Das Grundgesetz
Trotz eines zunächst kraftlosen Starts entwickelte sich die Verfassung zu einer Erfolgsgeschichte
Es sind zwei ganz unterschiedliche Bücher, die Christian Bommarius und das Autorentrio Maximilian Steinbeis sowie Marion und Stephan Detjenzum 60. Geburtstag des Grundgesetzes vorgelegt haben. Bommarius, leitender Redakteur der "Berliner Zeitung" und gelernter Jurist, hat eine "Biographie" der Verfassung geschrieben, die sich fast wie ein Krimi liest. Dramaturgisch geschickt montiert er Episoden aus der Entstehungszeit mit Lebensläufen der beteiligten Personen und Geschichten aus dem Alltag zu einem anschaulichen Rückblick auf die unmittelbare Nachkriegszeit und die damals ausgetragenen Debatten.
"Eine Verfassung ist nur so stark, wie der Glaube der Bürger an die Grundsätze, die sie formuliert", stellt Bommarius fest. Kraftloser als das Grundgesetz, das von den Deutschen ganz teilnahmslos aufgenommen worden sei, habe selten eine demokratische Verfassung begonnen. Umso beeindruckender sei deshalb die Erfolgsgeschichte.
Der Autor erzählt die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes. Ausgehend von den Biographien seiner "Väter und Mütter" wird die deutsche Geistesgeschichte aufgeblättert. Manche Thesen etwa zur Wirtschaftsverfassung sind verblüffend aktuell. Fritz Naphtali ist nur einer der Namen, die in diesem Zusammenhang auffallen. Hinweise auf historische und politische Kontexte ermöglichen eine Einordnung. Bommarius gelingt es, Protagonisten wie Kurt Schumacher oder Konrad Adenauer, besonders aber zu Unrecht vergessene Vordenker der Demokratie als ganz lebendige Personen zu zeigen, mit ausgewogenem Blick für menschliche Unzulänglichkeit und intellektuelle Fähigkeiten. Gelegentlich meint man, das Stimmengewirr leidenschaftlicher Debatten zu hören oder auch das Flüstern heimlicher Absprachen.
Doch wie kam es dazu, dass die desinteressierten Deutschen sich dann doch von ihrer Verfassung überzeugen ließen? Bommarius zeichnet das auch als eine Geschichte der Widerständigkeit gegen den bloßen Volkswillen, etwa am Beispiel der Diskussion um die Wiedereinführung der Todesstrafe. Ohne je in Pathos zu verfallen, gelingt es ihm, über seine Protagonisten etwas von jenem Geist zu vermitteln, der zunächst wohl nur den Parlamentarischen Rat beflügelte.
Wer weiß schon noch, dass erst das Bundesverfassungsgericht mit einigen Grundsatzentscheidungen die demokratische Erdung der ganzen Bevölkerung ermöglichte? "Was das Grundgesetz zu sagen hat, das sagt es durch das Bundesverfassungsgericht. Sollte die Entscheidungssammlung in ferner Zukunft einem Historiker in die Hände fallen, der keine anderen Informationen über die Bundesrepublik Deutschland zur Verfügung hat, könnte er sich daraus ein fast getreues Bild von diesem Land und seinen Bewohnern machen." Die Verwässerung droht, folgt man der Philippika von Bommarius ganz am Ende seines Buchs, weil das Bundesverfassungsgericht begonnen hat, politisch opportune Entscheidungen zu treffen. Heftig attackiert er auch den Umstand, dass den Bürgern der ehemaligen DDR das Grundgesetz einfach übergestülpt wurde.
Im Vergleich mit Bommarius' auf Verständlichkeit ausgerichteten Text ist das Buch von Maximilian Steinbeis sowie Marion und Stephan Detjen schwere Kost. Eine umfassende Verfassungsgeschichte wollten die Autoren nicht schreiben, erklären sie im Vorwort zu ihrem fast 400 Seiten umfassenden Buch. Stephan Detjen, Chefredakteur des Deutschlandfunks, gab bereits den Katalog zur Ausstellung zum 50. Jahrestag des Grundgesetzes heraus. Vielleicht erklärt sich daraus eine gewisse Bruchstückhaftigkeit. Trotz einer immensen Fülle an Details und reichlicher Untergliederung fehlt dem Band der rote Faden. Auch ist für den Leser schwer zu unterscheiden, was von dem Vorgetragenen wissenschaftlich belegt und was Autorenmeinung ist. Die Fußnoten belegen vorwiegend die Fundorte direkter Zitate.
Eingangs beschäftigen sich die Autoren mit der "Deutschen Frage". Sie vertreten die These, "die Deutschen" seien immer vom Irredentismus geprägt gewesen als einer "unbefriedigten Sehnsucht". Das "die Deutschen" ein Konstrukt sind, wird zwar konzediert, aber nicht reflektiert. Ob überhaupt "Irredentismus" das richtige Stichwort für das Interesse an der Herstellung politischer Einheit ist, erscheint bei näherer Betrachtung nicht zwingend.
Auch nicht unproblematisch ist, dass die Autoren den Einstieg in die Materie über einen Begriff wählen, den sie nicht einmal erläutern. Sie heben damit eine Fiktion des Grundgesetzes in den Fokus, die in den Jahren, in denen sich das Grundgesetz zum identitätsstiftenden Merkmal der bundesdeutschen Demokratie ausbildete, eine eher untergeordnete Rolle spielte - Deutschland in den Grenzen von 1937. Und dass der Irredentismus mit der Wiedervereinigung verschwunden sein soll, bleibt genauso eine Behauptung wie sein prägendes Vorhandensein. Etwas widersprüchlich wirkt, dass die Autoren später zum Thema Bürgerverfassung selbst anmerken, dass den Deutschen ihre Währung wichtiger sei als ihre Verfassung. Belegen lasse sich das sowohl für die Einführung der D-Mark als auch durch die Sorge nach ihrer Abschaffung.
Sehr kritisch beleuchten die Autoren die Karrieren von Juristen und Beamten, die den Öffentlichen Dienst der jungen Bundesrepublik prägten. "Nur wenige Richter und Staatsanwälte, die in den Jahren des Nationalsozialismus aus ihren Ämtern gedrängt worden waren, konnten nach Kriegsende ihre Karrieren fortsetzen. Umso kontinuierlicher verliefen die Laufbahnen jener, die dem NS-Regime in der Richterrobe gedient hatten."
Mit Akribie werden bahnbrechende Urteile des Bundesverfassungsgerichts dargelegt. So wird mit zahlreichen Einzelheiten die Vorgeschichte des "Lüth-Urteils" geschildert, über Urteilsbegründungen der einzelnen Instanzen bis hin zur Erwähnung des Honorars und des Doktorvaters des Abgeordneten-Mitarbeiters, der für Erich Lüth die Beschwerdeschrift verfasste. Doch gerade im direkten Vergleich der beiden Bücher, der an mehreren Stellen möglich ist, vermittelt Bommarius mit einer präziseren Herausarbeitung des Wesentlichen Erkenntnisse, die beim Leser haften bleiben. Der Detailreichtum des Werks von Steinbeis verstellt zuweilen den Blick auf den Kern.
Steinbeis und Co. halten sich eng an juristische Argumentationen. Manche Passagen lesen sich wie Exzerpte aus Urteilsbegründungen. Das führt leider gelegentlich zu Verständnisproblemen und manchmal sogar zur Frage, ob man als Leser schwer von Begriff ist oder die Autoren etwas nicht zu Ende gedacht haben. Beispiel: Die Erklärung der "mittelbaren Drittwirkung" legt nahe, dass es unteren Gerichten verboten sei, die Verfassung zu interpretieren. Ist der Punkt nicht, dass sie Normen im Sinne der herrschenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auszulegen haben und dass ihre Entscheidungen höchstrichterlich überprüfbar sind?
Bommarius fasst griffig zusammen, mit dem Lüth-Urteil seien die Grundrechte nochmals aufgewertet worden. Seit dieser Entscheidung würden "die Grundrechte nicht mehr nur als Abwehrrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat" betrachtet, "sondern als Wertesystem mit ,Ausstrahlungswirkung' in alle Bereiche des Rechts". Mit dem Urteil habe das Grundgesetz sein Gespräch mit den Bürgern erst wirklich begonnen.
Um im Bild zu bleiben: Bommarius gelingt das Gespräch mit dem Leser. Die Lektüre seines Buchs ist bestens für "Anfänger" geeignet. Der Band von Steinbeis, Detjen und Detjen kann Stärken an anderer Stelle ausspielen. Wer mit guten Vorkenntnissen ausgestattet ist, erhält hier zahlreiche wertvolle Anregungen für eine differenziertere Sicht mancher Ereignisse der jüngsten deutschen Geschichte aus Sicht der Verfassung. Als Einstieg in die wissenschaftliche Debatte ist der Band bestens geeignet.
Das Grundgesetz. Eine Biographie.
Rowohlt Berlin, Berlin 2009; 286 S., 19,90 ¤
Die Deutschen und das Grundgesetz.
Pantheon Verlag, München 2009; 395 S., 16,95 ¤