60 JAHRE BUNDESTAG
Mit einem Festakt im früheren Bonner Plenarsaal feierten ehemalige und aktive Abgeordnete den Geburtstag des Parlaments: Am 7. September 1949 hatte sich der erste Deutsche Bundestag konstituiert
Rita Süssmuth auf dem Stuhl mit der erhöhten Lehne in der Regierungsbank zu sehen, war der Betrachter nicht gewohnt. Einige Meter daneben, direkt unter dem großen Adler, war ihr Platz gewesen, von dem aus die langjährige Bundestagspräsidentin in den 1990er Jahren im lichten Rund des damals neuen Bonner Plenarsaals die Parlamentssitzungen geleitet hatte. Jetzt aber, am 60. Jahrestag der konstituierenden Sitzung des ersten Deutschen Bundestages vom 7. September 1949, lauschte sie vom Kanzlerstuhl aus der Festrede ihres Parteifreundes und Nachnachfolgers im zweithöchsten Staatsamt, Norbert Lammert (CDU).
Zu der Feierstunde in Anwesenheit von Bundespräsident Horst Köhler und den Spitzen der anderen Verfassungsorgane waren neben den derzeitigen Bundestagsabgeordneten auch alle noch lebende ehemalige Volksvertreter nach Bonn eingeladen worden, wo sich schließlich 50 der nunmehr 60 Bundestagsjahre abgespielt hatten. Mehr als 390 frühere Parlamentarier und rund 250 aktive Abgeordnete waren dem Ruf gefolgt.
Nicht gesichtet wurden drei ehemalige Bundestagsmitglieder, die es per Wahl auf den Platz des Regierungschefs geschafft hatten: die Altkanzler Helmut Schmidt (SPD), Helmut Kohl (CDU) und Gerhard Schröder (SPD). Dafür war Amtsinhaberin Angela Merkel (CDU) ebenso da wie ihr Vize und SPD-Herausforderer Frank-Walter Steinmeier und viele einstige Politgrößen, die einst die Nachrichten bevölkerten: die Ex-Minister Hans-Dietrich Genscher und Otto Graf Lambsdorff (beide FDP) etwa, und aus der Riege der früheren Grünen-Bundesminister fehlte nur Joschka Fischer.
Ein wenig bot sich in dem erst 1992 fertig gestellten Plenarsaal ein Bild wie bei einer Zeitreise, bei der manches durcheinander gekommen scheint. Eine Frau auf dem Platz des Regierungschefs? Heute Wirklichkeit, aber zu Süssmuths Präsidentenzeiten noch Zukunftsmusik. Neben der Christdemokratin auf dem Kanzlerstuhl wiederum saß nun - passend zur derzeitigen Koalition - zwei Plätze weiter ein Sozialdemokrat in der ersten Reihe der einstigen Regierungsbank, Horst Ehmke. So ganz stimmig wirkte aber auch das nicht, selbst wenn Ehmke 1969 schon in der Endphase der ersten Großen Koalition der damaligen Bundesregierung als Justizminister angehörte. Viele dürften jedoch mehr seine darauf folgenden Jahre als Kanzleramtschef unter Willy Brandt zu sozialliberalen Zeiten in Erinnerung haben. Sein damaliger Koalitionspartner Genscher indes, der als Innen- und dann als Langzeit-Außenminister über fast 23 Jahre und einen Koalitionswechsel hinweg eine feste Größe auf der Regierungsbank war, war jetzt in der ersten Abgeordnetenreihe zu finden.
Bekannte und auch weniger bekannte Gesichter also, die die jüngere Geschichte des Landes mit- und gegeneinander mitgestaltet haben, mal in dieser Koalition, mal in jener Konstellation: Wer, wenn nicht diese Volksvertreter, verkörpert besser die 60 Jahre gelungener Demokratie, die Lammert in seiner Rede Revue passieren ließ. Zuvor vermittelte eine Lesung aus Wolfgang Koeppens 1953 erschienenem Bonn-Roman "Das Treibhaus" die Atmosphäre der frühen Republik aus Sicht eines fiktiven Abgeordneten. "Wenn es einen Roman zur Bonner Republik gibt, dann ist es dieser", stimmte der Parlamentspräsident auf die vom Schauspieler Wolfram Koch gelesenen Passagen des Werks ein. In seiner Rede erinnerte Lammert dann an die beschwerlichen, kargen Anfangsjahre (siehe unten) sowie an die großen Debatten und Abstimmungen im Bundestag als dem "zentralen Ort der politischen Entscheidungsfindung". Und Bonn selbst bescheinigte er, dem Bundestag "50 Jahre einen wenig spektakulären, aber würdigen Sitz" geboten zu haben.
"Vielleicht", hatte Bonns Oberbürgermeisterin Bärbel Dieckmann am Vorabend auf einem Empfang für die Abgeordneten sinniert, "war das die richtige Stadt, um gerade nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihrer Bescheidenheit (...) beizutragen zum friedlichen Wiedereintritt Deutschlands in die Weltgemeinschaft". Dieckmann, die mit der Republik das Geburtsjahr 1949 teilt, verwies auf das Glück, "einer der ersten Generationen in Jahrhunderten" in Deutschland anzugehören, die ohne Krieg aufgewachsen sei und dies auch an ihre Kinder und Enkel habe weitergeben können. Dies sei auch den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates und des ersten Bundestages zu verdanken, die zu einer stabilen Demokratie beigetragen hätten.
Damals, so formulierte es Lammert in seiner Festrede, habe eine "beispiellose Zeit des Friedens, der Freiheit, des wirtschaftlichen Aufschwungs und Wohlstands" begonnen, wenn auch zunächst nur im Westen des Landes. Wie Dieckmann sprach der Bundestagspräsident von einer "Erfolgsgeschichte", die freilich zu ihrer Anfangszeit kaum jemand für möglich gehalten hätte. 60 Jahre später indes sei dankbar festzustellen, dass sich die vom damaligen Alterspräsidenten Paul Löbe (SPD) bei der Konstituierung des ersten Bundestages beschriebenen Hoffnungen auf eine "stabile Regierung, eine gesunde Wirtschaft, eine neue soziale Ordnung in einem gesicherten Privatleben" erfüllt haben. Das gilt auch für die von Löbe 1949 als "erste Aufgabe" der Abgeordneten genannte Wiedergewinnung der deutschen Einheit, fügte Lammert hinzu und würdigte 20 Jahre nach dem Mauerfall die friedliche Revolution in der DDR von 1989 sowie die "souveräne Entscheidung der ersten frei gewählten Volkskammer, dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beizutreten".
Zehn Jahre nach dem Umzug des Bundestages an die Spree betonte der Bundestagspräsident zugleich die Kontinuität zwischen Bonn und Berlin. Die Bonner Jahre "haben diese Republik geprägt, und sie prägen sie noch heute", bilanzierte er. Ein Qualitätsmerkmal sei der Begriff der "Bonner Republik" geworden, deren Stil und Verfahren "ohne jede substanzielle Änderung auch nach Berlin übertragen" worden sei: "Bonn ist nicht Weimar, und Berlin ist in mancherlei Hinsicht Bonn geblieben", lautete Lammerts Fazit. Im Unterschied zur Weimarer Republik werde im Bundestag trotz durchaus heftiger Auseinandersetzungen "die Bereitschaft zum Kompromiss als demokratische Tugend begriffen und praktiziert", und die Fundamente dieser politischen Kultur seien in der Bonner Republik gelegt worden.
Auch habe sich Deutschland zu einer "Demokratie mit überzeugten Demokraten entwickelt", benannte Lammert einen weiteren Gegensatz zum oft als "Republik ohne Republikaner" charakterisierten Weimarer Staat: Bei einer im vergangenen Jahr veröffentlichten Umfrage hätten 95 Prozent der Befragten die demokratische Idee befürwortet, wenngleich sich nur 45 Prozent auch mit der Praxis der Demokratie zufrieden zeigten. Offenkundig störten politischer Streit und zähe Entscheidungsprozesse viele Bürger an der Politik, doch müssten Wähler wie Gewählte beides aushalten. "Streit muss sein", sagte der Bundestagspräsident: "Demokratie ist kein Verfahren zur Vermeidung von Streit, sondern zur Herbeiführung mehrheitlich getragener Lösungen - und demokratische Lösungen sind weder durch autoritäre Kommandos noch im Hauruck-Verfahren zu haben."