GRÜNE
Der neue Parteichef Cem Özdemir über Utopien, gutes Krisenmanagement und den Willen zur Macht
Herr Özdemir, sind Sie in den vergangenen Tagen eigentlich mal einen Moment zur Ruhe gekommen?
Viel Zeit war nicht. Es ging hier gleich richtig los in der Partei. Außerdem rufen ständig Journalisten an, viele aus dem Ausland, und wollen jetzt und sofort ein Gespräch. Damit habe ich nicht gerechnet. Es hat ein bisschen die Dimension von 1994, als ich in den Bundestag gewählt worden bin, als erster Abgeordneter türkischer Herkunft. Das war damals etwas Neues.
Bundeskanzler sind Sie ja aber noch nicht.
Ich habe die Journalisten schon vor meiner Wahl immer darauf hingewiesen, dass ich mich nicht um das Bundeskanzleramt bewerbe, sondern um den Parteivorsitz der Grünen.
Auf dem Grünen-Parteitag in Erfurt trugen Parteifreunde den Schriftzug "Yes, we Cem!" auf ihren T-Shirts. Das klingt verdächtig nach Obamas "Change". Welchen Wandel bringen Sie als Bundesvorsitzender der Grünen in die deutsche Politik?
Die Grünen stehen schon jetzt für den Wandel. Sie sind wahrscheinlich die Partei im deutschen Parteienspektrum, die dem, was die Wähler der Demokraten sich mit der Wahl von Obama gewünscht haben, am nächsten kommen. Denken Sie an die Themen Klima, Gerechtigkeit, Menschenrechte. Ich habe in Erfurt einen weiteren Akzent gesetzt, an dem ich künftig gemessen werden möchte: Mir geht es um die Durchlässigkeit der Gesellschaft, um Aufstiegschancen. Jeder muss unabhängig von seiner Herkunft die echte Chance bekommen, alle seine Fähigkeiten und Möglichkeiten zu entwickeln. Mit diesem Thema will ich die Partei künftig stärker in Verbindung bringen.
Sie kritisieren insbesondere das deutsche Bildungssystem. Welche Alternativen bieten Sie an?
Unsere Forderungen sind klar: Kinder müssen viel früher - möglichst unter drei Jahren - und länger, nämlich in Ganztagsschulen, betreut werden können. Außerdem muss die Qualität der Bildung verbessert werden, so dass es mehr individuelle Förderung gibt und auch die Mittelschicht nicht aus dem staatlichen Bildungssystem abwandert. In Hamburg haben wir bereits gute Ergebnisse vorzuweisen.
Da ist Ihre Bildungssenatorin Christa Goetsch aktiv...
...ja, und sie hat die Primarschule nicht nur auf weitere zwei Jahre ausgedehnt, sondern auch dafür gesorgt, dass die Kinder von der ersten bis zur sechsten Klasse zusammen sind und in kleineren Klassen lernen. In diesen Stadtteilschulen wird darauf geachtet, dass sowohl die schlechteren Schüler als auch die, die besonders gut sind, entsprechend gefördert werden. Das ist der richtige Weg: die spätere Trennung von Kindern und eine starke individuelle Förderung.
Derzeit wirft besonders die globale Finanzkrise Fragen auf. Welche Antworten gibt Ihre "Öko-Partei" auf die ökonomische Misere?
Tatsache ist: Die Finanz- und die Klimakrise können wir nicht voneinander trennen. Wir müssen jetzt insgesamt umsteuern und Produkte herstellen, die auf den Märkten auch nachgefragt werden. Das müssen Produkte sein, die nachhaltig sind, die weniger Energie verbrauchen. Nur dann werden wir auf Dauer unsere Arbeitsplätze sichern. Es geht um die konsequente Ökologisierung der Wirtschaft, um die Umsetzung des "Grünen New Deal", den wir in Erfurt beschlossen haben. Dazu kann ich auch mit Blick auf die USA nur dringend raten.
Was erwarten Sie von Barack Obama?
Die amerikanische Wirtschaft wird sich mit Obama massiv verändern. Wenn er die Programme, von denen er heute spricht, erst einmal umsetzt, dann können wir so schnell gar nicht mit den Ohren wackeln, wie sich dort eine riesige Volkswirtschaft ökologisch neu ausrichtet. Insofern haben wir mit Obama einen Partner, aber natürlich auch einen Konkurrenten bekommen.
Der "Grüne New Deal" ist angelehnt an den New Deal in den USA in den 1930er Jahren. Ist das nicht etwas hoch gegriffen?
Man muss bei so großen Krisen auch in großen Dimensionen denken. Mit nationalstaatlichen Regelungen kann man heute keine globalen Probleme lösen. Wir brauchen dringend europäische Kompetenzen in der Außen- und Sicherheitspolitik und eine europäische Bankenaufsicht. Beim Umbau der globalen Institutionen IWF, Weltbank und dem UN-Sicherheitsrat muss Europa ebenfalls mit einer Stimme sprechen. Sonst werden wir uns letzten Endes wieder von anderen die Bedingungen diktieren lassen.
Sie kritisieren die Regierung für ihr Krisenmanagement. Was macht sie falsch?
Es reicht nicht, kurzfristige Konjunkturprogramme aufzulegen. Die geplante Aussetzung der Kfz-Steuer etwa macht keinen Sinn, weil sie nur zu Mitnahmeeffekten führt. Man muss die Kfz-Steuer in eine CO2-basierte Steuer umwandeln, um einen Kaufanreiz für Kunden zu schaffen, die die Umwelt schützen und dabei Geld sparen wollen. Gleichzeitig wird so ein Signal an die Automobilindustrie gesendet und ihr aufgezeigt, wo künftig die Absatzmärkte für ihre Autos liegen. Die Hersteller werden dann nicht mehr am Markt vorbei produzieren, sondern Fahrzeuge herstellen, die weniger CO2 ausstoßen und sparsamer sind.
Über einige der Erfurter Beschlüsse schütteln selbst manche Ihrer Parteimitglieder den Kopf: So soll der Strom in Deutschland bereits bis 2030 zu 100 Prozent aus Erneuerbaren Energien erzeugt werden. Derzeit sind es 15 Prozent. Mit Verlaub, ist das nicht utopisch?
Wir haben 2030 als Vision genannt und beschlossen, dass es bis spätestens 2050 100 Prozent Erneuerbare Energien sein müssen. Ich gehöre auch zu denen, die das Ziel 2030 für sehr ambitioniert halten. Aber das wir eine Richtungsvorgabe haben, ist erst mal zu begrüßen. Jetzt geht es darum, die notwendigen Maßnahmen schnell zu ergreifen. Ich möchte hinzufügen, dass uns noch vor wenigen Jahren die vermeintlichen Experten gesagt haben, dass man in Deutschland einen maximalen Anteil von fünf Prozent an Erneuerbaren Energien erreichen könnte. Heute sind wir bei der dreifachen Menge.
Die CDU hält Ihre Beschlüsse für realitätsfern. In einem Interview haben Sie vergangene Woche dennoch gesagt, im Einzelfall könnten Inhalte der Grünen "besser mit Schwarz als mit Rot" umgesetzt werden...
Das bezog sich auf die Länderebene und das Beispiel Hamburg, wo wir eine Koalition mit der CDU erfolgreich praktizieren. Die CDU etwa in Hessen ist eine ganz andere als die CDU in Hamburg. Dass Roland Koch die mit der SPD ausgehandelte Koalitionsvereinbarung unterschreiben würde, mitsamt den Regelungen zum Flughafen, zur Kinderbetreuung und Ökologie, kann ich mir nicht vorstellen. Wir haben in diesem Jahr einen Kurs der Eigenständigkeit beschlossen. Wir gehen von unseren Inhalten aus und schauen genau, mit wem wir unsere Ziele möglichst maximal durchsetzen können.
Mit welchem Partner wollen Sie 2009 die Macht auf Bundesebene zurückerobern?
Die SPD steht uns natürlich näher in Fragen der Außenpolitik, der Umweltpolitik, der Bildungs- und Sozialpolitik. Wir wissen aber auch, was wir mit der SPD für Probleme haben - siehe Hessen. Da hat sie ihren Laden nicht im Griff und die Chance, Koch abzulösen, gründlich vermasselt. Persönlich hatte ich auch schon das zweifelhafte Vergnügen mit einem Innenminister Otto Schily auf Bundesebene zu verhandeln.
Für Rot-Grün würde es nach aktuellen Umfragen auch nicht reichen.
Wir werden auf einen dritten Partner angewiesen sein. Und da wird es spannend sein zu sehen, wie die FDP sich verhält. Will sie eine dauerhafte sklavische Gefangenschaft bei der Union oder ist sie bereit, sich weiter zu entwickeln und sich auf einen Reformprozess einzulassen? Die FDP muss entscheiden, ob sie bereit ist, einen Politikwechsel einzuleiten.
Ihr Vorgänger Reinhard Bütikofer hat in seiner Abschiedsrede in Erfurt gesagt: "Diejenigen, die auf Grün hoffen, sind viel mehr, als uns je gewählt haben." Wird 2009 das Jahr der Grünen?
Es wird mit Sicherheit ein Jahr der grünen Themen. Die Aufgabe ist, daraus auch mehr Wasser auf unsere Mühlen zu lenken. Wir müssen klar machen, dass wir die Alternative zur Großen Koalition sind. Wir wollen jetzt harte Opposition machen, aber wir haben den Anspruch, das auch in Regierungshandeln umzusetzen.
Das Interview führte Johanna Metz.