Kürzlich stand Ernst Burgbacher an einem FDP-Stand auf dem Marktplatz von Trossingen in Südbaden, seinem Wahlkreis. Ein Mann kam auf ihn zu und sagte: "Alle Politiker sind zwar Lügner. Aber ich will Sie mal etwas fragen." Burgbacher war verdutzt, erschrak für einen kurzen Moment, fing sich und sagte: "Ich rede nicht mit Leuten, die mich erstmal grundlos beschimpfen." Punkt.
Burgbacher, der seit drei Legislaturperioden im Deutschen Bundestag sitzt, erzählt diese Geschichte ein paar Tage später in seinem Berliner Abgeordnetenbüro - zwischen Telefonaten, mitten in der letzten hektischen Sitzungswoche des Bundestages. Doch Burgbacher hat die Begegnung auf dem Marktplatz nicht so schnell vergessen. Der Politiker ist nicht der Technokrat im fernen Berlin, der sich nicht von den Menschen berühren lässt, der nur die Gesetze auf Bundesebene im Kopf und die Probleme im Land längst hinter sich gelassen hat. Als Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Fraktion bestimmt er zwar in vorderster Verantwortung die FDP-Bundespolitik, seine Leidenschaft aber gilt mindestens genauso der Region Südbaden. Dort ist er aufgewachsen.
Der 60-Jährige stammt aus einer typischen mittelständischen Familie. Sein Großvater hat in Trossingen ein Sägewerk gegründet, sein Vater machte daraus einen Holzbaubetrieb. "Schon als Kind war der Betrieb Familienmittelpunkt. Auch sonntags. Kam überraschend ein Kunde, obwohl wir gerade an den Bodensee fahren wollten, sind wir eben später gefahren", erzählt er. Für ihn ist das eine Frage der Haltung. "Wir brauchen Menschen, die ihr Leben jeden Tag von neuem anpacken und nicht immer gleich nach dem Staat rufen. Dass sind die wahren Träger der Gesellschaft." So definiert der ehemalige Gymnasiallehrer den deutschen Mittelstand. So versteht er die Mittelschicht. "Freiheit und Verantwortung. Beides bedingt sich gegenseitig", sagt er, während er die Finger beider Hände kräftig ineinander schiebt.
Burgbacher versucht, nicht zu trennen. Er will zusammenführen und hat dafür gleich noch ein zweites Bild parat: "Wenn früher jemand ein Haus gebaut hat, kam der Nachbar und hat gefragt, ob er helfen kann. Heute kommt der Nachbar mit dem Rechtsanwalt wegen Verletzung der Grundstücksgrenze." Dahin, sich zu helfen, im Alltag, im Ehrenamt, dahin müsste die Gesellschaft insgesamt wieder stärker zurückkommen. Burgbacher spielt Mundharmonika und ist ehrenamtlicher Präsident des Bundesverbands Deutscher Orchesterverbände, des Dachverbands der instrumentalen Laienmusik in Deutschland. Da passt es, dass er kürzlich zu seinem 60. Geburtstag einen Fonds gegründet hat. "Es kam so viel Geld zusammen, dass wir zum Beispiel einer armen Familie mit super Klavierspielern ein gebrauchtes Klavier organisieren konnten."
In Burgbachers Wahlkreis Tuttlingen sind vor allem zwei Wirtschaftsbranchen verankert. Die Medizintechnik, der es trotz Krise noch ganz gut geht. Und die Automobilzulieferer, die hart von der Finanzkrise getroffen sind. "Die müssen kämpfen", sagt er und erzählt, dass ein Unternehmer ihn kürzlich für einen Betriebsbesuch im Spätherbst einlud. "Er sagte: 'Ich freue mich, wenn Sie kommen. Aber ich bin nicht sicher, ob es mich dann noch gibt." Das sei ihm sehr nahe gegangen, erinnert er sich.
Jetzt in der Krise zahle es sich aus, dass die Firmeninhaber ihre Mitarbeiter lange und gut kennten. Wüssten, dass der Sohn im Fußballverein ist und wo die Frau schafft. "Die Mitarbeiter ziehen voll mit. Alle versuchen zu retten, was zu retten ist", beschreibt er die schwierige Situation. Und da passt es ihm noch weniger, dass das heutige Steuerrecht genau diese Menschen, die morgens aufstehen, ihre Kinder versorgen, in den Kindergarten bringen und hart arbeiten, dass genau diese nach seiner Ansicht benachteiligt werden. 1958 musste man zwanzigmal so viel verdienen wie der Durchschnitt, um den Spitzensteuersatz zu zahlen. Heute muss man nur 1,8 mal so viel verdienen, um in die höchste Besteuerung zu gelangen, rechnet er vor. "Das kann nicht sein. Die Politik hat die Mitte aus den Augen verloren."