EU-REFORMVERTRAG
Erst wenn alle 27 Mitgliedstaaten ratifiziert haben, kann der Lissaboner Vertrag Ende 2009 in Kraft treten. Aber was steht eigentlich drin?
Der Vertrag von Lissabon soll die Entscheidungsprozesse in der Europäischen Union straffen und für mehr Demokratie und Transparenz sorgen. Gleichzeitig verschafft er "Brüssel" noch mehr Macht als bisher. In vielen Bereichen hat die EU künftig mehr zu sagen oder kann schneller handeln: Das sind zum Beispiel der Kampf gegen Terror und Verbrechen, die Energie- und Klimapolitik, Handelsfragen, Dienstleistungen von öffentlichem Interesse, die Forschung und die humanitäre Hilfe. "Das Parlament" gibt einen Überblick über die wichtigsten Bestandteile des am 13. Dezember 2007 in Lissabon unterzeichneten Vertrags.
Das Europaparlament gehört zu den Gewinnern der geplanten Lissabon-Reformen. Bisher durfte die Volksvertretung bei etwa drei von vier EU-Gesetzen mitentscheiden. Am anderen Ende des Taus zerren die 27 Regierungen im Ministerrat.
Jetzt werden die Kompetenzen des Parlaments ausgeweitet: Künftig hat es auch in sensiblen Bereichen wie der legalen Einwanderung und der inneren Sicherheit ein umfassendes Mitspracherecht. "Endlich wird das Europaparlament ein echter Ko-Gesetzgeber", unterstreicht Parlamentspräsident Jerzy Buzek aus Polen.
Einigen Kritikern geht die Aufwertung allerdings nicht weit genug. Im Gegensatz zu nationalen Parlamenten wie etwa dem Bundestag hat das EU-Parlament auch künftig kein Initiativrecht. Allein die EU-Kommission - deren Mitglieder nicht demokratisch gewählt sind - kann Gesetzentwürfe erarbeiten.
Der Lissabon-Vertrag enthält jedoch noch einige weitere Elemente, die das Demokratiedefizit in der Europäischen Union mindern sollen. So haben auch die Parlamente der einzelnen EU-Länder künftig mehr zu sagen und müssen über anstehende Gesetzesvorhaben frühzeitig informiert werden. Wenn eine Mehrheit der nationalen Parlamente gegen ein bestimmtes Vorhaben ist, muss die EU-Kommission es zurückziehen.
Auch die Bürger selbst sollen eine Chance auf mehr Mitsprache bekommen: Erstmals ist mit dem Reformvertrag ein Europäisches Bürgerbegehren geplant. Wenn eine Million Unterschriften für ein bestimmtes Anliegen zusammenkommen, muss sich die EU-Kommission in verbindlicher Weise damit befassen. Entscheidet sich die Behörde gegen einen Gesetzentwurf, muss sie das glaubwürdig begründen.
Künftig soll es seltener vorkommen, dass Regierungen praktisch im Alleingang wichtige Entscheidungen blockieren. In etlichen Politikfeldern weicht das Einstimmigkeits- dem Mehrheitsprinzip.
"Auch Deutschland hat sich in der Vergangenheit gerne quergestellt", betont eine Beamtin der EU-Kommission. Ein prominentes Beispiel ist die "Blue Card", eine EU-weite Arbeitserlaubnis, die hochqualifizierte Kräfte aus Drittstaaten anlocken sollte. Die Reform wurde verwässert: Die Spitzenkräfte müssen nach wie vor mit zahlreichen Einschränkungen kämpfen, die Arbeitsmärkte bleiben fest in der Hand der Nationalstaaten. Auch in der Sozial- und der Asylpolitik sowie der Zusammenarbeit in Strafsachen finden sich Beispiele für Blockaden. Damit wird nun aufgeräumt.
Während Deutschland durch den Wegfall der Vetos an Macht verliert, gewinnt es in anderer Hinsicht Macht dazu. Bisher haben die Bundesrepublik und andere große Staaten im EU-Ministerrat weniger Stimmgewicht, als ihrer Einwohnerzahl angemessen wäre. Ein neues Stimmsystem soll diese Verzerrung beenden. Mittlere Länder wie Polen und Spanien müssen zurückstecken. Entschieden wird ab 2014 nach dem "Prinzip der doppelten Mehrheit". Sie setzt sich aus einem Länder- und einem Bevölkerungsfaktor zusammen. Eine Entscheidung ist gefällt, wenn 55 Prozent der Mitgliedstaaten zustimmen, die gemeinsam mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung umfassen.
Zwei neue Spitzenämter sollen Europa mehr Profil verschaffen und für mehr Kontinuität sorgen. Einen EU-Ratspräsidenten gibt es zwar heute auch schon - allerdings muss dieser regelmäßig nach sechs Monaten seinen Sessel räumen. Künftig bleibt der Präsident zweieinhalb Jahre im Amt. Auch einen Außenbeauftragten hat die EU schon, derzeit den Spanier Javier Solana. Der neue Spitzendiplomat verfügt jedoch über einen eigenen diplomatischen Dienst und damit über mehr Einfluss. Er erhält einen Sitz in der EU-Kommission und steht dem Kommissionspräsidenten als Vizepräsident zur Seite.
Obwohl der Lissabon-Vertrag keine Verfassung ist, sieht er als erster EU-Grundlagenvertrag einen verbindlichen Katalog von Grundrechten vor. Die Bürger können diese vor dem Europäischen Gerichtshof einklagen. Die Charta, die unter Federführung des früheren Bundespräsidenten Roman Herzog entstand, gründet auf den Verfassungstraditionen der EU-Länder und internationalen Standards. Der moderne Rechtskatalog enthält zum Beispiel ein Verbot des reproduktiven Klonens und ein Recht auf Datenschutz.
Für Wirbel sorgten Großbritannien und Polen, die nach heftigem Streit durchsetzten, dass die Grundrechtecharta für sie nicht gilt. Die Briten wollen Europa nicht in ihr sehr liberales Arbeits- und Sozialrecht hineinreden lassen. Die konservativen Polen befürchten, sie müssten künftig die Heirat Homosexueller erlauben.
Hat ein Land dagegen fundamentale Probleme mit der gesamten EU-Mitgliedschaft, hält der Vertrag ein Novum bereit: Er sieht erstmals die Möglichkeit vor, aus der EU wieder auszutreten.