Clemens Wemhoff
Der Wirtschaftsexperte fordert ein Steuersystem, das die Mittelschicht nicht länger benachteiligt
Herr Wemhoff, alle reden vom Schrumpfen der Mittelschicht. Haben die Menschen tatsächlich weniger Geld zur Verfügung als vor 20 Jahren?
Eindeutig ja. Und damit nehmen wir in Europa eine traurige Sonderstellung ein. Denn überall sind die Gehälter inflationsbereinigt gestiegen. Nur in Deutschland sind die Bruttolöhne zwischen 2000 und 2007 gesunken. Im selben Zeitraum sind die Löhne beispielsweise dagegen in Frankreich um 10 Prozent gestiegen, in England sogar um über 25 Prozent. Hinzu kommt: Die Abgabenbelastung eines angestellten Durchschnittsverdieners liegt hierzulande rund 40 Prozent höher als im OECD-Durchschnitt.
Warum kann sich Frankreich diesen Lohnzuwachs leisten, während hierzulande der Gürtel enger geschnallt wurde?
In Deutschland waren wir in den vergangenen Jahren zu einseitig exportorientiert ausgerichtet. Durch Lohnzurückhaltung soll die Wettbewerbsfähigkeit gestärkt werden, heißt es ja immer. Aber so finanzieren wir letztlich einen Teil unserer Exporte durch Lohnverzicht selbst. Klug ist das nicht. Frankreich hingegen legt mehr Wert auf die Inlandsnachfrage und hat auch den EU-Haushalt geschickt auf die eigenen Interessen zugeschnitten.
Aber es ist nicht allein der Lohnverzicht, der die Mittelschicht verunsichert...
Für viele Menschen ist nicht mehr nachvollziehbar, nach welchen Regeln eigentlich gespielt wird. Früher war klar, wenn das Unternehmen gesund ist, wird niemand entlassen. In den vergangenen Jahren spielte das alles keine Rolle mehr, selbst hoher Einsatz bei hoher Qualifikation garantiert keine Karriere mehr und nicht einmal eine sichere Beschäftigung. Börsennotierte Unternehmen konnten allein mit der Ankündigung, Leute zu entlassen, ihren Kurs steigern. Es bleibt zu hoffen, dass Anleger und Manager aus den Fehlern dieser Exzesse gelernt haben.
Welche Folgen haben diese Entwicklungen für die Gesellschaft?
Große Teile der Mittelschicht werden nicht mehr den Wohlstand der Elterngeneration erreichen. Im Fall einer Arbeitslosigkeit ist der totale Absturz nur zwölf Monate entfernt. Daraus entsteht eine existenzielle Bedrohung der Gesellschaft. Denn die Mitte hält nicht nur die Wirtschaft in Schwung, sie gibt sich auch besondere Mühe, ihren Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Und sie engagieren sich ehrenamtlich, sei es in Sport- oder Kirchenvereinen.
Wo finden sich die größten Belastungen der Mittelschicht?
Die Mittelschicht wird von allen Seiten unter Feuer genommen. Zum einen führt der internationale Wettbewerb zu ständig wachsenden Anforderungen im Job. Zum anderen stagnieren aber die Löhne und Gehälter, gleichzeitig steigen auch die Abgaben. Ein Arbeitnehmer behält von jedem zusätzlich verdienten Euro nur ein Drittel. Auf das gesamte Gehalt bezogen arbeitet er fast sieben Monate im Jahr nur für Steuern und Sozialabgaben. Das führt seit Jahren zu sinkender Kaufkraft. Kurz gesagt: Im Job erleben die Arbeitnehmer den Kapitalismus und auf der Gehaltsabrechnung den Sozialismus.
Und wieder andere erleben noch nicht einmal das, sondern erhalten nach einem Jahr Arbeitslosigkeit Arbeitslosengeld II.
Das ist die nächste Ungerechtigkeit. Benötigt jemand, der sein ganzes Leben lang in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat, mal selbst Unterstützung, erhält er nach einer kurzen Schonzeit kaum mehr als jemand, der im Extremfall nie auch nur einen Cent eingezahlt hat. Denn beim Bezug von Arbeitslosengeld muss man nach zwölf oder 18 Monaten fast die gesamten Ersparnisse auflösen, anschließend wird man genauso behandelt wie derjenige, der nie gearbeitet und nie eingezahlt hat - eine enorme Gerechtigkeitslücke. Im Bedarfsfall lässt der Staat somit gerade diejenigen im Stich, die das ganze System finanzieren.
Das Problem mit den Ersparnissen betrifft ja nicht nur Arbeitslose. Viele Freiberufler zum Beispiel haben gar nicht die finanziellen Mittel, um für die Rente zu sparen.
In der Tat: Vielen Menschen, die seit den 60-er Jahren im relativen Wohlstand aufgewachsen sind, droht eine Altersarmut. Denn für private Vorsorge fehlt oftmals das Geld und die gesetzliche Rente wird nicht reichen. Wer nicht privat vorsorgen kann, bekommt ein Problem. Hinzu kommt: Die gesetzliche Rente ist auf einem Umlageverfahren aufgebaut und damit hochspekulativ. Schließlich wird nicht gespart, sondern darauf spekuliert, dass diejenigen, die noch nicht einmal geboren sind, einen Vertrag erfüllen, den sie nie unterschrieben haben. Außerdem droht eine Abschaffung des Prinzips der Beitragsäquivalenz, also des Grundsatzes, dass die Höhe der Rente von der Höhe der gezahlten Beiträge abhängt.
Was bedeutet das?
In der Politik wird schon heute über eine Grundrente debattiert. Alle bekommen dann zum Beispiel 1.000 Euro monatlich. Das ist für den Staat nun mal die günstigste Lösung, da dann die Menschen mit zu niedriger Rente ihm nicht auf der Tasche liegen, sondern von den übrigen Beitragzahlern subventioniert werden. Die, die viele Beiträge eingezahlt haben, werden dann teilweise enteignet. Die Rentenformel ist aber so manipulierbar, dass dies jederzeit möglich ist. Entgegen allen Versprechungen: Garantiert ist in der gesetzlichen Rente gar nichts.
Nicht einmal bei den Pensionären?
Die haben eine starke Lobby. Das Pensionssystem ist aber nicht nur ungerecht, sondern vor allem nicht mehr finanzierbar. Die durchschnittliche Rente eines Beamten beträgt jetzt schon das 2,5-Fache eines Rentners der gesetzlichen Rentenkasse. Jeder vierte Beamte bekommt schon mehr als 3.000 Euro. Das System ist völlig aus dem Ruder gelaufen. Und: Die Pensionslawine ist ja gerade erst im Anrollen. Die, die in den 80-er Jahren eingestellt wurden, als sich die Behörden aufblähten, gehen erst demnächst in Rente. Die Ausgaben werden jährlich von derzeit circa 35 Milliarden auf über 100 Milliarden Euro steigen. Das kann der Staat nicht zahlen.
Vom Renten- zum Steuersystem: Wie zukunftstauglich ist es?
Niemand, der es mit der Mittelschicht auch nur halbwegs ehrlich meint, kann das jetzige Steuersystem noch beibehalten wollen. Es benachteiligt die Normalverdiener, indem es fast jeden Facharbeiter zum Spitzenverdiener erklärt. Gleichzeitig ermöglicht es den tatsächlichen Spitzenverdienern, den Millionären, sich mit Hilfe des weltweit kompliziertesten Steuersystems arm zu rechnen. Die Normalverdiener, die kaum etwas absetzen können, sind die Dummen.
Und was wäre der Ausweg?
Von einem einfachen Steuersystem mit niedrigen Steuersätzen würde keine Gruppe stärker profitieren als die Mittelschicht. Und trotz eines niedrigen Spitzensteuersatzes als bislang müssten die tatsächlichen Spitzenverdiener mehr zahlen, weil sie sich nicht mehr arm rechnen könnten. Laut einer Untersuchung des DIW haben im Jahr 2002 die 450 reichsten Deutschen im Durchschnitt nur 34 Prozent Steuern gezahlt. Für die wäre eine Reduzierung des Spitzensteuersatzes mit einfachen Tarifen auf 40 Prozent faktisch eine Erhöhung. Das wird in der öffentlichen Diskussion immer anders und bewusst falsch dargestellt.
Hat die Politik die Mitte so kurz vor der Bundestagswahl neu im Blick?
Sie tut zumindest alles, um den Eindruck zu vermeiden. In Sonntagsreden wird die Mittelschicht gerne als die Stütze der Gesellschaft gelobt und ihre zentrale Bedeutung als Träger des Landes hervorgehoben. In Wahrheit ist die Mittelschicht der ewige Geldautomat der Republik.
Das Interview führte Annette Rollmann.
Clemens Wemhoff ist promovierter Wirtschaftswissenschaftler und Experte für betriebliche Altersvorsorge. Kürzlich erschien sein Buch "Melkvieh Mittelschicht, wie die Politik die Bürger plündert".