DEutschland
Eckart Conze interpretiert die Geschichte der Bundesrepublik als eine ständige Suche nach Sicherheit
Manche Buchtitel lassen den Leser im ersten Augenblick stutzen: Würde man hinter der Zeile "Die Suche nach Sicherheit" eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland vermuten? Ja, sagt der Marburger Zeithistoriker Eckart Conze und hat ein voluminöses Werk passend zum 60. Geburtstag der Republik vorgelegt. Ein Standardwerk, wie der Verlag vollmundig verkündet und sicherlich damit nicht allein den Umfang von gut 1.000 Seiten meint.
Conze rechtfertigt seinen Ansatz, indem er den Sicherheitsbegriff sehr weit fasst und an die anglo-amerikanische Idee der "securitization" anlehnt. Die Idee einer "Versicherheitlichung" von Politik, schreibt Conze in einer klugen Einleitung, unterliege dabei einem permanenten Wandel. Sicherheitsbegriffe und Sicherheitsverständnisse verändern sich mit ihren politischen und sozialen Kontexten. So habe die Bundesrepublik seit ihrer Gründung ganz unterschiedliche Sicherheitsdiskurse erlebt - von der Phase der äußeren Absicherung Deutschlands im Ost-West-Konflikt in der Adenauerzeit und der unmittelbaren Nachkriegsjahre, über den Glaube an die Sicherheit von Wachstum und Fortschritt in den 60er und frühen 70er Jahren, gefolgt von den Jahren wachsender Zukunftsangst durch Ölkrise, Tschernobyl und Nachrüstung in den 80ern bis zu den wachsenden Zweifeln über die Sicherheiten, die der Sozialstaat seinen Bürgern in Zeiten der Weltwirtschaftskrise zu Beginn des 21. Jahrhunderts bieten kann.
Die Geschichte von Sicherheitsvorstellungen, von Sicherheitsbewusstsein und Sicherheitswahrnehmung sei immer auch, so Conze, die Geschichte von Zukunftsvorstellungen, von Zukunftsbewusstsein und Zukunftserwartung. Das ist eine interessante Perspektive, die so in der zeitgeschichtlichen Historiografie zur Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik bisher bestenfalls nur am Rande Erwähnung gefunden hat. Auch wenn Conze nonchalant der Frage ausweicht, ob die "Suche nach Sicherheit" wirklich "die" leitende Handlungsidee in der Geschichte der Bundesrepublik war. Denn natürlich könnte man auch fragen: Was ist eigentlich mit der Suche nach Freiheit, Selbstbestimmung, Demokratie? Und ist nicht jede historische Herrschaftsform auch immer darauf bedacht gewesen, der Absicherung von Macht, Wohlstand und territorialer Integrität höchstes Augenmaß beizumessen?
Was bleibt, ist ein Ansatz, von dem der Autor selbst nicht zu Unrecht schreibt, er berge "reiches Erkenntnispotenzial". Doch dieses Versprechen löst Conze nur bedingt ein. Statt eine "Problemerzeugungsgeschichte" zu schreiben, die über das rein Zeitdiagnostische hinausgeht, verliert sich der Autor nämlich sehr schnell genau da, wo er eigentlich gar nicht hin will: in eine eher konventionelle Chronologie der bundesdeutschen Nachkriegsereignisse, in der bisweilen der rote "Sicherheits"-Faden eher mühsam zu erkennen ist. Dies gilt natürlich nicht für die vielen außenpolitischen Kapitel, in denen sich das sicherheitspolitische Leitmotiv geradezu aufdrängt. Ebenso wenig für die Zeit der verschärften innenpolitischen Auseinandersetzungen im Zeichen von Studentenrevolte, Terrorismus und Jugend-, Friedens- und Anti-AKW-Protest.
Aber überall da, wo Conze die Pfade der klassischen innen- und außenpolitischen Sicherheitspolitik verlässt, tut sich für den Leser ein Irrgarten bundesdeutscher Kleinteiligkeit auf. Nichts bleibt unberücksichtigt beim Anspruch, eine umfassende Geschichte westdeutscher Sinnsuche nach Sicherheit in den letzten 60 Jahren zu schreiben. Das reicht bis zur neuen deutschen Kunstszene der Jahrtausendwende, der Reichstagsverhüllung und der Hiphop-Bewegung. Statt mutig Schneisen in das chronologische Dickicht zu schlagen, Wegstrecken zu markieren und Wendepunkte hervorzuheben, verliert sich der Autor so auf vielen Abwegen und findet von ihnen bisweilen nur schwer wieder zurück auf den eingangs angekündigten Hauptpfad seiner Betrachtung.
Das ist schade, denn Eckart Conze vergibt hier die Chance, in einer Zeit, in der Wissen und Kenntnisse über das eigene Land verloren zu gehen drohen, ja, in der ein beträchtlicher Teil der bundesdeutschen Bevölkerung eine gänzlich andere Sozialisation hat, weil sie im Osten Deutschlands aufgewachsen ist, Orientierung zu stiften, Einordnungen vorzunehmen, längerfristige Entwicklungslinien und vor allem auch Fehlentwicklungen mit markanten Strichen nachzuzeichnen. Denn es stimmt ja alles, was er schreibt, aber auch jedem wachen zeitgenössischen Beobachter nicht verborgen bleibt: Die Aktualität der Sicherheitsfrage ist nicht zu übersehen. Es ist die Erosion von Sicherheit - genauer gesagt - von Sicherheiten, die den Diskurs unserer Tage kennzeichnet. Das gilt für die neue Weltunordnung seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes und dem 11. September 2001 genauso wie für die Fragen des Klimawandels, der Hochrisikotechnologien oder dem vermeintlichen Verlust von sozialen Sicherheiten. Andere Beobachter unserer Zeitläufe haben dies, wie der amerikanische Philosoph Richard Rorty, mit ähnlich klingenden Worten umschrieben, in dem sie von einem "Zeitalter der Unübersichtlichkeit" sprachen.
So manche Antworten, die Conze gibt, verlieren sich in der Vielfalt seines immensen Detailwissens. Weniger wäre hier Mehr gewesen. Dabei blitzt durchaus immer wieder die Fähigkeit des Autors auf, komplizierte Entwicklungsstränge zusammenzufassen und für den Leser zu einem Erkenntnisstrang zu verdichten. Etwa, wenn er über die Fehlentwicklungen des Föderalismus schreibt, eine Art "Geburtsfehler" der Bundesrepublik, die Deutschland-West zwar "Maß und Mitte" garantiert habe, aber eben auch ein entscheidendes Hemmnis für das darstellen, was sich später, in der Regierungszeit Helmut Kohls im Schlagwort des "Reformstaus" bündelte. Oder wenn er sehr zu Recht über die Wirtschaftskrise der 70er Jahre, die mit dem Zusammenbruch des Systems von Bretton Woods und einer Phase internationaler Währungsschwankungen begann, schreibt: "Heute erkennt man sehr viel klarer, dass damals der Nachkriegsboom endete, das ‚Goldene Zeitalter' der Nachkriegsprosperität, wie Eric Hobsbawm es genannt hat, und eine profunde sozioökonomische Strukturveränderung einsetzte. Das war das Ende der industriellen Moderne, die sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Europa und der USA entfaltet hatte." Und Conze verlängert den Gedankenstrang gleich weiter: "Für die internationale Politik, nicht nur die internationale Wirtschaftspolitik, sollte das von großer Bedeutung sein, weil der sozioökonomische Strukturwandel mit seinen beiden wichtigen Säulen der Entwicklung der Dienstleistungsgesellschaft und der dritten industriellen Revolution auch die Staaten des Ostblocks herausforderte, der letztlich an dieser Herausforderung scheiterte und zerbrach."
Doch solche klugen Resümees kommen viel zu selten vor oder aber sie werden en passant in der darstellerischen Fülle gefällt, um den Leser gleich anschließend wieder im Irrgarten der deutschen Nachkriegsgeschichte um die nächste Ecke zu führen. Wenn Conze sehr zu Recht darauf verweist, dass bereits Mitte der 70er Jahre heftig darüber debattiert wurde, ob die Krise des Sozialstaats und seiner Sicherungssysteme nun rein konjunkturell oder aber strukturell bedingt sei - eine Debatte, die uns heute immer noch sehr bekannt vorkommt - fehlt der große darstellerische Zirkelschluss in die Gegenwart.
"Neue Unsicherheiten" heißt das Schlusskapitel, in dem man doch eigentlich erfahren möchte, was es für ein größer gewordenes Gemeinwesen wie Deutschland denn nun bedeutet, wenn die Volksparteien erodieren, der Glaube an die soziale Marktwirtschaft schwindet, die Erosion der bundesdeutschen Konsensgesellschaft weiter fortschreitet, der globale Kapitalismus gleichzeitig an seine Grenzen stößt und das bundesdeutsche Erfolgsmodell des Exportweltmeisters angesichts der weltwirtschaftlichen Großwetterlage an seinen Grenzen angekommen ist. Ja, haben wir es heute mit einer Art "systemischen" Krise des politischen Systems der größer gewordenen Bundesrepublik zu tun? Aber einen solchen Ausblick, geschweige denn den Versuch einer einordnenden Antwort gestattet der Autor sich nicht. Das mag der Bescheidenheit des Zeithistorikers geschuldet sein, der eher zurück, als nach vorne blickt. Doch Sicherheiten vermittelt Conze so eben auch nicht.
Die Suche nach Sicherheit.
Siedler Verlag, München 2009, 1072 S., 39,95 ¤