Russland
Michael Stürmers historisch-politische Analyse über Putins Reich
Der Publizist Michael Stürmer ist Wladimir Putin nicht böse. In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag im Jahr 2001 hatte der russische Präsident ein Zitat Stürmers eigenwillig interpretiert. Immerhin war Putin "höflich genug", den Urheber der Textpassage namentlich zu erwähnen. "Zwischen dem westlichen Europa und Russland liegen nur ein paar gedachte Linien", sagte Putin damals in Berlin. "Zwischen Europa und den USA erstreckt sich ein Ozean" - Michael Stürmer hatte mit diesem Gedanken für die weitere Vertiefung der transatlantischen Allianz werben wollen, während Putin auf die Anerkennung Russlands als europäisches Land drängte. Warum Europa seiner Heimat nicht mit mehr Offenheit begegnet, will Putin bis heute nicht verstehen.
Der habilitierte Historiker Stürmer hatte über die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts mehrere Bücher veröffentlicht, bevor er sich als Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik mit Politikberatung beschäftigte. 1998 wurde er Chef-Korrespondent der Tageszeitung "Die Welt". Seitdem kommentiert er das globale Geschehen. Zusammen mit anderen "Auserwählten" durfte er bei PR-Veranstaltungen des Kremls teilnehmen und Präsident Putin interviewen. Aus Dankbarkeit verzichteten Stürmer und die anderen Gäste auf Fragen zu Tschetschenien und zur Korruption. Denn die Antworten wären für den Präsidenten "verdrießlich" ausgefallen.
Obwohl Stürmer der russischen Sprache nicht mächtig ist, hat er ein Buch über Russland geschrieben, das besser und interessanter ist als viele Veröffentlichungen so genannter Russland-Experten. Auch wenn der Autor die aktuelle politische Entwicklung in Russland nur oberflächlich analysiert, verdient sein Buch viele Leser.
Der Putin-Versteher verzichtet auf Schwarzweißmalerei und versucht, die komplizierte historisch-politische Ausgangslage Russlands nach seinem epochalen Bruch mit dem Kommunismus zu erklären. Gerade dieser historische Blick auf das riesige, in elf Zeitzonen gegliederte Land in einer Umbruchsphase macht das Buch so wertvoll.
Gleichwohl geben die sehr vorsichtigen und mitunter eher vernebelnden denn erhellenden Formulierungen dem Leser nur selten klare Antworten in Bezug auf die politische Entwicklung in Russland. Wenn Stürmer den "Mangel an Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Machtstrukturen" und die fehlende politische Kultur beklagt, verliert er sich zu sehr im Ungefähren.
Immerhin verheimlicht Michael Stürmer nicht, dass in Russland die Korruption dominiert und die freie Meinungsäußerung unterdrückt wird. Zu Recht empfiehlt er deshalb dem Kreml, die Bedrohungen weniger im Ausland zu suchen: Denn niemand bedrohe Russlands Zukunft so sehr wie die innenpolitischen und wirtschaftlichen Probleme. Gleichzeitig empfiehlt er den USA und der Nato, "die Ängste einer Weltmacht mit zehntausend Nuklearwaffen" zu respektieren.
Um die Rolle und die Verantwortung Putins nicht allzu hart bewerten zu müssen, bezeichnet Stürmer ihn nicht als autoritären Herrscher, sondern schlicht als Zaren. Nach der Wahl Dmitrij Medwedjews zum russischen Präsidenten fällt ihm nur die Frage ein: Kann Russland mit zwei Zaren leben? Die Russen, so meint er, wollten zwar demokratische Reformen, lehnten aber die Härten der wirtschaftlichen Modernisierung ab. In diesem Umstand identifiziert er den Schlüssel für die Unterstützung und die Popularität der Politik von Präsident Putin. Die Einnahmen aus den Energievorkommen wurden nicht in den Aufbau einer lebensfähigen Industrie investiert, sondern in den Konsum gesteckt. Die Russen wollten, wie es Dostojewskis Großinquisitor dem auf die Erde zurückgekehrten Jesus prophezeit hatte, nicht Freiheit sondern Brot. Hier täuscht sich Stürmer: Die Russen haben lediglich eine Illusion von Freiheit erlebt, Putin gab ihnen nur Brot. Eine echte Wahl hatten sie nicht.
Russland. Das Land, das aus der Kälte kommt.
Murmann Verlag, Hamburg 2008; 371 S., 19,90 ¤