die Politik durchaus eine Gewährleistungsverantwortung. Der Schutz der Daten der Bürger gegen Missbrauch ist Sache der Politik und Sache des Staates. Hierfür brauchen wir Schutzmechanismen; das ist mir bei der Beschäftigung mit diesem Thema im letzten halben Jahr immer klarer geworden. Wir brauchen Schutzmechanismen für den Einzelnen, damit er das Selbstbestimmungsrecht besser ausüben kann.
Wir sollten auch viel mehr als bisher die Techniken der Verschlüsselung berücksichtigen. Die Weitergabe von Daten kann nämlich in vielen Fällen, anders als es bisher der Fall war, in verschlüsselter bzw., wie die Fachleute sagen, in pseudonymisierter Form durchgeführt werden. All die Fluggastdaten, die von uns Europäern an die Amerikaner in offener Form weitergegeben werden - einzelne Passagierdaten werden in genau der Form weitergegeben, in der sie aufgenommen worden sind -, könnte man verschlüsselt weitergeben, sodass die Sicherheit trotz Datenweitergabe gewährleistet ist und die Möglichkeit besteht, potenzielle Straftäter und Terroristen zu entdecken. Die Möglichkeiten, die es in diesem Bereich gibt, werden aber noch nicht ausgeschöpft. Ich werbe dafür, diese Möglichkeiten, die technisch immer weiter entwickelt werden, ins Visier zu nehmen. Dadurch können den Bürgern nämlich technische Möglichkeiten an die Hand gegeben werden, die missbräuchliche Nutzung von Daten selbst zu verhindern.
Mein Fazit: Die klassischen Methoden des Datenschutzes wie Datensparsamkeit, Löschung und Nichterhebung im Falle sensibler Daten werden sicherlich nach wie vor ihre Berechtigung behalten. In unserer immer stärker vernetzten Welt reichen sie aber weder aus, noch sind sie die Lösung des Problems; das habe ich versucht darzustellen.
Die Ergebnisse von Untersuchungen zu Datenverlusten und Datenmissbrauch - zu solchen Vorfällen ist es im letzten Jahr einige Male gekommen - belegen, dass bis zu 80 Prozent der Verletzungen des Datenschutzes nicht durch externe Hacker, sondern durch das eigene Personal, durch Vertragspartner der Verwaltung und andere Unternehmen begangen werden. Sowohl im Rahmen der prozessübergreifenden als auch im Rahmen der internationalen Vernetzung müssen insofern neue organisationsumfassende Datenschutzmethoden, -prozesse und -technologien eingesetzt werden.
Frau Stokar, das hat auch mit dem Thema des Antrags der Grünen, der Forderung nach einem Grundrecht auf Datenschutz, zu tun.
Was bedeutet das im Hinblick auf die zukünftige Gestaltung des Datenschutzes in einem umfassenden Sinne, die übrigens auch der Bundesrat in seiner Stellungnahme gefordert hat? Ich bin der Meinung, dass wir den Datenschutz in dem geschilderten umfassenden Sinne nicht, wie es im Datenschutzrecht gegenwärtig der Fall ist, allein vom Staat her, aber auch nicht allein von der Wirtschaft her definieren dürfen, sondern dass wir den Datenschutz vom Bürger her definieren sollten. Das ist Sache des Parlaments und, wie ich meine, auch Sache der Sozialdemokratie.
Auf die Frage, wie sich das Datenschutzrecht auch mit Blick auf den Grundrechteschutz in den nächsten fünf bis zehn Jahren entwickeln sollte, würde ich fünf Prinzipien nennen, die auch als Antwort auf die technologische Entwicklung verstanden werden können.
Das erste Prinzip lautet Transparenz. Das heißt, die Bürger müssen jederzeit erkennen können, wer wann und aus welchem Grund auf ihre personenbezogenen Daten zugegriffen hat.
Das zweite Prinzip lautet Beteiligung. Das heißt, die Bürgerinnen und Bürger haben umfassende und gesicherte Rechte, über die Nutzung ihrer Daten mitzubestimmen, und sie wissen auch, was sie damit tatsächlich tun. Wenn man sich vor Augen hält, welch eine Fülle von Daten in sozialen Netzwerken heutzutage preisgegeben werden, muss man feststellen: Dies ist offensichtlich eine Frage der Aufklärung.
Das dritte Prinzip hat mit der informationellen Selbstbestimmung zu tun, allerdings in einer etwas anderen Form als in der, in der sie bis jetzt betrachtet wird. Es geht um informationelle Selbstbestimmung als Selbstdatenschutz.
Es gibt ein sehr interessantes Projekt der EU, das sich PRIME nennt. Mit diesem Projekt wird das Ziel verfolgt, die Bürger zu ermächtigen, private Daten selber effektiv zu verwalten und zu schützen. Im Moment wird ein Feldversuch hinsichtlich des zukünftigen, vielleicht in einigen Jahren zu verwendenden, Personalausweises unternommen. Die Bürger werden also in die Lage versetzt, selber darüber zu entscheiden, welche Daten oder Teildaten bzw. Eigenschaften beim Datenverkehr preisgegeben werden. Den Daten, die mit ihrer Person zusammenhängen, wird als Schutzvorrichtung praktisch etwas angehängt, das mit diesen Daten, wo immer sie auftreten, verbunden ist. Jemand Unbefugtes kann diese Schutzvorrichtung nicht einfach beseitigen. Insofern ist der Selbstdatenschutz die Antwort auf die Herausforderungen und die technologischen Entwicklungen des 21. Jahrhunderts.
Das vierte Prinzip ist, dass wir aus meiner Sicht einen intelligenten Mix brauchen. Wir müssen den Datenschutz so ernst nehmen, dass sich diesem Thema hier nicht nur 20 oder 25 Kollegen mit voller Leidenschaft und großer Zuneigung widmen, sondern dass von den über 600 Abgeordneten irgendwann vielleicht einmal die Hälfte das Thema so ernst nimmt, wie es das verdient. Aus den geschilderten Gründen brauchen wir einerseits eine technologische Entwicklung, die wir unterstützen, indem wir die Möglichkeiten des Selbstdatenschutzes entsprechend fördern, andererseits müssen wir die rechtlichen Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass man diesen Selbstdatenschutz betreibt.
Das fünfte Prinzip, das ich nennen will, hat mit etwas zu tun, was ich an anderer Stelle einen neuen Gesellschaftsvertrag genannt habe. Ich meine, in der Zeit, in der wir uns im Moment befinden, stehen wir vor enormen Herausforderungen. Das ist nicht nur die Wirtschafts- und Finanzkrise, sondern das sind auch die Themen Bildung, demografische Entwicklung, Gesundheit und Integration. Sie können viele Themen nennen, bei denen der Staat allein die Probleme nicht lösen kann und bei denen wir in intelligenter Weise eine Mitwirkung - keine Übernahme - der Wirtschaft und auch eine zielgerichtete Mitwirkung der Zivilgesellschaft brauchen. Wie gesagt: Sie sollen keine Lückenbüßer für den Staat sein; das muss vielmehr ein intelligenter Mix aus den drei Akteuren werden.
Genau das stelle ich mir auch für den Datenschutz vor. Wir müssen sagen: Der Datenschutz mit all den Elementen, die ich genannt habe, ist in Zukunft nicht etwas, das allein der Staat sicherstellen kann. Hinsichtlich der technologischen Entwicklung brauchen wir auch die Wirtschaft und die Zivilgesellschaft.
Zu dem Vorschlag der Grünen sage ich: Ich kann mich mit dem Gedanken anfreunden; aber ich habe die Entwicklung im 21. Jahrhundert deshalb so deutlich vorgetragen, um klarzumachen, dass wir, wenn es ein Grundrecht auf Datenschutz in der Verfassung geben soll, dabei aus meiner Sicht eben auch die technologische Entwicklung und die dazugehörigen rechtlichen Rahmenbedingungen im Auge haben müssen. Unter diesem Gesichtspunkt kann ich mich mit dem Vorschlag anfreunden.
Ein bekannter Journalist - der berühmte Heribert Prantl - hat vor einiger Zeit einmal geschrieben, dass der Datenschutz über 20 Jahre lang beschimpft und verächtlich gemacht wurde. Er sagt:
Vor allem aber ist die Aktivierung des Gesetzgebers notwendig: Datenschutz ist der Schutz der Menschen in der digitalen Welt. Er ist das zentrale Grundrecht, das Ur-Grundrecht der Informationsgesellschaft. Er schützt nicht abstrakte Daten, sondern konkrete Bürger.
Dem schließe ich mich vollinhaltlich an.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollege Jan Korte für die Fraktion Die Linke.
[Fortsetzung folgt noch heute,
Freitag, 29. Mai 2009,
durch fortlaufende Ergänzung dieser Datei]