Parlamentarischer Rat
Michael F. Feldkamps lesenswerte Studie zur Entstehung des Grundgesetzes
Wer macht sich heute noch Gedanken darüber, wie das Grundgesetz entstanden ist? Fast niemand - außer Juristen und Historiker, die sich beruflich mit der komplexen Materie beschäftigen. Die Bundesbürger sind mit der Verfassung, die die 65 Mitglieder des Parlamentarischen Rates in Bonn ausgehandelt haben, zufrieden und 60 Jahre lang gut gefahren. Kaum jemand erinnert sich also, wie zäh die Vertreter von CDU, CSU, SPD, FDP, Deutscher Partei, Zentrum und KPD in Hunderten von Sitzungen und Tausenden von Stunden um einzelne Artikel gerungen haben. Kaum jemandem ist bewusst, dass die Verabschiedung des Grundgesetzes bis zuletzt auf Messers Schneide stand. Und dass alles auch ganz anders hätte kommen können, hätten die Alliierten hundertprozentig auf ihren Forderungen bestanden. Wie und wieso die Parteien, Ministerpräsidenten und Siegermächte zu einem erfolgreichen Kompromiss gefunden haben, beschreibt Michael F. Feldkamp protokollarisch exakt und quellennah.
Obwohl sein Buch erstmals zum 50. Jahrestag der Konstituierung des Parlamentarischen Rates erschienen ist, sind seine nun leicht überarbeiteten Ausführungen nach wie vor lesenswert und auf dem aktuellen Stand der Forschung. Das verwundert nicht, zählt der Wissenschaftliche Referent des Deutschen Bundestags doch seit langem zu den Bearbeitern der Akten und Protokolle dieses Gremiums. Den Quellenband zum Hauptausschuss bereitet er derzeit vor und man darf sicher sein, dass er ihn genauso ausgewogen kommentiert wie er die Entstehung, Struktur und Arbeitsweise des Parlamentarischen Rates beschrieben hat.
So lässt der Autor es weder an Fairness gegenüber den historischen Akteuren noch an Genauigkeit und Verständlichkeit bei der Erklärung juristischer und politischer Feinheiten fehlen. Weitgehend chronologisch tastet er sich vor. Von den ersten Konzepten einer Nachkriegsverfassung während des Zweiten Weltkriegs über die Vorbereitungen des Verfassungskonvents auf der Insel Herrenchiemsee hin zu den inhaltlichen Arbeiten der Fachausschüsse und den kontroversen Debatten im Hauptausschuss sowie den konfliktreichen Verhandlungen mit den alliierten Militärgouverneuren reicht sein Blick. Feldkamp steuert jede wichtige Station der fast ein halbes Jahr währenden Beratungen an und schafft einen ebenso klaren wie informativen Überblick über alle relevanten Ereignisse und Standpunkte.
Im Nachhinein mutet es erstaunlich an, wie selbstbewusst und selbstverständlich die "Mütter und Väter" des Grundgesetzes die in den Frankfurter Dokumenten und diversen Memoranden formulierten Forderungen der Alliierten mitunter bewusst ignoriert oder geschickt unterlaufen haben. Gerade in den bis zuletzt strittigen Fragen zur Machtfülle und Zusammensetzung des Bundesrates oder zur Frage der Finanzverwaltung in Bund und Ländern waren sie erstaunlich hartnäckig, auch wenn auf Drängen der Alliierten einige Punkte modifiziert werden mussten. Feldkamps Darstellung zeigt eindrücklich, dass die provisorische Verfassung im Großen und Ganzen nicht dem "Diktat der Alliierten" folgte, sondern der Parlamentarische Rat seinen durchaus eingeschränkten Handlungsspielraum größtenteils und geschickt zu nutzen wusste. Zu Recht betont er, dass "der Bundesrepublik Deutschland kein fremdes Staatensystem aufoktroyiert" wurde.
Dass die Mitglieder des Rates manche Verhandlung aus parteipolitischem Kalkül oder ideologischer Beharrlichkeit ausbremsten und das Projekt als Ganzes gefährdeten, verschweigt Feldkamp ebenso wenig wie die Tatsache, dass im März 1949 immerhin "40 Prozent der im Westen lebenden Deutschen mit Gleichgültigkeit der kommenden Verfassung entgegensahen" und inoffizielle Absprachen zwischen den Parteien keine Seltenheit waren. Da wurde schon einmal die Zustimmung der einen Partei zum Elternrecht vom Entgegenkommen der anderen bei der Wahlrechtsfrage abhängig gemacht. Letztlich aber verbargen sich hinter dem "Kuhhandel" notwendige Kompromisse die "zum politischen Alltag gehören", wie der stellvertretende Vorsitzende des Hauptausschusses, Heinrich von Brentano, rückblickend erklärte.
Kompromisse waren letztlich nötig, um ein Scheitern auf ganzer Linie zu verhindern. Eine zweite Chance zur relativ freien Selbstbestimmung ihrer Verfassung hätten die Alliierten den Deutschen nicht gegeben. Ihr Beharren auf eine einvernehmliche Lösung, aber auch der Druck, den die Berlin-Blockade und die Entwicklung in der sowjetischen Besatzungszone indirekt ausübte, beschleunigten die Verabschiedung und Genehmigung des Grundgesetzes. Dass die provisorische Verfassung nicht wie ursprünglich vorgesehen durch eine Volksabstimmung legitimiert wurde, mag man bedauern. Bedeutung und Erfolg erlangte der Gesetzestext abter trotzdem.
Bis zur Wiedervereinigung ist das Grundgesetz 35 Mal geändert worden und infolge des Einigungsvertrags sind einige Staatsziele neu formuliert, viele aber auch - wie jenes zu "mehr Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn" - verworfen worden. Diese verfassungsändernde Aktivität spricht nicht gegen die von Kritikern als unzureichend empfundene "Urfassung". Sie spricht vielmehr dafür, dass das Grundgesetz dynamisch weiterentwickelt wird und wie vor 60 Jahren um jeden neuen Passus hart aber fair gekämpft werden muss.
Der Parlamentarische Rat 1948-1949.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008; 266 S., 24,90 ¤