Während sich die Staats- und Regierungschefs der EU gerade auf die zähen Verhandlungen auf dem Gipfel in Brüssel einstimmten, bekamen sie von deutschen Menschenrechtspolitikern eine eindringliche Bitte auf den Weg: Das vereinte Europa braucht eine Grundrechtecharta. Wenn man Europa für Menschen "lebbar, erfahrbar und greifbar machen will, dann gilt es, sich verbindlich auf die gemeinsamen Werte Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte zu berufen", meinte Christoph Strässer (SPD) in der Debatte am 21. Juni. "So lange die Charta der Grundrechte nicht in einem irgendwie gearteten Verfassungsvertrag steht, so lange die Grundrechte in Europa nicht kodifiziert sind, kommen sie gleichsam hinkend daher", sekundierte Alois Karl von der Union. Die Grundrechtecharta sei eine Basis, "um kooperierenden europäischen Insitutionen bei Eingriffen in die Rechte der Bürgerinnen und Bürger Grundlagen zu geben", meinte Volker Beck (Grüne). In der Diskussion konzentrierten sich die Politiker aber auf die Situation des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Denn der Bundestag macht sich Sorgen um "die bedeutendste Einrichtung für den Menschenrechtsschutz in Europa", wie Burkhardt Müller-Sönksen (FDP) meinte. Sie drohe in absehbarer Zeit in einer "Klageflut" zu kollabieren. Nach Angaben der FDP sind es 50.000 Klagen pro Jahr. Dabei seien 90.000 Verfahren noch anhängig.
Wie wichtig der Gerichtshof ist, versuchte Beck mit einem Witz deutlich zu machen: Frage man in Russland "Was ist der beste Gerichtshof in der Russischen Föderation?", bekomme man zur Antwort: "Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg". Das sei leider kein Witz, bedauerte die Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses, Herta Däubler-Gmelin (SPD).
Der Bundestag nahm im Anschluss an die Debatte auf Empfehlung des Menschenrechtsausschusses ( 16/5768 ) einen Koalitionsantrag ( 16/5734 ) an, in dem sich Union und SPD für eine größere finanzielle Unabhängigkeit des Gerichts, eine Verfahrensänderung zur Wahl von Richtern und Richterinnen und eine "angemessene" Beteiligung männlicher und weiblicher Kandidaten im Entscheidungsprozess einsetzen. Die weitgehend gleichlautenden Anträge von Grünen und FDP ( 16/5735 , 16/5738 ) wurden wiederum gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt.