WOLFGANG THIERSE
Der Vize-Präsident des Bundestages kritisiert den "allgemeinen Verdacht" im Gutachten über die Stasi-Behörde.
Wie kann man erklären, dass in der Behörde zur Aufarbeitung des DDR-Regimes (BStU), 56 ehemalige Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), zwei ehemalige Inoffizielle Mitarbeiter, vier Mitarbeiter des Wachregiments und "mindestens 400 so genannte DDR-Systemträger" beschäftigt sind?
Aus den Anfängen der Behörde, in denen der Aufbaustab des Bundesinnenministeriums (BMI) viele MfS-Beschäftigte einstellte. Darüber hinaus ist der Begriff "Systemträger" oder "systemnah" so unpräzise, so schwammig, dass eher ein allgemeiner Verdacht ausgesprochen wird und weniger ein eingrenzbares und lösbares Problem.
Was macht das Gutachten für Aussagen über diese so genannten Systemträger?
Keine vernünftige Aussage, aus der konkrete Konsequenzen zu ziehen wären. Sprechen wir also über die 56 ehemaligen Mitarbeiter des MfS, die Anfang der 1990er-Jahre, teilweise mit Unterstützung und über den Umweg des Innenministeriums, in die im Aufbau befindliche Stasi-Unterlagenbehörde gekommen sind.
Inwiefern Umweg?
Es ist damals ein Aufbaustab gebildet worden, der sich aus Entsandten des BMI zusammensetzte. Teilweise ist in dieser Zeit ehemaliges MfS-Wachpersonal übernommen worden, das das Innenministerium übernommen hatte, und diese Leute sind jetzt bei der BStU. Die Arbeitsverträge sind in den 1990er-Jahren mehrmals befristet worden und Ende der 90er-Jahre entfristet worden, so dass arbeitsrechtlich kaum noch Möglichkeiten bestehen, ihnen ihr Arbeitsverhältnis streitig zu machen.
Setzt man die im Gutachten behaupteten "mehr als 400 so genannten Systemträger" ins Verhältnis zu den insgesamt rund 2.000 Mitarbeitern in der BStU müsste man von einer von Systemträgern und ehemaligen MfS-Mitarbeitern durchwirkten Behörde sprechen?
Das ist eine Behauptung der Autoren, für die sie keine überzeugenden Beweise liefern. Ich bedauere, dass ein Gutachten in dieser Weise einen allgemeinen Verdacht ausspricht.
Was haben sie empfunden, als sie die Zahlen in dem Gutachten gelesen haben?
Das ist ja nicht wirklich überraschend. Schon Herr Gauck hat darauf hingewiesen, dass man bestimmte "Fachleute" braucht, um die Stasi-Erbschaft, die Aktenmassen zu bewältigen, zu entschlüsseln, das war uns bekannt. Die genauen Zahlen kannten wir nicht. Insofern es sich nur um Wachpersonal handelt, ist es nicht alarmierend. Prob-lematisch wird es insofern, als ehemalige MfS-Mitarbeiter andere und wichtigere Positionen innehatten. Da wird man genaue Einzelfallprüfungen vornehmen und überlegen müssen, ob und wie jetzt noch Umsetzungen sinnvoll und möglich sind.
Haben Sie Verständnis für das Argument, dass beim Aufbau der Stasi-Unterlagenbehörde ehemalige Mitglieder des Stasi-Systems gebraucht wurden, um das System verstehen zu können?
Jedenfalls sind eine gewisse Anzahl von MfS-Mitarbeitern bis hin zu Offizieren mit ausdrücklicher Billigung der Behördenleitung eingestellt worden. Auf Verlangen der Behördenleitung ist ihr Arbeitsverhältnis mehrfach verlängert und am Ende sogar entfristet worden. Mit dem Hinweis darauf, dass sie sich loyal verhalten, dass sie diszipliniert sind und dass ihre Kenntnisse gebraucht werden.
Kann man dem ersten Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen, Joachim Gauck, und seiner Nachfolgerin Marianne Birthler einen Vorwurf machen?
Ich halte nichts von leichtfertigen Vorwürfen. Das war eine Aufgabe, die einmalig in der Geschichte ist. Dass man am Anfang auf solches Personal zurückgegriffen hat - vielleicht mehr als man musste -, dafür kann man auch im Rückblick Verständnis haben.
Ergeben sich aus dem Gutachten weitere wichtige, bisher nicht bekannte Erkenntnisse?
Nein.
Kann derzeit sichergestellt werden, dass ehemalige MfS-Mitarbeiter nicht mit Opfern der Staatssicherheit in Kontakt kommen?
Sofern es einen problematischen und ambivalenten Einsatz von ehemaligen Stasileuten noch gibt, so ist im Einzelfall zu überprüfen, welche Vorgeschichte der betreffende Behördenmitarbeiter hat und welche Versetzungsmöglichkeiten jetzt rechtlich vorhanden sind.
Natürlich könnte man doch auch sagen, dass das Innenministerium der Birthler-Behörde insofern Amtshilfe leisten könnte, als es die 56 Mitarbeiter oder zumindest viele von diesen Mitarbeitern, die jetzt im Objektschutz tätig sind, übernimmt und in anderen nachgeordneten Einrichtungen einsetzt, die weniger sensibel sind. Und dafür andere, gänzlich unbelastete Mitarbeiter für die Behörde arbeiten.
Eine solche Art der Amtshilfe fände ich sehr sympathisch - zumal ja über eine "Amtshilfe" des BMI viele dieser Stasi-Mitarbeiter Anfang der 90er-Jahre zur Behörde gekommen sind.
Haben die ehemaligen Mitarbeiter der Staatssicherheit unbeaufsichtigt Zugang zu Akten gehabt und ist das immer noch der Fall?
Die Gutachter behaupten die Möglichkeit für frühere Jahre. Sie treten aber keinen Beweis dafür an, dass das auch heute noch so ist.
Sind Sie dafür, dass das Gutachten veröffentlich wird?
Insofern auch personenbezogene Informationen darin enthalten sind, wäre das problematisch. Aber Zusammenfassung und Vorschläge des Gutachtens sollten veröffentlicht werden. Die Gutachter machen allerdings auch Aussagen über die Zukunft der Behörde, über verfassungsrechtliche Probleme, über den Stil der Behörde. Das war von ihnen nicht verlangt.
Ich verstehe, dass die Behördenleiterin sich gegen bestimmte verallgemeinernde verdächtigende Äußerungen kräftig wehrt.
Die Gutachter empfehlen, die BStU an das Bundesarchiv anzugliedern. Wie sehen sie die Zukunft der Stasiunterlagenbehörde?
Ich glaube, dass die Behörde ihren Auftrag noch lange nicht erledigt hat: Aufarbeitung der Vergangenheit, Zugänglichmachen der Akten, politische Bildung - alles wichtige Aufgaben, die weitergeführt werden müssen. Deswegen schlägt die SPD vor, dass die Behörde zunächst bis zum Jahr 2019 weiter arbeitet. In dieser Zeit müssen wir miteinander diskutieren, wie die Aufgaben danach weiter geführt werden können.
Es geht nicht darum, die BStU jetzt binnen kürzester Frist abzuwickeln. Das kommunistische Erbe wird uns noch länger beschäftigen.
Würden Sie die aus dem Überwachungsapparat des DDR-Systems "Übriggebliebenen" als marginal bezeichnen?
Dass Menschen "übrig geblieben" sind, dass sie weiterleben und arbeiten wollen, auch dienjenigen, die das DDR-System unterstützt und getragen haben, das ist ihnen doch nicht vorzuwerfen.
Diese Behörde ist - und das ist ganz wichtig auch gegen das Gutachten zu sagen - eine große politisch-moralische Leistung. Man sollte nicht versuchen, ihr Ansehen herunterzuziehen. Es sind gewiss im Einzelnen personalpolitische Fehlentscheidungen getroffen, aber insgesamt ist eine außerordentliche Arbeit geleistet worden.
Hunderttausende haben ihre Biografien rekonstruieren können, haben Einsicht in Unrecht gewinnen können. Die Stasi-Vergangenheit war Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzung und Debatten. Vielleicht war es ein Fehler, dass die kommunistische Vergangenheit so sehr fokussiert worden ist auf das Skandalthema Stasi. Da mag es auch Einseitigkeiten in der öffentlichen Bearbeitung gegeben haben. Aber insgesamt ist dies eine wirklich große Leistung, die Deutschland durchaus positiv unterscheidet von machen anderen post-kommunistischen oder post-diktatorischen Ländern.