Der späte Morgen ist angebrochen. Immer mehr Menschen treten ein. Beamte, Verwaltungsangestellte, Abgeordnete. Manche begrüßen sich ohne Worte mit einem Handschlag, einem Kopfnicken, setzen sich auf die schweren Lehnstühle aus Holz, schweigen. Eine Kerze brennt. Von der gegenüberliegenden Seite fällt Tageslicht wie aus weiter Ferne auf zwei Holzbildtafeln. Nägel aus Eisen in Sand geschlagen bilden zwei mannshohe Kreuze. Leid und Marter, Läuterung und Verheißung könnte darunter stehen. Sie gehören zum Tafel-Zyklus, mit dem der Künstler Günther Uecker dem Andachtsraum des Deutschen Bundestages eine spirituelle Atmosphäre gegeben hat. Ein Gegenpol zum Lärm und den Aufgeregtheiten der Politik. Das Harmonium ertönt. Die Andacht beginnt.
In einer der hinteren Reihen sitzt eine Frau in einem Frackkostüm und schaut mit wachen Augen auf das Geschehen, weist einem zu spät Gekommenen mit einer sicheren freundlichen Geste einen Platz zu. Die Saaldienerin Annette Kipp-Sandherr kümmert sich seit einem Jahr "hauptamtlich" um die Andacht. In dieser Zeit hat sie einen "festen Stamm" von Bundestagsabgeordneten aller Fraktionen aufgebaut, die die Predigt halten. An diesem Morgen steht der CDU-Bundestagsabgeordnete Johann-Heinrich Krummacher auf und tritt vor die Gemeinde. An anderen Tagen führen der frühere brandenburgische Minister für Bildung, Jugend und Sport, Steffen Reiche (SPD), oder sein Fraktionskollege Jörn Thießen durch die Zeremonie. "Seitdem Abgeordnete regelmäßig die Predigten abhalten, kommen immer mehr Leute", erzählt die 51-Jährige später zufrieden. Auch an diesem Morgen bleiben nur zwei Stühle leer.
Und welchen Raum hat die Politik im Andachtsraum des Reichstages? "Wir betreiben keine Parteipolitik", sagt Krummacher nach dem Gottesdienst. Aber natürlich gebe es politische Implikationen. Und so hatte auch er gerade von den Grenzen der Macht gesprochen, und vom Wissen, dass "der Respekt vor dieser Grenze auch unsere Menschlichkeit bewahrt". Dann ergänzt er nachdenklich: "Die, die hierher oder zum Ökumenischen Gebetsfrühstück in die Parlamentarische Gesellschaft gehen, gehen auch im politischen Alltag anders miteinander um."
In der Politik gibt es immer wieder Themen, die deutlich machen, dass es Fragen und Entscheidungen jenseits von Parteigrenzen gibt, die vor allem das Menschenbild, den Glauben betreffen. In solchen Fällen heben die Fraktionsvorsitzenden oft den Fraktionszwang auf. Letztlich ist jeder Bundestagsabgeordnete qua Verfassung frei und nur einer Instanz unterworfen: seinem Gewissen. Bei der tiefgründigen Debatte zur Patientenverfügung Ende März war das Dilemma der Entscheidungsbildung quer durch die Fraktionen so groß, dass Bundestagspräsident Norbert Lammert noch während der Plenardebatte anmerkte, die Einwürfe hätten gezeigt, dass es "eine rundum überzeugende Lösung nicht gibt".
Und wie gehen die Politiker damit um? "Immer wieder gibt es Abgeordnete, die gerade in solchen Zeiten allein in den Andachtsraum kommen und Ruhe und Kraft suchen", erzählt Annette Kipp-Sandherr, während sie das Kreuz vom steinernen Altar wegräumt. Der Raum soll für alle Konfessionen offen sein und ist für Muslime östlich gen Mekka ausgerichtet. Für die Andachten selbst teilen sich die evangelische und die katholische Kirche jeweils für ein Jahr abwechselnd den Dienst. Findet kein Abgeordneter Zeit, die Morgenfeier zu halten, übernimmt das ein kirchlicher Vertreter. Derzeit sind die Protestanten an der Reihe. Die Kirchenvertreter bringen an diesem Morgen eine Altarbibel als Geschenk mit, die Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Die Widmung trägt die Unterschrift der Beauftragten der evangelischen Kirche bei der Bundesregierung, des Prälaten Stephan Reimers, und der katholischen Kirche, des Prälaten Karl Jüsten. Nachdem einige die reich illustrierte Bibel betrachtet haben, drängt schon die Zeit. Die Bundeskanzlerin wird eine Regierungserklärung abgeben. Annette Kipp-Sandherr und Johann-Heinrich Krummacher müssen ins Plenum. Sie als Saaldienerin, er als Abgeordneter.