Eine nur auf die Verhältnisse der DDR bezogene Gesamtschau auf Entwicklungen in der Neuen Musik in ihren Spannungsfeldern zwischen Politik und Gesellschaft fehlt jedoch bisher. Tatsächlich sind noch viele Fragen offen, ob und wie weit es Künstlern angesichts zunächst immer engmaschiger werdender Normierungen möglich war, freies Schöpfertum zu bewahren und welchen politischen Zwängen sie sich nicht entziehen konnten.
Schon seit einigen Jahren forscht eine Gruppe von Wissenschaftlern am Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena auf diesen Feldern, nicht zuletzt, um ein Stück deutscher Musikgeschichte, die durch die Teilung aus dem allgemeinen Blickfeld geraten war, nicht verloren gehen zu lassen. Als ein Teilergebnis wurden nunmehr die Beiträge eines Symposions aus dem Jahre 2001 vorgelegt. Leider lässt der Band häufig eine Tendenz zum Marginalen erkennen, die - für präzise Erkenntnisse in der Wissenschaft zwar unverzichtbar - kaum geeignet ist, in breitem Maße Adressaten anzusprechen. Eine derartig das Spezielle auf die Spitze treibende Form der Darstellung führt zur Selbstverkapselung im elfenbeinernen Turm. Das mag intern angehen. Bei Veröffentlichungen mit erhoffter Breitenwirkung schafft dies eher Verwirrung.
Schon die Einleitung, die in überzogener "Sprachverfeinerung" zum Wort "ersteres" den Begriff "zweiteres" hinzu erfindet, wirkt in ihrer Gestelztheit befremdlich. Wenn dann im ersten Beitrag von Michael Berg das Symposion "introduziert" wird, irritiert das sprachlich ebenso wie in sachlicher Hinsicht die tendenziöse Bemerkung über die Rede des Dirigenten Hans von Bülow im Jahre 1892 aus Anlass von Bismarcks Entlassung als Reichskanzler, die mit dem "Taumel der Ereignisse von 1871" an dieser Stelle als Auslöser nichts zu tun hat.
Der folgende Hinweis auf propagandistische Interpretationen von Beethovens Eroica durch das FDJ-Orchester in der DDR spiegelt persönliche, wissenschaftlich nicht belegte Eindrücke. Dabei geht unter, dass die oft hervorragenden Wiedergaben dieser in kürzester Zeit zusammengestellten Klangkörper objektiv die exzellente Musikausbildung in der DDR bewiesen. Wenn dann als idealtypisch ausgerechnet die Interpretation der Eroica durch den italienischen Dirigenten Victor de Sabata gelobt wird, dessen Rolle im Faschismus und im Nazireich noch der Aufarbeitung harrt, enthüllt das die Fragwürdigkeit solcher Ansätze. Unklar bleibt bei dem Autor auch, was er wohl mit einer "sogenannten Wende" meinen könnte.
Es folgen Beiträge, die als Einzelbetrachtungen für Spezialisten durchaus wertvoll sind, das angestrebte Ganze aber nicht im Auge haben, sondern streckenweise wie Geisterdiskussionen erscheinen. Andere Beiträge gehören nicht unmittelbar zum Thema ("Russland als Musiklandschaft der 90er-Jahre"). Selbst die interessante Schlussdiskussion mit Zelebritäten wie Mauricio Kagel und Friedrich Goldmann bringt wenig Erhellendes. Einzig der Beitrag von Frank Schneider über historische Zusammenhänge weist den Weg, den man wohl zwingend gehen muss, wenn man ans Ziel gelangen will.
So löblich im übrigen die beigefügten zwei CD's mit Beispielen zum Musikschaffen der DDR sind, so hätte man sich historische Einspielungen und nicht überwiegend Neuaufnahmen ebenso gewünscht wie sinnvolle Verweisungen auf die Stücke in den einzelnen Beiträgen. So steht das Ganze für sich isoliert. Das Fehlen eines Personen- und Sachregisters macht das Buch für wissenschaftliches Arbeiten fast unbrauchbar. Bedauerlicherweise werden auch die einzelnen Autoren nicht in Kurzbiografien vorgestellt.
Michael Berg, Albrecht von Massow, Nina Noeske (Hrsg.)
Zwischen Macht und Freiheit.
Neue Musik in der DDR.
Böhlau Verlag, Köln/Weimar 2004; 198 S., 29,90 Euro