Auf seinem Schreibtisch stapeln sich Bücher, Aktenordner, Papier. "Ich bin wohl ein Arbeitstier", seufzt Hakki Keskin, der für Die Linke Mitglied im Bundestag ist. Neben seiner Tätigkeit im Verteidigungsausschuss und als EU-Erweiterungsbeauftragter seiner Fraktion sind die Integrations- und Migrationspolitik ein Herzensanliegen des in der Osttürkei aufgewachsenen Politikers. Seit Jahren bemüht sich der 66-Jährige für mehr demokratische Partizipationschancen für Einwanderer. Ein Wahlrecht bei Kommunalwahlwahlen und ein leichterer Zugang zur deutschen Staatsbürgerschaft seien zentrale Voraussetzungen für Integration: "Sonst bleiben die Leute vor der Tür."
Doch Keskin kann auch polarisieren: 2007 löste er eine Kontroverse aus, als er anzweifelte, dass die 1915 von der Türkei verübten Massentötungen an Armeniern, die auch der Bundestag öffentlich verurteilt hat, ein Genozid gewesen seien. Kritiker warfen Keskin damals vor, den Völkermord zu relativieren. Keskin verteidigte sich: Es habe Massentötungen gegeben, aber es seien damals auch Türken ums Leben gekommen. Eine geplante Vernichtung der armenischen Bevölkerung sei es nicht gewesen.
Der Wunsch, etwas politisch zu bewirken, wurde bei Keskin früh geweckt. Er war zwölf, als er beobachtete, wie unterwürfig sich die Bauern gegenüber einem Großgrundbesitzer verhielten: Sie drehten sich nicht um, sondern entfernten sich gebückt, rückwärts gehend. "Diese Großgrundbesitzer benahmen sich wie kleine Herrscher." Eine Situation, die Keskin zutiefst ungerecht erschien: "Mir war klar, dass ich daran etwas ändern will." Keskin ist bewusst, dass Bildung der Schlüssel zu seiner Zukunft ist. Dafür nimmt er auch lange Fußmärsche zur Schule in Kauf, im Winter durch Schnee und in Angst, von Wölfen überrascht zu werden. 1964 geht er nach Deutschland. Er hat ein klares Ziel: Politik zu studieren. Doch erst muss er die Hochschulreife nachholen, denn sein türkisches Abitur wird nicht anerkannt.
1967 beginnt er in Berlin zu studieren. Keskin besucht Vorlesungen zu politischer Ökonomie, diskutiert Theorien von Marx. Die Frage, die ihn und andere in der "Türkischen Studentenföderation in Deutschland" umtreibt: Wie kann ihr Heimatland demokratisiert und zu einem modernen Industriestaat entwickelt werden? Solche Überlegungen aber versteht die Regierung in Ankara als Kritik: Keskin ist ihr ein Dorn im Auge. Sie statuiert ein Exempel und entzieht ihm die Staatsbürgerschaft.
Der Fall wird 1972 zum Politikum. Während Keskin eine Klage einreicht, appellieren Intellektuelle wie Günter Grass und Simone de Beauvoir an die Bundesregierung, ihn nicht auszuweisen. Noch heute ist Keskin dankbar, wenn er an diese Unterstützung denkt.
Keskin promoviert 1976 und kehrt in die Türkei zurück. Er wird Planungsbeauftragter im Stab des Ministerpräsidenten Bülent Ecevit, dem Hoffnungsträger vieler Linken. "Ich war für die Vergabe von staatlichen Investitionen zuständig", erzählt Keskin. Doch die Lage ist instabil. 1979 kommt es zum Militärputsch, viele linke Oppositionelle verlassen aus Furcht vor Repressionen das Land. Auch Keskin reist 1980 zurück nach Deutschland. Die Hoffnung, die Zukunft der Türkei politisch mitzugestalten, scheint geplatzt.
Zunächst arbeitet er danach nur wissenschaftlich: Er wird Mitarbeiter an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege Berlin, wechselt 1982 an die Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg. Doch die Ermordung des Türken Ramazan Avci durch Neonazis lässt ihn 1985 wieder politisch aktiv werden: "Wir wollten den Türken in Deutschland eine Stimme geben."
Als Keskin 1993 die deutsche Staatsbürgerschaft erhält, kandidiert er als SPD-Mitglied für die Hamburger Bürgerschaft. Er wird der erste Türkischstämmige in einem Länderparlament. 2005 folgt der Einzug in den Bundestag für Die Linke. Insbesondere mit seinem Einsatz für den EU-Beitritt der Türkei scheint sich nun der Kreis für ihn zu schließen: So kann er doch noch die Zukunft seiner alten Heimat mitgestalten.