Milieustudie
Anna Katharina Hahn über die Schatten des schönen Scheins
Die Oberfläche glänzt: In der Küche stehen Gläser mit Dinkelflocken und Haferschrot schön arrangiert neben den Kräutertees im Regal; Plastikspielzeug sucht man im Kinderzimmer vergebens, Industriezucker in der Küche ebenso; im Wohnzimmer deutet ein Jahreszeiten-Tisch darauf hin, dass die junge Familie mit ihren zwei kleinen Söhnen ganz im Rhythmus der Natur schwingt, den auch kein Fernsehgerät durcheinanderbringt.
Ein paar Häuser weiter in Stuttgarts bürgerlichem Lehenviertel spiegelt sich die Designerküche mit ihren edlen Töpfen im schwarz-weiß gefliesten Fußboden. Flügeltüren verbinden überdimensionierte Zimmerfluchten mit Fischgrätparkett am Boden und üppigem Stuck an den Decken. Statt selbstgebackener Rüplitorte vernaschen die rosa-glitzrig gekleideten Töchter Muffins mit Smarties aus der Fertigmischung. Auch das ist Heimat einer Bilderbuchfamilie.
Doch was bleibt, wenn man diese Bilderbücher zuklappt? Jenes von Judith, der "Waldorf-Vollzeitmutter", die ihr Familienleben streng nach Lehrbüchern der Rudolf-Steiner-Schule gestaltet. Und jenes von Leonie, der "Nadelstreifen-Teilzeitmutter", die jeden Morerleichtert die Bürotür hinter sich schließt und sich auf ihre Akten stürzt, die aber gleichzeitig ständig von einem schlechten Gewissen gegenüber ihren Töchtern geplagt wird. Erschreckend wenig - dass ahnt man schon nach den ersten paar Seiten des Debütromans "Kürzere Tage" von Anna Katharina Hahn. Ihre zwei Heldinnen sind nämlich alles andere als heldenhaft: Judith ist nicht aus Überzeugung Vorzeige-Mutti geworden, sondern sieht darin einen Ausweg, ihrer Vergangenheit endgültig zu entkommen. Wenn sie dahin zurückblickt, sieht sie ein gescheitertes Studium, gescheiterte Beziehungen und eine heruntergekommene Einzimmer-Bude, in der sich leere Bierbüchsen stapeln. Mit Tabletten betäubt sie ihre Verzweiflung, diesem Leben nur mit einer Vernunft-Ehe und dem streng ritualisierten Familienalltag zu entkommen.
Leonie hat zwar keine dunkle Vergangenheit, dafür aber ein Problem mit der proletarischen ihres erfolgsorientierten Ehemannes. Die Zeiten, in denen sie sich um seinen Kleidungsstil sorgte, sind lange vorbei. Mittlerweile beherrscht er nicht nur den Kleidungsstil eines Businessman perfekt. Auch die Zeit, die er mit der Familie verbringt, hat sich diesem Rollenmodell angepasst - äußerlich, wie Leonie findet: Als es am Ende knallt, schreit sie ihn an: "Du wirst immer der kleine Prolet aus Heslach bleiben!"
Hahns Roman führt Judith und Leonie nicht vor - nicht in ihrem perfektionistischen Wahn, die Fassade der Bürgerlichkeit zu wahren, und nicht in dem Scheitern daran. Und dennoch entlarvt er die Widersprüche, in denen die beiden 30-jährigen Frauen stecken, mit schonungsloser Ironie. Heraus kommt eine Milieustudie der Mittelschicht, die sich nicht mit Befindlichkeiten abgibt. Hier plätschern die Beschreibungen nicht mit einem melancholischen Grundton dahin. Beiden Frauen ist der Sinn ihres hektischen, durchorganisierten Lebens schlicht abhanden gekommen. Da gibt es nichts schönzureden. Doch auch eine noch so präzise Milieustudie braucht, wenn sie als Roman daherkommt, eine unverhoffte Wendung, ein Zusteuern auf etwas. Gerade noch rechtzeitig, bevor man sich ungeduldig fragen kann, wann dies eintritt, schleicht sie sich langsam und bedrohlich in das Leben von Judith und Leonie ein.
Am Ende brennt der türkische Feinkostladen in der Straße und führt den Bewohnern vor Augen, wie zerbrechlich ihr geordnetes Mittelschichts-Dasein ist. Es gibt verletzte Eltern, vermisste und wiedergefundene Kinder und etliche erschütterte Gewissheiten. Am Ende fallen viele von Judith und Leonie mühsam angeordnete Bausteine in sich zusammen. Und die Frage nach dem stabilen Fundament stellt sich dann umso dringender.
Kürzere Tage. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2009; 223 S., 19,80 ¤