60 JAHRE GRUNDGESETZ
Die Fraktionen sind sich einig in ihrem Lob. Nur die Akzente sind verschieden
Pünktlich zum 60. Geburtstag des Grundgesetzes sorgt sich Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) um den Jubilar: Bei der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken prangerte er jüngst die seines Erachtens vorhandene Neigung von großen Koalitionen an, bei schwierigen Problemen einfach zum Mittel der Verfassungsänderung zu greifen. Dies sei indiskutabel, befand Lammert. Und in einem Brief an seinen Parteifreund Andreas Schmidt, den Vorsitzenden des Rechtsausschusses, erklärte der Bundestagspräsident unlängst, die geplante Grundgesetzänderung, mit der unter anderem eine "Schuldenbremse" in das Grundgesetz eingeführt werden soll, habe ihn "in seinem Ehrgeiz und seinen Dimensionen erschreckt". Das Volumen der vorgeschlagenen Verfassungsergänzungen erscheine ihm "unmaßstäblich". Am 14. Mai nutzte der Bundestag das Verfassungsjubiläum . um das Grundgesetz insgesamt auf den Prüfstand zu stellen.
Der Parlamentarische Rat hatte am 8. Mai 1949 das Grundgesetz beschlossen und am 23. Mai festgestellt, dass mehr als zwei Drittel der beteiligten Länderparlamente das Werk mittlerweile angenommen hatten - nur aus Bayern war keine Zustimmung war keine Zustimmung gekommen. Damit trat das Grundgesetz in Kraft. Wie zufrieden die Deutschen mit dieser Verfassung mittlerweile parteiübergreifend sind, zeigte sich nicht zuletzt in der mehr als dreistündigen Geburtstagsdebatte unter der Reichstagskuppel: Lob gab es von allen Seiten.
Das Grundgesetz sei daran beteiligt gewesen, dass die Bundesrepublik Deutschland als eine "geglückte Demokratie" bezeichnet werden könne, sagte der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender Volker Kauder. Es sei zu einem "Dokument des Glücks" geworden, fand Peter Ramsauer, der CSU-Landesgruppenchef. Gregor Gysi, Vorsitzender der Linksfraktion, bescheinte dem Grundgesetz, es sei "zweifellos eine hervorragende Verfassung". Und Grünen-Fraktionschefin Renate Künast ergänzte, sie sei "stolz auf diese Verfassung".
Dabei war dieses überschwängliche Lob - darauf wies die SPD-Abgeordnete Herta Däubler-Gmelin hin - in den Anfangsjahren nach Inkraftreten des Grundgesetzes keineswegs selbstverständlich. "Beißende Kritik" habe es gegeben, nicht nur an den Teilnehmern des Parlamentarischen Rates, die als "Versammlung von Langeweilern" tituliert worden seien. Noch 1959 habe Adenauer das Grundgesetz verteidigen müssen. Erst in den 60er-Jahren habe die Wertschätzung des Grundgesetzes "signifikant" zugenommen.
Kauder wies darauf hin, dass das Grundgesetz viele "wie in Stein gemeißelte Sätze" enthalte - beispielsweise "Die Würde des Menschen ist unantastbar". Es habe so eine "erfolreiche Geschichte", weil es "puristisch" sei, fügte der CDU-Politiker hinzu und äußerte den Wunsch, dass man diesen Purismus des Grundgesetzes auch in Zukunft bewahren möge.
Der Vorsitzende der Unionsfraktion gab sich im Übrigen überzeugt, dass die soziale Marktwirtschaft, "die unserem Land zu Wohlstand" verholfen habe, die Bundesrepublik wieder aus der Wirtschaftkrise herausführen werden.
Einen anderen Akzent legte SPD-Chef Franz Müntefering: Es verwies auf den Artikel 14 des Grundgesetzes und auf den darin enthaltenen Satz, dass Eigentum verpflichte. Derjenige aber, der 25 Prozent Gewinn auf sein Eigenkapital forderde, während Hunderttausende in Deutschland um ihre Arbeitsplätze und um ihr Gespartes fürchteten, der "zerstöre das Vertrauen".
Das Grundgesetz sehe Eingriffe in das Eigentum vor, meinte der Vorsitzende der Linksfraktion, Oskar Lafontaine. Er beklagte, das Privateigentum in Deutschland sei ungleich verteilt. Im Finanzkapitalismus werde der größte Teil der Gewinne nicht mehr in moderne Produktionsanlage reinvestiert, sondern in "weltweiten Spielcasinos verzockt". Die Arbeitnehmer würden dadurch enteignet. Und das sei "schlicht grundgesetzwidrig".
Gegen Münteferings Einschätzung, das Grundgesetz sei den Bürgern der ehemaligen DDR "übergestülpt" worden, wandten sich Ramsauer und besonders der CDU-Abgeordnete Arnold Vaatz. Sie verrate eine "ungeheure Arroganz", ärgerte sich der sächsische Politiker und verwies darauf, dass die Menschen in Ostdeutschland sich frei entschieden hätten.
Kritik an Müntefering kam auch vom früheren FDP-Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Gerhardt: Das Grundgesetz sei niemandem übergestülpt worden, sondern es sei immer eine "ausgestreckte Hand" gewesen, argumentierte Gerhardt. Und 18 Millionen Ostdeutsche könnten stolz darauf sein, dass sie die Mauer vom Osten aus eingedrückt hätten, um diese Hand zu ergreifen, So Gerhardt weiter. Gysi entgegnete darauf, die Einheit sei "leider" durch den Beitritt Ostdeutschlands zum Grundgesetz erfolgt, nicht durch eine neue Verfassung und nicht durch Vereinigung.
Künast hob hervor, dass das Grundgesetz eine "lernende Verfassung" sei. Doch hinke es zum Beispiel der gesellschaftlichen Realität von heute in der Familienpolitik hinterher. Heute gebe es Eltern mit und ohne Trauschein, Patchwork-Familien und gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften mit Kindern, unterstrich die Grünen-Fraktionsvorsitzende. Die Realität sei anders als 1949. Deshalb müsse man das Kind zum Subjekt in der Verfassung machen und nicht bloß zum Objekt seiner Eltern. Mit Blick auf die Sicherheitsgesetze der vergangenen Jahre forderte Künast, "die Freiheit, wie sie 1949 im Grundgesetz festgeschrieben worden ist", zu verteidigen.
Um Freiheit ging es auch dem 29-jährigen FDP-Abgeordnete Florian Toncar: Für seine Generation habe es das "Erlebnis der existentielle Bedrohung ihrer Freiheit" nie gegeben, sagte der Baden-Württemberger. Freiheit und Demokratie erschienen ihr selbstverständlich. Der Gefahr der Gewöhnung an Freiheit müsse deshalb rechtzeitig begegnet werden, meinte der Liberale.
Die Vizepräsidentin des Bundestages, Katrin Göring-Eckardt nannte es "zynisch", die DDR im Rückblick zu einer "kleinen Idylle" zu machen. Die thüringische Grünen-Parlamentarien ergänzte: "Wir haben Demokratie lernen müssen und wissen, wie gefährdet sie immer wieder ist." Die Demokratie des Grundgesetzes.