Kopfschütteln - das war die Reaktion der meisten Menschen, wenn sie von den Plänen dieses sonderbaren Künstlerpaares namens Christo und Jeanne-Claude hörten, das es sich vor 24 Jahren in den Kopf gesetzt hatte, den Berliner Reichstag von oben bis unten mit Plastikbahnen zu verhüllen und wie ein Paket zu verschnüren, so das kein Türmchen des ehrwürdigen Gebäudes mehr hinausragt. Polypropylen statt staatstragende Pracht, und das alles für eine Million Mark!
Nachdem über die Jahre alle Bundestagspräsidenten das Kunstprojekt abgelehnt hatten, fanden der geborene Bulgare und seine Frau unter anderem in Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth eine Mitstreiterin. Und so kam es, dass die geplante Reichstagsverhüllung plötzlich über Monate durch Medien und parlamentarische Gremien geisterte. Skizzen und Modelle des verhüllten Reichstags wurden ungläubig herumgereicht, Leitartikler und Feuilletonisten zerbrachen sich den Kopf über Sinn und Unsinn der Aktion- für viele aber war es schlicht "Blödsinn", was die verrückten Künstler sich da ausgedacht hatten. Die wurden selbst etwas schief angesehen: Er, der Typ mit dem komischem Namen und der Woody Allen-Brille; sie, die Blasse mit dem grellrot getönten Haar und eben solchem Lippenstift; beide stets Hand in Hand - im Privaten wie in der Kunst eine Einheit. Und dann wollten sie auch noch alles allein finanzieren, ohne Hilfe von Sponsoren und Fördergeldern, so wie sie das immer machen bei ihren Projekten.
Als der Bundestag am 25. Februar 1994 mit 292 Ja-Stimmen zu 223 Nein-Stimmen entschied, dass die Verhüllung stattfinden könne, war das schon eine kleine Sensation. Die Gegner hatten sich mit ihren Appellen, dem geschichtsträchtigen Gebäude doch bitte den nötigen Respekt entgegenzubringen, nicht durchsetzen können.
Auf der Besuchertribüne, wo Christo und Jeanne-Claude saßen, müssen Ziegelsteine die Sitze herab gekullert sein. Nach fast drei Jahrzehnten zähen Ringens konnten sie mit den Vorbereitungen beginnen. Und die waren aufwendig: Schon im September 1994 begannen zehn deutsche Firmen die benötigten Materialien herzustellen. Stahlmontagearbeiter installierten 200 Tonnen schwere Stahlkonstruktionen an Dach, Türmen und Statuen, damit das Gewebe an diesen Stellen auch richtig fallen konnte. Dann erst vollendeten 90 Fassadenkletterer und 120 Monagearbeiter am 24. Juni 1995 das Werk.
Und was geschah in den folgenden zwei Wochen? Sechs Millionen Menschen liefen andächtig wie Pilger um das Gebäude, von dem plötzlich 100.000 Quadratmeter silbrig-glänzende Gewebebahnen einem Wasserfall gleich hinabfielen, verschnürt durch 15.600 Meter blaue Polypropylenseile mit über drei Zentimetern Dicke. Dort wo sonst schweres Gemäuer steil in den Himmel ragte, reflektierten nun Sonnenstrahlen auf dem schimmernden Gewebe das Licht und tauchten alles in sanftes Hellblau. Die Menschen tasteten an dem wundersamen Stoff, verharrten schweigend, den Blick nach oben gerichtet. Viele setzten sich auf den Rasen und blieben dort, stundenlang. Bald saßen überall Grüppchen zusammen; manche hatten Gitarren dabei und sangen bis weit in die Nacht, so, als säßen sie an einem riesigen Lagerfeuer.
Der verhüllte Reichstag wurde zum bundesweiten Happening. Nicht wenige wollten ein Stück Stoff als Souvenir mitnehmen. Bildbände und Zeichnungen des Künstlerpaares waren auf einmal gefragt wie Zigaretten auf einem Schwarzmarkt.
Die Künstler zeigten sich darüber hoch erfreut, aber wenig überrascht. Sie kannten das ja schon: Wann und wo immer sie ihre Verhüllungskunst realisieren wollten, stießen sie zunächst auf Unverständnis und Ablehnung, vergingen oft Jahrzehnte, bis die erste Stoffbahn ausgerollt werden konnte.
Schon 1958 hatten Christo und Jeanne-Claude das erste Projekt dieser Art in Paris durchgeführt, und seither so ziemlich alles verpackt, was Menschen sich sonst gerne ansehen: Bäume, Frauen, Inseln, aber auch die römische Stadtmauer und ein ganzes Museum in Chicago. Zuletzt sorgten sie im New Yorker Central Park mit über 7.000 safranfarbenen Toren, die sich entlang der Gehwege schlängelten, für Schlagzeilen und allerhand Diskussionen.
Da kann man sich schon ein bisschen wundern, dass selbst im experimentierfreudigen Big Apple die Stadtväter 25 Jahre gebraucht haben, bis sie sich zu einem "Yes" durchringen konnten. Dass die Aktion doch stattfand und sich als Erfolg erwies, bestätigt im Fall von Christo und Jeanne-Claude einmal mehr: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.