Seniorenbetreuer
Im rheinland-pfälzischen Pirmasens kümmern sich ehemalige Arbeitslose um alte Menschen
Es ist elf Uhr", schallt die knarzende Stimme einer sprechenden Uhr aus der Manteltasche von Anneliese Herzog. Die 77-Jährige geht gerade im rheinland-pfälzischen Pirmasens über die Straße. Am Revers ihres Mantels trägt sie einen gelben Anstecker mit drei schwarzen Punkten. Anneliese Herzog kann kaum noch sehen, eine Augenkrankheit hat sie fast vollständig blind gemacht. Darum hakt sich die alte Dame unter und drückt sich fest an ihre junge Begleiterin, Jenny Just. Die ehemalige Hartz-IV-Empfängerin Just gibt Anneliese Herzog jenes Stück Sicherheit, über das die Rentnerin selber nicht mehr verfügt: Gemeinsam bestreiten sie nun die Tücken des Alltags. An diesem kalten Novembermorgen geht es zum Schuhmacher.
Jenny Just ist Seniorenbegleiterin der Stadt Pirmasens. Der Gang mit Anneliese Herzog ins Schuhgeschäft ist ein Teil ihres neuen Berufs. Zusammen mit acht weiteren ehemaligen Arbeitslosen kümmert sich Just um Senioren in der pfälzischen Kleinstadt. Pflege gehört aber nicht zu ihren Aufgaben. Es geht um die Begleitung, das wird immer wieder betont: "Unterstützende Dienstleistung für die ältere Generation", steht in der Projektbeschreibung des Kommunal-Kombi-Projektes. Mit diesen Projekten fördert der Bund in über 80 Städten und Regionen Deutschlands mit einer Arbeitslosigkeit von mehr als 15 Prozent die Einführung eines kommunalen Kombilohns. In Pirmasens wird über dieses Modell in ähnlicher Form also bereits umgesetzt, was der Gesetzgeber in der Gesundheitsreform festgelegt hat: Betreuung (nicht Pflege) von Demenzkranken in Pflegeheimen durch Langzeitarbeitslose. Ähnlich ist es in Pirmasens schon geregelt, auch wenn die 60 Senioren, die das Angebot bisher nutzen, nicht dement sind und die neuen Stellen gemeinsam von Kommune, Land und Bund finanziert werden.
Anneliese Herzog profitiert davon. "Es hilft mir sehr, dass Frau Just kommt", erzählt die Rentnerin. Nachdem vor 18 Monaten ihr Mann gestorben war, drohte ihr die Vereinsamung. Herzog, die früher im Betrieb ihres Mannes die Buchhaltung machte, ist seit fast zwei Jahren nicht mehr zum Arzt gegangen, zog sich in ihr Einfamilienhaus zurück. Auch die ehemalige Arbeitslose Jenny Just lässt mit der neuen Aufgabe ein Stück Vergangenheit hinter sich: Begonnen hatte sie eine Ausbildung zur Altenpflegerin, dann arbeitete sie in einem Call-Center und kümmerte sich um ihre drei Kinder - in den vergangenen Jahren ohne Partner, die 34-Jährige ist Witwe. "Meine Motivation eine neue Arbeit zu finden, war sehr hoch. Ich war regelrecht ungeduldig", erinnert sich Just an ihre Zeit als Arbeitslose.
Für Just ist das Projekt eine Zukunftsperspektive. Den neuen Regeln der Gesundheitsreform steht sie deshalb positiv gegenüber. So sehen es auch die Arbeitsagenturen, die potenzielle Bewerber an Altenheime vermitteln sollen, damit sie dort für die Betreuung von Demenzkranken eingesetzt werden können. "Es ist für die Menschen eine riesige Chance", glaubt Albert Fuchs, Sprecher der Regionaldirektion Rheinland-Pfalz/Saarland. Nur: Genutzt werden kann sie noch nicht. In Rheinland-Pfalz beispielsweise wurden 728 Einrichtungen angesprochen. Der Bedarf, so Fuchs, ist da, nur die Finanzierung noch nicht geregelt. Laut Gesundheitsreform müssen die Pflegekassen für 45 Demenzkranke eine Betreuungsstelle bewilligen. Wie genau die Bezahlung aussehen soll, wird aber noch verhandelt. Theoretisch könnten schon seit 1. September ehemalige Langzeitarbeitslose Senioren in Pflegeheimen betreuen, praktisch ist dies aber eine Rarität. "Zum Teil müssen die Träger mit unterschiedlichen Kassen verhandeln", weiß Albert Fuchs.
Bürokratische Hürden, für die Margit Hanowski, Leiterin eines Altenheims in Bad Ems an der Lahn, kein Verständnis hat. "Es sind keine Aussagen zur konkreten Finanzierung gemacht worden", klagt sie genervt. Darum könne sie noch keine Leute einstellen. In der Diskussion sind derzeit Pauschalen für jede Betreuungsstelle oder Einzelabrechnung für jeden einzelnen Demenzkranken. Was aber passiert bei letzterem Modell, wenn ein Bewohner ins Krankenhaus muss oder stirbt? Bekommt die neue Arbeitskraft dann weniger Geld? "Das wäre für unsere Einrichtung eine etwas unglückliche Regelung", räumt Hanowski ein. Schließlich müsse besonders im Umgang mit Demenzkranken Kontinuität gewährleistet sein.
In Pirmasens läuft das Seniorenbegleiter-Projekt derweil reibungslos: Nach dem Gang zum Schuhmacher führt Jenny Just Anneliese Herzog durch ein großes Kaufhaus. Ein neuer Wecker muss gekauft werden, denn der alte ist vom Nachttisch gefallen. Just und Herzog stehen vor einem Regal, die Auswahl an Uhren scheint endlos. Jenny Just weiß, was nun zu tun ist: Sie drückt der Rentnerin zwei Wecker in die Hände und lässt sie entscheiden. "Der hier ist etwas größer, dafür aber auch billiger", erklärt sie der erblindeten Frau. Nach fünf Minuten Abwägen geht es zur Kasse. Herzog ist erleichtert, dass sie nun wieder pünktlich geweckt werden kann. "Ich helfe ihnen dann noch, die Zeit einzustellen", verspricht die Seniorenberaterin, bevor es weiter geht. "Durch Frau Just habe ich das Lachen wieder gelernt", schwärmt Anneliese Herzog, deren einzige Tochter im weit entfernten München lebt. "Ich finde es gut, dass die Stadt einen solchen Service kostenlos anbietet."
Bevor Jenny Just ihren neuen Job antreten konnte, musste sie eine dreiwöchige Schulung absolvieren. Eine Blitzausbildung, die in ähnlicher Form auch Langzeitarbeitslose machen müssen, die in Heimen eingesetzt werden. Für Bewerber, die nicht über eine einschlägige Qualifikation im Pflegeberuf verfügen, sind drei Module mit mindestens 100 Unterrichtsstunden sowie ein zweiwöchiges Betreuungspraktikum vorgesehen. Das Entscheidende sei aber die Motivation, betont Margit Hanowski, Chefin des Bad Emser Altenheims. "Der Wunsch, sich mit Demenzkranken auseinanderzusetzen muss einfach da sein."
Laut Arbeitsamt sei dies das wichtigste Kriterium, nach dem in Rheinland-Pfalz und im Saarland Bewerberpools zusammengesetzt wurden. 3.100 Leute stünden zur Verfügung, so Arbeitsagentursprecher Albert Fuchs: "Wir trauen ihnen diese Arbeit auch zu", erklärt er. Mit den Qualifizierungsmaßnahmen könnte schnell begonnen werden. "Das Geld steht zur Verfügung, wir brauchen nur noch das Signal der Arbeitgeber", sagt Fuchs. Wann dies kommt, ist zurzeit noch unklar. Pflegekassen und Träger der Einrichtungen sind sich nicht einig. "Es gibt derzeit noch Verhandlungen über die Höhe der Vergütung. Eine Reihe von Pflegeheimen fordert Preise, die weit über dem Arbeitsentgelt liegen, das einem Dementenbetreuer auf Grund seiner Qualifikation zu zahlen ist", so der AOK-Bundesverband, der sich für eine Pauschalvergütung zugunsten der aufwendigen Einzelabrechnung ausspricht. Da die Verhandlungen Ländersache sind, sei der Stand derzeit von Bundesland zu Bundesland verschieden, so die AOK. Es könne aber davon ausgegangen werden, dass bis Ende des Jahres ein dichtes Netz aus Dementenbetreuern geschaffen sei.
Im pfälzischen Pirmasens steht das Netz der Betreuer bereits. Reagiert wurde dort auf die Überalterung der Bevölkerung. 13.000 der rund 42.000 Einwohner sind über 70 Jahre. Damit ist Pirmasens die älteste Stadt in Rheinland-Pfalz. Hinzu kommt die hohe Arbeitslosigkeit in der strukturschwachen Region. "Die Arbeitslosen brauchen eine Aufgabe", sagt Bürgermeister Peter Scheidel. Die Erfahrungen hätten gezeigt, welch leistungsfähiges Potenzial dort schlummere. Darum hat Scheidel keine großen Bedenken beim Einsatz von ehemaligen Arbeitslosen in Pflegeheimen. "Das kann durchaus funktionieren", glaubt er. Allerdings müsse Pflege und Betreuung strikt getrennt sein, wie auch bei den ambulanten Seniorenbegleitern in Pirmasens.
Weil das so ist, hat sich Anneliese Herzog "Essen auf Rädern" bestellt und für alle anderen Dinge, die das Leben lebenswert machen, hat sie nun Jenny Just. Als die beiden auf den Bus warten, werden neue Pläne geschmiedet: Bald wollen sie gemeinsam ins Theater gehen.