Standortbestimmung
Die erste Sitzung im umgebauten Reichstagsgebäude
Fast acht Jahre hatte es nach der Entscheidung vom 20. Juni 1991 für Berlin als künftigen Sitz des Bundestages gedauert, doch nun war es soweit: Am 19. April 1999, einem Montag, eröffnete der damalige Parlamentspräsident Wolfgang Thierse (SPD) Punkt 12.00 Uhr die erste Sitzung des Bundestages im umgebauten Reichstagsgebäude. Naturgemäß prägte der damit vollzogene Umzug von Bonn nach Berlin die folgende erste Parlamentsdebatte unter der hohen Glaskuppel.
Es war vor allem das in der öffentlichen Diskussion immer wieder zu hörende Schlagwort von der - je nach Standpunkt befürchteten oder erhofften - "Berliner Republik", das viele Redner aufgriffen - und mehrheitlich zurückwiesen. Das galt für Thierse in seiner Eröffnungsansprache ebenso wie für Redebeiträge im Anschluss an die Regierungserklärung des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) zur "Vollendung der Einheit Deutschlands".
Der Vorwurf, das wiedervereinigte Deutschland vollziehe eine Abkehr von der friedfertigen "Bonner Republik", fand damals in den Augen mancher Kritiker auf dem Balkan Nahrung, wo die Nato seit dem 24. März im Kosovo-Krieg Luftangriffe gegen Serbien flog und die Bundeswehr dabei die ersten Kampfeinsätze ihrer Geschichte absolvierte.
Thierse griff dies auf, als er sich gegen Kritik wandte, "die Rückkehr von Parlament und Regierung nach Berlin sei die Rückkehr zu einer kriegsführenden deutschen Politik". Dass die Ostdeutschen in einer "friedlichen Revolution den Wandel von der Diktatur zur Demokratie geschafft haben" und Deutschland seine territoriale Gestalt im Einklang mit seinen Nachbarn gefunden habe, habe den Umzug nach Berlin erst ermöglicht, argumentierte Thierse. Deshalb symbolisiere der Wechsel an die Spree auch etwas "erfreulich Zivilisatorisches in der Deutschen Geschichte".
Auch Schröder wollte in dem Wegzug vom Rhein "keinen Bruch in der Kontinuität deutscher Nachkriegsgeschichte" sehen. Die "gelungene Bonner Demokratie" habe mit dazu beigetragen, "dass die ,Berliner Republik' im geeinten Deutschland möglich wurde", sagte er und stellte klar: "Selbstverständlich werden wir auch hier in Berlin die Bundesrepublik Deutschland sein und bleiben."
Ähnlich äußerte sich SPD-Fraktionschef Peter Struck, der zum Umzugsgepäck des Bundestages auch die in 50 Jahren erarbeiteten, "stabilen" Traditionen zählte: "Wir ziehen nicht fort von der Bonner in die Berliner Republik, wir bleiben Bundesrepublik Deutschland", unterstrich Struck.
"Mit der Wiedervereinigung erwachsen geworden" war die Bundesrepublik für Wolfgang Schäuble, seinerzeit Vorsitzender der Unions-Fraktion. "Wir werden nicht mehr bevormundet, sondern sind Partner und tragen deshalb Verantwortung", sagte der CDU-Politiker, der zugleich an die "demokratische, republikanische Tradition" des Reichstagsgebäudes erinnerte.
Für die FDP-Fraktion betonte ihr damaliger Vorsitzender Wolfgang Gerhardt, was man in einer Zwischenbilanz der deutschen Einheit debattiere, werde "nicht bestimmt durch die Bezeichnung ,Berliner Republik' oder ,Bonner Republik'." Entscheidend sei die "innere Verfassung der deutschen Nation".
Der Grünen-Politiker Werner Schulz warb dafür, dass "wir uns in aller Bonner Bescheidenheit unserer Berliner Verantwortung stellen". Der Umzug biete auch "die Chance zur Inventur", wobei für das "Grundinventar" die Formel "Bewahren und erneuern" gelte. Deshalb halte er "überhaupt nichts von dem Begriff der ,Berliner Republik'".
Gregor Gysi von der damaligen PDS-Fraktion fand den Streit um die Symbolik des Reichstagsgebäudes "eher müßig". Wichtig werde vielmehr sein, "welche Politik hier gemacht, ob hier Demokratie und Freiheit gelebt und für Frieden, Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit wirksam gestritten wird".