TIBET
Im indischen Dharamsala haben 600 Delegierte über die Zukunft ihrer Bewegung beraten
Inzwischen spielen wieder Mönche in ihren orangeroten Kutten Fußball oder sitzen auf den Steintreppen und essen Tsampa, eine tibetische Speise aus gerösteter Gerste und Butter. Noch vor einer Woche hing ein Hauch von Schwermut über dem tibetischen Kinderdorf in Dharamsala. Denn hier in dem Bergstädtchen im Norden Indiens berieten rund 600 Delegierte sechs Tage lang über die Zukunft der Tibet-Bewegung. Dharamsala ist der Sitz der tibetischen Exilregierung und des Dalai Lama. Das religiöse Oberhaupt der Tibeter hatte die Konklave einberufen, weil er, wie er sagte, nicht mehr weiter weiß. Er selbst nahm allerdings nicht teil. Für die Regierung in Peking war die Versammlung der Exil-Tibeter Anlass, ihre Truppenpräsenz in Tibet zu verstärken.
Im vergangenen Monat hatte der Dalai Lama seine Anhänger schockiert: Er erklärte, seine Bemühungen seien gescheitert, einen Mittelweg mit China zu finden, in dem er Autonomie für Tibet und nicht Unabhängigkeit gefordert habe. "Ich für meinen Teil habe aufgegeben", hatte er gesagt.
Jahrzehntelang hatte der Friedensnobelpreisträger die Tibet-Bewegung angeführt. Nun wolle er die Entscheidung über den künftigen Weg in die Hände des Volkes legen, sagte er. Der 73-Jährige möchte die Verantwortung, die auf ihm lastet, abgeben. Doch seine Anhänger sind damit nicht einverstanden. Sie wollen ihren politischen und spirituellen Führer nicht einfach ziehen lassen, auch wenn es mitunter Kritik an seinem Weg gibt. "Der Dalai Lama sieht die Versammlung als eine Art Barometer der öffentlichen Meinung der Tibeter", sagt Chenga Tsering, ein Berufsberater für tibetische Jugendliche in Neu Delhi. Seit Jahren spricht sich etwa der tibetische Jugendkongress für eine härtere Gangart gegenüber China aus. Doch Tsering warnt davor, diese Strömung zu überschätzen: "Es gibt auch viele Jugendliche, die den Weg des Dalai Lama unterstützen." Kaum jemand geht davon aus, dass China in der nächsten Zeit seine unerbittliche Haltung in der Tibet-Frage revidieren wird. Die Olympischen Sommerspiele in Peking sind vorbei. Hässliche Bilder von Massenprotesten oder ein Boykott sind ausgeblieben. Der Aufstand in Tibet, bei dem 200 Menschen ums Leben gekommen sind, ist eingedämmt. Der Westen hat derzeit kein Druckmittel gegen die Volksrepublik. In der Finanzkrise braucht er China als devisenstarken Partner.
Und doch ist die augenblickliche Situation auch nicht viel hoffnungsloser als vor 58 Jahren, als Tenzin Gyatso, den die Welt als 14. Dalai Lama kennt, als 15-jähriger Bauernsohn offiziell als Führer Tibets inthronisiert wurde. Sein Versuch, die Tibeter vor den chinesischen Besatzern zu schützen, scheiterte. 1959 musste er mit anderen Tibetern über den Himalaya nach Indien fliehen, nachdem die chinesische Armee den Aufstand in Tibet blutig niedergeschlagen hatte. Seine Heimat hat der Dalai Lama seither nie wieder gesehen. Heute vermuten viele, der sanftmütige Mönch wolle die Tibeter auf die Zeit nach ihm vorbereiten. "Ich glaube, er würde gerne gehen, wenn er könnte, aber die Leute werden ihn nicht lassen", sagt Youdon Aukatsang von der tibetischen Exilregierung. "Wir haben keinen anderen visionären Führer als ihn. Niemand kann das Vakuum füllen."
Das tibetische Parlament will die Empfehlungen, die die Delegierten von Dharamsala ausarbeiten wollen, spätestens auf seiner nächsten Sitzung im März besprechen. Es geht um wichtige Entscheidungen: Autonomie oder Unabhängigkeit - welchen Kurs werden die Tibeter gegenüber Peking künftig einschlagen?